16
Calvin Somers verließ das Michael-Sobel-Zentrum kurz nach sechs durch den Personaleingang und machte sich im bleichen Licht des frühen Abends zu Fuß auf den Weg zum Batchworth Heath. An Herbstabenden nahm er bevorzugt einen der schmalen, verwilderten Wege durch den Wald und ging dann quer über die Felder hinüber nach Harefield, wo er in der Ortsmitte ein Apartment bewohnte. Es war Mitte September; viele Gelegenheiten blieben nicht mehr für diesen Spaziergang, bis die Uhren zurückgestellt, die Tage wieder kürzer würden und er das Auto nehmen müsste. Unter einer dicken Lands’ End Fleecejacke trug er noch immer die grüne Pflegertracht, weil er lieber zu Hause statt in der unpersönlichen Umgebung des Mount Vernon Hospital unter die Dusche ging.
Ein dreiundvierzig Jahre alter Krebspatient war vor drei Stunden auf seiner Station gestorben, aber Somers dachte nicht an den Mann, auch nicht an die trauernden Angehörigen des Patienten oder die Medizinstudentin, die geweint hatte, als sie gleich nach dem Mittagessen Zeugin geworden war, wie die Mutter des Verstorbenen auf dem Parkplatz wie ein Häuflein Elend in Tränen ausgebrochen war. Er dachte an den Karton Wolf Blass Chardonnay, dem er heute Abend den Rest geben würde, und an das Sortiment mikrowellentauglicher Fertiggerichte, die sich in seinem Tiefkühlfach stapelten. Auf was hatte er heute Abend Lust? Ein Curry? Fischpastete? Wenn er ehrlich war – und das würde er jedem antworten, der ihn fragte, auch Kollegen, die ganz anders empfanden –, konnte er die Toten auf der Station längst nicht mehr auseinanderhalten. Man verlor den Einzelfall aus dem Blick, wer an was gelitten, welcher Angehörige zu welchem Patienten gehört hatte. Aber vielleicht hatte er auch nur die Schnauze voll von dem Job. Vielleicht hatte Calvin Somers genug von dem ganzen Siechtum.
Er wollte gerade die Hauptstraße zum Heath überqueren, als er hinter sich auf dem nordwestlichen Parkplatz ein Geräusch hörte, und als er sich umdrehte, sah er einen Mann aus einem dunkelblauen C-Klasse-Mercedes mit dunkel getönten Fenstern steigen. Einen Augenblick lang spielte Somers mit dem Gedanken, die Beine in die Hand zu nehmen. Wie ein Stromstoß war ihm die Angst in die Brust geschossen. Aber davonlaufen war keine gute Idee. Einem Mann wie Alexander Grek entkam man nicht. Grek würde einen finden. Grek wusste, wo man wohnte. Calvin Somers tat das, was er immer tat, wenn er sich unsicher fühlte. Somers fing Streit an.
»Folgen Sie mir etwa?«
»Mr. Somers?«
»Sie wissen doch, wer ich bin. Warum sind Sie hergekommen? Was wollen Sie? Ich dachte, unser Geschäft wäre abgeschlossen. Sie haben mir versichert, dass unser Geschäft abgeschloss–«
Grek fiel ihm ins Wort. »Bitte bleiben Sie stehen, Mr. Somers.« Er hatte eine tiefe Stimme, beinahe einen Bariton, mit einer besonderen Melodie, einem beängstigenden Charme. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein frisch gebügeltes weißes Hemd mit Button-Down-Kragen, dazu eine blaue Krawatte.
»Ich würde Sie gerne ein Stück begleiten«, sagte er. Grek sprach ein tadelloses, leicht gestelztes Englisch, aber es war nur Firnis über nackter Erbarmungslosigkeit. »Sie sind auf dem Heimweg, vermute ich. Nehmen Sie immer diesen Weg?«
Wieder spürte Somers die Angst, die elektrische Ladung in der Brust, und wusste, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. Warum hätte Grek sonst herkommen sollen? Sie waren hinter die Sache mit dem Professor und Charlotte Berg gekommen. Warum war er so gierig gewesen? Der FSB hatte ihm zwanzig Riesen für die Crane-Geschichte bezahlt, für Douglas Hendersons Märchenstunde im St. Mary’s Hospital. Eine Bedingung war an das Geschäft geknüpft gewesen: dass er niemals wieder und mit keiner Menschenseele über Edward Anthony Crane redete. Aber inzwischen hatte er sich schon zweimal für dieselbe Information bezahlen lassen; er hatte es einfach nicht lassen können. Und jetzt war Alexander Grek gekommen, um ihn nach dem Grund zu fragen.
