45
Aber warum Dizzy Mouse?
Gaddis fuhr mit der U-Bahn-Linie 1, keimfrei und aus Kunststoff, Richtung Nordosten zur Station Praterstern. Die zweite Hälfte von Tanyas Nachricht verstand er nicht. Er versuchte, die Buchstaben zu mischen, zu Anagrammen umzudeuten, herauszubekommen, ob »Dizzy« und »Mouse« Spitznamen sein könnten, doch ohne Erfolg. Ihm blieb nur der Schluss, dass dieses Codewort erst zu einem späteren Zeitpunkt des Morgens eine Rolle spielen würde.
Es war Viertel vor sieben, als der U-Bahn-Zug in die Station einfuhr. Gaddis fuhr mit der Rolltreppe hinauf in den Ladenbereich, der noch fast menschenleer in der klimatisierten Kühle des Sonntagmorgens lag. Er kam an einem mit Rollläden verschlossenen Zeitungsladen und einem Café vorbei, in dem nur ein einziger Gast saß; jeden seiner Schritte überwachten Videokameras. Durch automatische Türen führte der Weg nach draußen auf einen großen Vorplatz. In ungefähr dreihundert Metern Entfernung sah er das Riesenrad, die roten Kabinen standen still über den Wipfeln einer Reihe Kastanien, die alten strahlenförmigen Speichen blieben vor dem blassen Morgenhimmel fast unsichtbar. Er beschleunigte den Schritt und überquerte eine breite Straße. Rechter Hand war ein breiter, gepflegter Park, auf dem Picknicktische standen, zur Linken eine Shell-Tankstelle, um die herum Autos geparkt waren. Zu Füßen eines Baums kauerten ein paar Penner, die Gaddis anstarrten, als er vorüberging. Er kam an einer Reihe Eisbuden vorbei, und kurz darauf führte der Weg unter einer niedrigen Brücke hindurch und auf einen verlassenen Platz, um den herum Häuserattrappen mit klassizistischen Fassaden standen. Es handelte sich zweifellos um den Eingang zu einem Vergnügungspark, einem Mini-Disneyland, überragt von Achterbahnen, Rutschen und Autoscootern. Nur ein paar Penner und Straßenfeger waren zu sehen, als Gaddis auf das Riesenrad zuging und sich fragte, ob er überhaupt am richtigen Ort war.
Seine Zweifel waren schnell beseitigt, denn keine dreißig Meter entfernt sah er den riesigen Kopf einer Katzenkarikatur, ein gefletschtes Gebiss unter einem Paar großer gelb glühender Augen. Achterbahngleise im Kinderformat führten mitten in ihr offenes Maul. Über der Katze stand in großen Neonbuchstaben: »DIZZY MOUSE«.
»Sam?«
Gaddis drehte sich ruckartig um und sah eine stämmige, matronenhafte Frau in Bluejeans und cremefarbenem Pullover aus dem Schatten unterhalb des Riesenrades treten. Sie hatte schwarz gefärbtes Haar und ein blasses rundes Gesicht. Nur langsam aus seiner Verwunderung erwachend, griff er nach der ihm entgegengestreckten Hand.
»Ja, ich bin Sam.« Er staunte über das Tempo von Tanyas Arbeit und noch mehr darüber, dass ihn tatsächlich jemand an so einem Ort gefunden hatte.
»Eine Freundin von Ihnen schickt mich. Sie haben sie als Josephine Warner kennengelernt. Ihr wirklicher Name ist Tanya Acocella. Reicht das als Ausweis meiner Identität?«
»Ja, vollkommen.« Gaddis schaute hoch zum Riesenrad und rechnete beinahe damit, dort eine Ansammlung lächelnder Zuschauer zu erblicken, die ihre Unterhaltung beobachteten.
»Ich heiße Eva.«
»Sam«, antwortete Gaddis, sinnloserweise. Mit einem Lächeln räumte er seine Fehlleistung ein. »Sind Sie von der Botschaft?«
Sie überging die Frage. »Ich habe den Auftrag, Sie nach Ungarn zu bringen.«
»Nach Ungarn?« Dies war die endgültige Bestätigung für das Ausmaß seines Dilemmas, falls es ihrer noch bedurft hätte.
