52
Fünfzig Meter vor der Cromwell Road fand Gaddis eine Telefonzelle; das Gebrüll einer vielbefahrenen sechsspurigen Schnellstraße toste durch die Zellentür, als er den Hörer aufnahm. Er durchwühlte die Hosentaschen nach Kleingeld, kippte sich den Inhalt in die offene Hand, um ein Zwanzig-Pence-Stück zu finden. Er hatte nur Pfundmünzen, stieß eine von ihnen in den Schlitz und ließ dabei drei andere auf den Boden fallen.
Die Münze rutschte durch, ohne auf dem Display registriert zu werden. Gaddis fluchte, machte einen zweiten Versuch und verlor auf diese Weise sein zweites Pfundstück. Er wählte 155 für die Auslandsvermittlung und geriet an eine Frau mit ausgeprägtem Liverpooler Akzent.
»Ich muss ein R-Gespräch mit Spanien führen.«
»Gerne, Sir. Wie lautet die Nummer?«
Natashas Festnetznummer kannte er auswendig, und nach ein paar Sekunden klingelte in Barcelona das Telefon. Sei zu Hause, flüsterte er. Sei bitte zu Hause.
»Hola?«
Es war Nick, der Freund. Die Vermittlerin teilte ihm mit, dass jemand aus London ihn »per R-Gespräch« anzurufen wünsche, und fragte, ob er bereit sei, die Gebühren zu übernehmen.
»Na klar.« Sie wurden verbunden. »Sam?«
»Ja. Ist Min zu Hause?«
»Was?«
»Ob Min zu Hause ist!«
Nick war nicht erfreut über Gaddis’ Ton. Immerhin hatte er die Gebühren übernommen. Für seine Freundlichkeit sollte er eigentlich ein bisschen Respekt verdient haben, ein kleines bisschen Dankbarkeit, vielleicht ein nettes Wort. »Du willst Min sprechen?«
»Ja, Min, meine Tochter. Ist sie da?«
»Sie ist in der Schule, Sam. Du klingst nervös. Alles in Ordnung, Chef?«
Das war ein Augenblick, in dem Gaddis nicht gerne »Chef« genannt wurde, und schon gar nicht von Natashas unfähigem, chronisch mittellosem Geliebten.
»Nein, nichts ist in Ordnung. Wo ist Natasha?«
»Bei der Arbeit, vermute ich mal.«
»Vermutest du.«
»Weißt du was, Chef, warum rufst du sie nicht einfach dort an? Scheint mir um ein Thema zu gehen, das man besser persönlich bespricht.«
»Ich habe die Num–«
Nick hatte aufgelegt. Gaddis stieß einen so lauten Kraftausdruck aus, dass zwei Passanten sich auf dem Gehsteig umdrehten und beklommen zu ihm hereinschauten. Er knallte den Hörer auf die Gabel, und während er das Hartgeld vom Boden aufsammelte, machte er sich klar, dass er den Namen der Firma vergessen hatte, für die Natasha in Barcelona arbeitete. Die Nummer hatte er in seinem Mobiltelefon gespeichert, das mit leerem Akku unter einer Anrichte in Nataschas Wohnzimmer lag. An den Namen von Mins Schule erinnerte er sich auch nicht. Es war ein katalanisches Wort, irgendeine regionale Sonderbarkeit, die er sich nie hatte merken können. Wie sollte er herausfinden, ob mit ihr alles in Ordnung war?
Er hielt inne, rang um Fassung. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, sagte er sich. Wenn Min etwas zugestoßen wäre, hätte Nick längst davon gewusst. Außerdem handelte es sich bei der Nachricht lediglich um eine Warnung. Wenn er die Finger von der Crane-Geschichte ließ, Platow und Dresden vergaß, waren seine Probleme gelöst.