»Sie verfolgen mich«, sagte er, aber ihm versagte die Stimme, dreimal stolperte er über das Wort ›verfolgen‹.
»Nein, nein«, erwiderte Grek und lächelte wie ein guter Freund. »Wir haben nur noch zwei Fragen, auf die wir gerne eine Antwort von Ihnen hätten.« Er hielt die Hand in die Höhe, zwei Finger gespreizt wie zum V für Victory. »Zwei.«
Somers öffnete den Reißverschluss der Fleecejacke. Ihm war warm geworden.
»Gehen wir doch ein paar Schritte beim Reden«, schlug der Russe vor, und Somers war einverstanden, nicht zuletzt, weil er nicht von seinen Kollegen zusammen mit Grek gesehen werden wollte. Sie überquerten die Straße und folgten einem schmalen überwachsenen Pfad in den Wald. Sie mussten hintereinander gehen, und Somers ging schnell, wollte möglichst rasch offenes Gelände erreichen. Grek blieb nie weiter als drei Meter zurück, allerdings weitgehend lautlos, so sanft streichelten seine Fünfhundert-Dollar-Slipper das feuchte Gras.
»Also, was wollten Sie wissen?«, fragte Somers, der die Fleecejacke jetzt in der Hand trug, weil das Unterhemd unter seiner Tracht schweißgetränkt war.
Grek blieb stehen. Sie waren noch auf dem Weg, auf allen Seiten waren sie von hängenden Zweigen und hohem Sommergras eingerahmt. Auch Somers musste stehen bleiben und sich umdrehen, bleiches Sonnenlicht schimmerte durch die Zweige.
»Ich habe eine Frage zu Waldemar.«
Somers verstand nicht gleich, worauf Grek hinauswollte, weil der Name des polnischen Hausmeisters im St. Mary’s durch die slawische Aussprache, die der Russe beherrschte, seiner wiedererkennbaren Konsonanten beraubt worden war. Dann zählte er eins und eins zusammen und versuchte, Zeit zu schinden.
»Waldemar? Das Faktotum? Was ist mit dem?«
»Wir wissen nicht, wo er ist.« Er sagte das mit einer Gelassenheit, als ginge es um eine verlegte Armbanduhr. »Wir haben Probleme, den Mann ausfindig zu machen.«
Somers lachte. »Ich dachte, ihr seid der russische Geheimdienst? Das spricht nicht gerade für eure Fähigkeiten, oder? Spricht nicht gerade für eure, ähm, Intelligenz.« Es war natürlich ein Fehler, einen Mann wie Grek mit solchen Sprüchen zu provozieren, aber Somers konnte nicht anders. So reagierte er nun mal, wenn er ein schlechtes Blatt in den Händen hielt: großspurig und sarkastisch, Öl ins Feuer gießend.
»Vielleicht«, antwortete Grek, und Somers verstand nicht gleich, was er damit sagen wollte. Vielleicht was? Er verspürte wieder den Drang, den schmalen Weg hinter sich zu lassen, weil er befürchtete, dass Grek ihm jeden Moment die Faust ins Gesicht schlagen konnte. Calvin Somers hatte eine tief sitzende Furcht vor körperlicher Gewalt und wusste, dass er nicht in der Lage wäre, sich zu verteidigen, sollte der Russe ihn angreifen. Er drehte sich um und sah den Rand des Feldes keine fünfzig Meter entfernt. Warum gingen sie nicht endlich weiter?
»Sie wissen also nicht, wo wir diesen Waldemar finden können?«, fuhr Grek fort. »Sie hatten in der Zwischenzeit keinen Kontakt zu ihm? Keinerlei gesellschaftlichen Umgang?«
»Keinerlei was?« Somers lachte wieder, machte sich wieder über Greks Ausdrucksweise lustig.
»Sie haben mich verstanden, Calvin.«
Greks ernster Ton schlug ihm auf den Magen. Um seiner Angst Herr zu werden, drehte Somers sich um und ging in der Hoffnung, dass der Russe ihm folgen würde, ein Stück weiter Richtung Feld. Grek dachte nicht daran.
»Was ist mit Benedict Meisner?«, rief er ihm nach, und Somers musste wieder stehen bleiben, sich umdrehen und ein paar Schritte zurückgehen. Ein Gefühl, als würde er sich einem Spinnennetz nähern.
»Was soll mit ihm sein?« Und mit hastiger Stimme fügte er hinzu: »Können wir nicht weitergehen beim Reden? Ich will nach Hause. Können wir nicht in Richtung meiner …«
»Bleiben Sie bitte hier, solange wir reden.« Grek deutete nach hinten zum Parkplatz. »Ich möchte mich nicht zu weit von meinem Fahrzeug entfernen. Also bitte, wo ist Meisner?«
Somers gluckste den nächsten Lacher heraus. Warum fragte der Russe ständig nach Kollegen, die er seit über zehn Jahren nicht gesehen hatte? Was sollte er antworten? Er war kein Freund von Meisner, auch nicht von Waldemar, nie gewesen. Außer dem Schwindel mit Crane verband sie nichts miteinander.
»Verfluchte Scheiße, ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er und bedauerte den Kraftausdruck, denn Greks Blick wurde schlagartig eisig.
»Verstehe.« Es waren blassbraune, inzwischen sehr schmale Augen, an denen Somers die Schwere seines Betrugs ablesen konnte. »Das ist interessant. Auch Mr. Crane selbst haben wir bis jetzt nicht ausfindig machen können.«
Somers fühlte sich wie von einem Punkt zum nächsten geschaukelt, als hätte der Russe gar kein Interesse an Antworten auf seine Fragen, als wollte er nur ein allgemeines Unbehagen hervorrufen. Gehörte das zum Handwerkszeug von Spionen? Wie kam Grek überhaupt auf die Idee, dass Crane noch am Leben sein könnte?
»Warum erzählen Sie mir die ganze Zeit, wie unzulänglich Sie Ihre Arbeit machen?«, sagte er. »Das verstehe, wer will. Ich würde nicht herumlaufen und jedem auf die Nase binden, dass ich auf der Station einen Fehler gemacht habe. Seit zehn Minuten tun Sie nicht anderes, als mir zu erzählen, wie viele Böcke Sie bei Ihren Ermittlungen geschossen haben.«
Jetzt tat der Russe etwas Unerwartetes und gerade deshalb ausgesprochen Beunruhigendes: Er spuckte auf den Boden. Dann langte er in die Innentasche seiner Anzugjacke und holte eine Zigarette hervor, nicht aus einem Päckchen, sondern aus einer polierten silbernen Zigarettendose. Er steckte die Zigarette in den Mund, schlug am Oberschenkel ein Zippo-Feuerzeug an und behielt Somers im Blick, während er sich die Flamme vor den Mund hielt. Er war nicht mehr der Anzug tragende russische FSB-Agent mit Mercedes samt Fahrer und Fünfhundert-Dollar-Slippern; in seinen Bewegungen, der Ruhe des Blicks, meinte man den Petersburger Gangster von einst zu erkennen.
»Hübsche Zigarettendose«, sagte Somers, die Kehle so eng und trocken, dass die Worte kaum zu hören waren. »Sieht man nicht alle Tage.«
Grek ließ das Zippo zuschnappen. Klick.
»Ja, das stimmt.« Und dann sagte er, leise wie eine zwischen die Rippen geschobene Messerklinge: »Haben Sie mit noch jemandem über Edward Crane gesprochen, Calvin? Mit noch jemandem außer Charlotte Berg?«
Somers stockte der Atem, als ihm klar wurde, was Grek gesagt hatte. Die Russen wussten über Charlotte Berg Bescheid. Und wenn es so war, Himmel, dann wussten sie wahrscheinlich auch von dem Professor. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten meinte er, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er verfluchte seine Gier und seine Feigheit.