Er stieß die Tür der Telefonzelle auf. Auf der Cromwell Road warteten Autos vor Ampeln. Es war kalt, und Gaddis zog gegen den Wind den Reißverschluss seines Mantels hoch. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte, während er die Straße auf und ab ging wie ein Häftling im Gefängnishof. Er kam immer wieder zum selben Schluss: Der FSB würde ihn nie aus den Klauen lassen. Die Nachricht war bedeutungslos in diesem Zusammenhang, die hundert Riesen waren nur ein Lockmittel. Solange er lebte, stellte er eine Bedrohung für Sergej Platow dar. Wenn er sich auf die Erpressung einließ, würde das sein Ableben – bei einem Verkehrsunfall, durch eine undichte Gasleitung oder eine Polonium-210-Injektion im Sushi – bestenfalls hinauszögern. Er ging zurück zum Telefon. Es gab nur einen Weg, Mins Zukunft zu sichern – er musste diese Kassette in die Hände bekommen. Dann hätte er ein unbezahlbares Druckmittel, mit dem er ihre Sicherheit aushandeln konnte.
Diesmal akzeptierte der Automat seine Pfundmünze. Er wählte Hollys Nummer. Als sie sich meldete, kam ihre Stimme ihm wie seine letzte Rettung vor.
»Ich bin’s«, sagte er.
»Sam? Wo warst du?« Sie klang eher verblüfft als verärgert. »Ich versuche seit Tagen, dich auf dem Handy zu erreichen. Wo bist du?«
»Ich musste länger in Barcelona bleiben, als ich dachte. Das Handy ist mir geklaut worden.« Was blieb ihm anderes übrig, als sie anzulügen? »Ich bin gerade erst zurück in London. Ein neues hab ich mir noch nicht beschaffen können.«
»Wir waren zum Abendessen verabredet.«
Himmel! Quo Vadis, Samstagabend. Er hatte die Nebelkerzen, die er für Tanya und den GCHQ geworfen hatte, total vergessen. Er entschuldigte sich und wartete, dass Holly etwas sagte, aber sie schwieg. Durchschaute sie seine Lügen? Womöglich wusste sie längst, was mit Wilkinson passiert war.
»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte er.
Nicht gerade der ideale Einstieg. Er schuldete Holly eine Erklärung für sein Verhalten. Und jetzt, ohne eine Nachfrage nach ihrem Befinden, ohne ein Wort über Wilkinsons Schicksal, zählte er auf ihre Hilfe in einer Notlage, deren Einzelheiten er ihr noch nicht einmal erklären durfte. Er hatte nur Mins Sicherheit im Kopf. Was immer dafür notwendig war, er würde es tun, und wenn er Holly zu diesem Zweck ausnützen musste.
»Ich soll dir also einen Gefallen tun.«
»Ich weiß, es ist viel verlangt.«
»Noch hast du ja nichts verlangt.«
Er war froh, sie in relativ abgeklärter Stimmung angetroffen zu haben. »Es geht um das Material deiner Mutter. Bist du sicher, dass du mir alles gegeben hast? Neulich hast du gesagt, es könnten noch ein paar Kartons im Keller sein.«
»Da sind sie auch noch«, antwortete sie schlicht. Es klang, als wäre sie abgelenkt von etwas in dem Raum, aus dem sie telefonierte.
»Bist du zu Hause?«
»Nein, bei einem Vorsprechen.«
»Könntest du in den Keller runtergehen, sobald du wieder zu Hause bist? Ginge das?«
»Möglich.« Wieder klang Holly wie abgelenkt. Auf einmal spürte Gaddis den seltsamen Wunsch, dass ihr Vorsprechen erfolgreich verlief und sie eine Rolle bekam, in die sie sich so verbeißen konnte, dass es sie von ihm ablenkte. Sie verdiente es nicht, in diese Geschichte mit hineingezogen zu werden. Er wollte sie in Sicherheit wissen, doch zuerst einmal musste sie ihm helfen, Min zu retten. »Warum kommst du nicht vorbei, dann sehen wir gemeinsam nach«, sagte sie.