»Wie bitte?«, sagte er in dem Versuch, Zeit zu gewinnen. »Wer ist Charlotte Berg?«
Grek atmete eine Lunge voll Rauch aus, der wie eine lotrechte Säule über dem Weg stehen blieb, bis ein Windstoß ihn verwehte. »Ich bitte Sie, Mr. Somers«, sagte er. »Wir sind doch Männer von Welt. Stehlen Sie mir nicht meine Zeit.«
»Haben Sie mein Telefon angezapft? Oder meinen Computer? Wie haben Sie von Charlotte Berg erfahren?«
Natürlich war das ein Geständnis, und sollte Grek noch irgendwelche Zweifel an der Natur von Somers’ Verrat gehegt haben, so waren sie jetzt beseitigt.
»Wir sind in England«, sagte er, schloss die Landschaft rundherum in eine ausladende Handbewegung ein und lächelte. »Wir haben hier gar nicht die Berechtigung, Telefone anzuzapfen.« Eine Fliege setzte sich auf Greks Arm, er kümmerte sich nicht darum. »Meine Kollegen haben Abschriften Ihrer E-Mail-Korrespondenz mit Miss Berg zu sehen bekommen. Darin zeigen sich offenkundige Verstöße gegen unsere Vereinbarung.«
»Und es ist ein offenkundiger Verstoß gegen meine Scheißmenschenrechte, wenn Sie Ihre sogenannten Kontaktleute anweisen, sich in meinen Computer zu hacken. Wie kommen Sie dazu?«
Somers war selbst erstaunt über seine heftige Reaktion, er trat sogar einen Schritt auf Grek zu, um Eindruck zu machen. Aber weder die Pose noch seine Worte zeitigten irgendeine Wirkung.
»Bitte beruhigen Sie sich«, sagte der Russe, bevor er den nächsten Zug aus der Zigarette nahm. »Erzählen Sie uns, mit wem Sie noch geredet haben.«
Uns? Wer war sonst noch hier? Somers hatte sich in seinem Leben noch nie so einsam gefühlt, aber Grek redete, als würde ihr Gespräch von einem Dutzend Mitarbeitern des FSB mitgehört. »Wie meinen Sie das – ›uns‹? Hören Sie, ich habe mit niemandem geredet, okay? Charlotte Berg ist ganz von allein auf die Geschichte gestoßen. Sie ist zu mir gekommen, weil ihr jemand erzählt hat, dass ich in der betreffenden Nacht im St. Mary’s Dienst hatte. Vielleicht waren Sie ja dieser Jemand.«
»Das ist unwahrscheinlich.« Grek betrachtete seine Zigarette, drehte sie zwischen den Fingern, sprach ruhig. Somers war klar, dass er eine windige Taktik gewählt hatte, und wünschte beinahe, der Russe würde die Zurückhaltung aufgeben und ihn offen heraus einen Lügner nennen. Die falsche Höflichkeit, dieser Anschein von Fair Play war nicht mehr zu ertragen. Irgendwo hörte er einen Hund bellen und hoffte, jemand – ein Spaziergänger, ein Jogger – möge des Weges kommen und dieses Gespräch unterbrechen.
»Was ist so unwahrscheinlich daran?«, fragte er, trat zurück von Grek und machte ein paar Schritte in Richtung des Feldes. Da der Russe ihm wieder nicht folgte, musste Somers sich umdrehen und wieder zurückgehen.
»Sie müssen mit dem Theater aufhören«, sagte Grek. »Sie machen sich lächerlich damit. Ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Sollten Sie mit irgendeinem Vertreter der Medien oder sonst jemandem in welcher Eigenschaft auch immer noch einmal über Edward Crane reden, haben Sie im Sinne unserer Vereinbarung mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen.« Grek sah, dass Somers antworten wollte, und hob die Hand, um ihn daran zu hindern. »Es reicht«, sagte er, während er mit der Schuhspitze die Zigarettenkippe in den Sand drehte. »Beim nächsten Mal wird ein entschieden weniger höflicher Mensch Sie besuchen kommen. Beim nächsten Mal wird man Sie vielleicht bitten, die zwanzigtausend Pfund zurückzuzahlen, die wir Ihnen für Ihr Schweigen gezahlt haben. Für Ihr Schweigen, Calvin. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Sicher«, sagte Somers. In der ungeheuer erleichternden Erkenntnis, dass man ihm noch einmal verziehen hatte und er gleich nach Hause gehen durfte, war alles Maulheldentum von ihm abgefallen. »Ja, sicher.«
»Gut.«
»Und ich darf sagen, dass ich nie die Absicht hatte, Ihnen Ärger …«
Aber Alexander Grek hatte sich bereits umgedreht und war auf dem Weg zu seinem Mercedes, ließ Calvin Somers einfach so ins Leere reden, denn dort, wo er gestanden hatte, schwirrten jetzt Insekten kreuz und quer durch den vom Gegenlicht beleuchteten Schleier aus Staub und Pollen. Die Erleichterung machte sich durch ein hörbares Gluckern im Bauch des Krankenpflegers bemerkbar, und er ging eiligen Schrittes weiter. Der Wind kühlte den Schweiß in seinem Unterhemd, und er zog die Fleecejacke wieder über, um nicht zu frieren.
Das Feld war eine weite Fläche mit erntereifem Mais, und als er sie erreichte, fühlte er sich schon sichtlich besser. Er war frei. Sie hatten ihn erwischt, aber der Russe hatte ihm eine zweite Chance gegeben. Er ging am Rand des Feldes entlang, ermutigt durch diesen Gedanken, und schon bald stellte er sich das Glas Wolf Blass Chardonnay vor, das er sich einschenken würde, vielleicht sogar das Päckchen Zigaretten – zehn, nicht zwanzig –, die er sich in der Tankstelle neben seiner Wohnung kaufen würde. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Auf etwas, das seine Nerven beruhigte.
Es war zehn Minuten her, dass die beiden FSB-Mitarbeiter, die zusammen mit Alexander Grek zum Mount Vernon Hospital gefahren waren, den Mercedes verriegelt und die Hauptstraße überquert hatten, nachdem ihr Vorgesetzter außer Sichtweite war. Der erste Mann, seine Name war Karl Stieleke, war ungefähr dreihundert Meter nach Westen gegangen und hatte sich in einem Bogen dem Pfad genähert, auf dem Grek und Somers ihr Gespräch führten. Der zweite Mann, er hieß Nicolai Doronin, war vom Parkplatz aus in östlicher Richtung losgegangen, bis er das Ende eines staubigen Feldwegs erreicht hatte, der um den Wald herumführte. Stieleke war unter einer Kastanie stehen geblieben, von der aus er Greks Verhör belauschen konnte. Jetzt folgte er Calvin Somers, der im sterbenden Tageslicht an einem Maisfeld entlangging, auf dem Weg zu seiner Wohnung in Harefield.
Somers war einen knappen Kilometer vom Krankenhaus entfernt und hatte mittlerweile den Rand eines großen Waldes erreicht, als er bemerkte, dass er verfolgt wurde. Um nach Hause zu kommen, musste er durch den Wald, es gab keine Abkürzung, keinen anderen Weg. Als er sich umdrehte, erblickte er einen Mann Ende zwanzig in Jeans und Polohemd. Kein Hund begleitete ihn, und er sah auch sonst nicht aus wie einer, der an einem Spätsommerabend einen Spaziergang machte. Somers hätte wetten können, dass er ein Russe war.
Jetzt bekam Calvin Somers es mit der Angst. Der Wald war eingezäunt und das nächste Tor noch mindestens hundert Meter entfernt. Also kletterte er kurzerhand über den stachligen Draht, und dabei verfing sich seine Fleecejacke. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus, als sie einriss, und drehte sich um. Der Russe war verschwunden. Somers stand im dichten Gestrüpp, konnte sich weder verstecken noch einen der Wege durch den Wald erreichen, ohne sich an Dornen und Sträuchern die Haut aufzureißen. Er saß faktisch in der Falle. Und so beschloss er, nicht ohne ein Gefühl der Beschämung, durch den Stacheldraht zurück auf das Feld zu klettern. Er redete sich ein, dass er im offenen Gelände sicherer war. Vielleicht kam jemand des Weges und sah ihn.