Als wollte sie ihn auf die Probe stellen. »Ich kann hier nicht weg.« Gaddis schaute hinüber zur Cromwell Street und wusste, dass er mit dem Taxi in zehn Minuten in der Tite Street sein könnte. Aber wenn er hinfuhr, lief er Gefahr, eventuelle Beschatter des FSB in die Nähe der Kassette zu locken. »Ich stecke mitten in dieser MI6-Geschichte. Das Buch.«
»Über Bob?«
»Über Bob, ja.« Eine mehr als durchsichtige Lüge. »Wenn du einfach mal runtergehst und nachsiehst, vor allem nach irgendwelchen Tonbändern oder Kassetten, die deine Mum vielleicht verlegt haben könnte.«
»Tonbändern oder Kassetten?«
Eine Frau in einem Regenmantel hatte vor der Zelle Aufstellung genommen, um zu telefonieren. Gaddis öffnete die Tür einen Spaltbreit und sagte mit leiser Stimme: »Wird länger dauern, tut mir leid.« Holly sagte: »Sam?«
»Ja?«
»Alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen um dich.«
Er war in Schweiß gebadet. Noch während er darüber redete, war ihm klar geworden, dass er die Crane-Biografie nie veröffentlichen würde, dass es nicht die geringste Chance gab, Platows Verrat jemals öffentlich bekannt zu machen. Der Präsident würde im Amt bleiben, und es würden noch Dutzende Charlotte Bergs und Katarina Tichonows ihr Leben verlieren, damit er es möglichst lange blieb. »Mir geht es gut«, sagte er. »Aber es gibt eine Frist für das Manuskript. Ich kann hier nicht weg. Ich kann jetzt nicht zu dir kommen.«
»Und wenn ich das Band finde?«
»Dann bringst du es mir.«
»Wohin? Nach Shepherd’s Bush?«
»Nein.« Das war nicht sicher. Womöglich observierten sie Holly und nahmen ihr die Kassette ab. Er musste sich einen anderen Ort überlegen. Auch das UCL stand zweifellos unter Beobachtung. »Wenn du es ins Donmar bringst und einfach bei Piers an der Bar abgibst.«
»Bei Piers? Im Theater? Warum denn das?«
Wie sollte er das erklären, so sinnlos, wie es sich anhörte? Gaddis bastelte die nächste schäbige Lüge zusammen.
»Ich arbeite um die Ecke in einem UCL-Gebäude.«
»Und warum bringe ich es dir nicht dorthin?«
»Unser Sicherheitsdienst ist eine Katastrophe. Entweder sie verschusseln es, oder sie erzählen einem, sie hätten nie von mir gehört.« Er wunderte sich selber über das rasante Tempo seiner Lügen. »Das Donmar ist keine fünfhundert Meter entfernt. Ich bin Stammgast im Café. Gib die Sachen einfach am Ticketschalter ab. Und wenn du glaubst, etwas gefunden zu haben, rufst du mich unter dieser Nummer an.«
Er gab ihr die Festnetznummer von Tanyas Haus, ohne zu wissen, ob die Art der Kommunikation wirklich sicher war.
»Was ist das für eine Nummer?«
»UCL.«
Gaddis war es leid, sie zu täuschen, sich ständig Ausreden ausdenken zu müssen. Er wechselte das Thema.
»Für was sprichst du vor?«
»Ein Theaterstück.«
Doch auf die Antwort hörte er schon nicht mehr. Er war mit den Gedanken nur bei der Kassette, und als er sie fragte: »Meinst du, du kommst heute noch dazu, im Keller nachzusehen?«, war ihre Geduld am Ende.
»Sam, ich habe dir gesagt, ich suche nach der Scheißkassette. Aber du kannst das Ganze beschleunigen, indem du dich nicht wie ein paranoider Schizo aufführst und mir erklärst, was zum Teufel eigentlich los ist. Lade deine Freundin doch einfach mal zum Essen ein und frage sie, wie’s ihr geht. Ist gar nicht so schwer. Beim letzten Versuch hatten wir ’ne Menge Spaß. Inzwischen komme ich mir bei jedem Gespräch mit dir wie deine Scheißsekretärin vor.«
»Es tut mir leid.« Er wollte nichts mehr, als mit ihr allein sein, zurück in seinem alten Leben, Min wohlbehütet in Spanien wissen, Studenten zur Sprechstunde in seinem Büro am UCL empfangen. Aber das alles war ihm aus den Händen gerissen worden.
»Ist schon okay. Ich hoffe nur, dass du ehrlich mit mir bist.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Falls es da jemand anderen gibt …«
Gaddis schaute hinaus auf den vorüberrauschenden Verkehr und schüttelte den Kopf. »Ich schwöre dir, dass es niemanden gibt. Es geht um meine Toch–« Beinahe wäre er an dem Wort erstickt, so elend fühlte er sich in seiner Lage.
»Sam?«
»Mach dir keine Gedanken. Versuch einfach, die Kassette zu finden, okay? Du glaubst gar nicht, wie wichtig das ist.«