Es kam jemand des Weges, und der hieß Nicolai Doronin. Von Stieleke per Handy gelotst, war er um den nördlichen Rand des Getreidefelds und zurück in den Wald gelaufen, in dem Somers gerade verschwunden war. Somers sah ihn, als er zurück über den Zaun kletterte, die Fleecejacke sorgsam unter den Arm geklemmt, und hätte ihm vor Erleichterung beinahe zugewunken. Der Mann sah mehr wie ein Einheimischer aus: Er hatte den Kopf kahl geschoren, trug einen Trainingsanzug und ein Paar teuer aussehende Turnschuhe. So einer hatte sicher einen Bullmastiff oder Dobermann, der irgendwo im Wald Kaninchen jagte.
Als Somers den Kopf nach rechts wandte, stand wie aus dem Erdboden gewachsen der Russe neben ihm und sprang ihn an wie eine Katze. Ehe er realisierte, dass der andere Mann, der im Trainingsanzug, auch schon zur Stelle war, lag Somers am Boden und musste sich mit einem Gefühl entsetzlicher, ultimativer Beschämung eingestehen, dass er ihnen völlig ausgeliefert war. Irgendwie hatte er damit gerechnet, und dabei die leise unbestimmte Hoffnung gehabt, es könnte mit einer Abreibung, einer Lektion des FSB sein Bewenden haben – ein paar Tritten in den Magen, ein paar Schlägen an den Kopf, meinetwegen einem Veilchen für die nächsten zwei Wochen bei der Arbeit.
Eine knappe Minute später wusste Calvin Somers, dass es damit nicht sein Bewenden haben würde. Er spürte eine Wärme im Körper, die nicht allein etwas mit Schwitzen zu tun hatte; in seinem Bauch war etwas nicht in Ordnung. Einer der Männer hatte ihm ein Messer in den Leib gestoßen. Er begann, um sein Leben zu betteln, und hasste sich dafür, aber was blieb ihm anderes übrig? War ihm denn je etwas anderes übrig geblieben? Durchsuchten sie ihm die Hosentaschen? Durchsuchte einer von ihnen die Tasche, die er mit zur Arbeit nahm? Es kam ihm so vor, als wäre nur noch einer da, als sei der ganze Schaden von dem einen angerichtet worden. War es so? Die Bilder verschwammen ihm vor den Augen. Das Blut in seinem Bauch wurde kalt, und der Wald fiel ihm ein. Wenn er einfach in den Wald ging, vielleicht zurück auf den Weg. Wenn er von hier weg wäre, dann würde das alles aufhören.
Aber es würde nicht aufhören. Somers wusste, dass er nicht wieder aufstehen würde. Ob sie wirklich so weit gehen wollten? Ob sie ihn wirklich töten wollten?
Es war ein Fehler gewesen, mit Charlotte Berg zu reden. Das wusste er jetzt, und er wusste auch, dass er nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Er verlor kurzzeitig das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, wurde ihm klar, dass Charlotte Berg auch von diesen Männern ermordet worden war. Warum war er nicht darauf gekommen, dass sie nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein konnte?
Ob ihr Freund, der Professor, das wusste? Wie war sein Name? Aus irgendeinem Grund konnte Somers sich nicht erinnern. Dabei musste er den Mann doch benachrichtigen, ihm erklären, dass seine Freundin ermordet worden war. Somers angelte nach seinem Telefon, aber es war verschwunden.
Gaddis. So hatte er geheißen. Sam Gaddis. Er musste versuchen, ihn anzurufen. Kontakt mit ihm aufzunehmen. Jemand musste dem Mann klarmachen, dass die Dinge, in die er seine Nase gesteckt hatte, ihn das Leben kosten würden.