»Mein Auto steht nicht weit weg«, fügte sie schnell hinzu, als sie seine Fassungslosigkeit bemerkte. Eva drückte sich knapp, aber deutlich aus. Gaddis fiel auf, dass sie wiederholt verschiedene Ecken des Parks mit Blicken absuchte. Zweifellos fürchtete sie, observiert zu werden, und wollte so schnell wie möglich fort. »Kommen Sie bitte. Tanyas Nachricht an Sie war nicht so sicher verschlüsselt, wie wir gewünscht hätten. Viele Menschen haben den Dritten Mann gesehen, Doktor Gaddis.«
»Zweifelsohne.«
Er folgte Eva, immer einen halben Schritt zurück, und kam sich vor wie ein kleiner Junge in Begleitung einer Fremden, an deren wohlmeinender Absicht er keine Zweifel hegt. Sie gingen wieder unter der niedrigen Brücke hindurch und auf den kleinen Parkplatz der Shell-Tankstelle zu. Diesmal hoben die Penner unter dem Baum nicht eimmal den Kopf, als er vorüberging. Kaum hatten sie den Parkplatz erreicht, hörte er den Doppelton eines Infrarot-Schlosses und sah die Blinklichter eines grauen VW Kombi zweimal kurz aufleuchten. Eva öffnete die Beifahrertür, ging herum auf die Fahrerseite und ließ den Motor an. Im Inneren des Wagens roch es nach Voltaren-Salbe, und als Gaddis sich umdrehte, sah er auf dem Rücksitz schlammverkrustete Fußballschuhe, eine Sporthose und zwei Schienbeinschützer liegen. Die Sachen gehörten sicher Evas Sohn, aber sie erschienen ihm so seltsam wie fehl am Platze. War die Frau im Parallelleben eine Fußballmutter? Waren Menschen wie Eva das Fußvolk der Geheimdienstwelt? Ganz gewöhnliche Menschen mit Familien und Jobs, die nebenbei als Spione arbeiteten? Kaum hatte er den Sicherheitsgurt angelegt, stellte sie ihm auch schon die erste einer Reihe von Fragen zu seinem Leben in London. Haben Sie Kinder? Was für einer Arbeit gehen Sie nach? Ist London sehr teuer? Zweifellos war das eine Taktik, um ihn abzulenken. Kein Wort über den Mord an Wilkinson oder die Gründe für Gaddis’ Flucht aus Wien. Eva hielt sich an einfache, unkomplizierte Themen. Sie waren seit einer Viertelstunde heraus aus der Stadt, als er den Spieß umdrehen konnte und sogar ein paar Antworten bekam.
»Sie haben gar nichts gesagt, arbeiten Sie für die britische Botschaft?«
Sie lächelte, wie man über einen vorlauten Fremden lächelt. Ihm war aufgefallen, dass sie immer exakt fünf Stundenkilometer unterhalb des österreichischen Tempolimits blieb. Sie wollte unter allen Umständen vermeiden, von einem Verkehrspolizisten an den Straßenrand gewunken zu werden.
»Nein, nein, ich bin Lehrerin.« Sie wandte den Kopf und sah Gaddis’ verwirrten Blick. »Aber ich helfe Ihren Freunden, wenn sie mich anrufen. Das ist ein gutes Arrangement.«
Es war eine der seltsamsten Antworten, die er je bekommen hatte. Wie kam es überhaupt zu einem solchen »Arrangement«?
»Sie wissen also, was ich letzte Nacht erlebt habe?«, fragte er. »Sie wissen Bescheid über den Mord?«
Diesmal lächelte Eva nicht. »Die Einzelheiten Ihrer Situation sind für mich nicht direkt von Belang, Doktor Gaddis. Meine Aufgabe ist es, Sie sicher an Ihr Ziel zu bringen. Sollte es sich ergeben, dass ich Ihnen unterwegs ein paar Sorgen nehmen oder Ihnen Fragen beantworten kann, dann will ich das gerne tun.«
Gaddis schaute zum Fenster hinaus. Eine farblose, flache Landschaft flog wie in einem Traum vorbei. Er verzehrte sich nach einer Zigarette, aber seine letzte hatte er in dem Wiener Park geraucht.
»Also, wo fahren wir hin?«, fragte er. Der Aschenbecher des Autos war unbenutzt, und auch sonst deutete nichts auf Zigaretten hin. »Was sind die Pläne?«
Eva seufzte erleichtert. Das Gespräch nahm die von ihr erhoffte Richtung.
»Das ist sehr einfach.« Sie überholte einen Lastwagen, der ihr zu langsam vor ihnen herfuhr. »Ich bringe Sie über die Grenze nach Ungarn, zum Bahnhof von Hegyeshalom. Dort steigen Sie in den Zug nach Budapest. Und ich fahre nach Österreich zurück.«
»Sie kommen nicht mit mir?«
Er schämte sich beinahe für die beunruhigte Nachfrage. Als hätte er ihr damit ein Indiz für seine Feigheit geliefert.
»Ich fürchte, nein.«
»Sie begleiten Ihre Kunden nicht auf dem ganzen Weg?«
Eva zog die Augenbraue hoch. »Jeder Fall liegt anders.« Die Antwort klang leicht tadelnd. »Ich muss wegen einer anderen Angelegenheit vor Mittag wieder in Wien sein. Diese Arrangements sind erst in den letzten paar Stunden getroffen worden. Wäre ich früher benachrichtigt worden, hätte ich Sie vielleicht nach Budapest zum Flughafen begleiten können.«
»Ich steige in einen Zug? Und wie komme ich nach Hause? Hat Tanya sich das auch überlegt?«
Er wusste, wie ungeduldig er sich anhörte, aber die Müdigkeit machte ihn aufsässig. Er sollte dieser Frau gegenüber mehr Dankbarkeit zeigen. Immerhin war sie in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus geeilt, um einem Notruf nachzukommen. Sie riskierte ihr Leben, um ihm zu helfen. Doch das Entsetzen der Nacht war noch so nah, dass man sonst übliche Höflichkeiten schon einmal vergessen konnte.
»Tanya hat sich alles gut überlegt«, sagte Eva. »Sie bleiben einfach bis Budapest Keleti im Zug sitzen. Dann gehen Sie den Bahnsteig entlang, bis Sie einen Mann in einem grünen Jackett auf einer der Bänke sitzen sehen. Er ist das nächste Glied in der Kette. Sein Name ist Miklós. Er hat einen Bart und trägt eine Flasche Vittel bei sich. Er hat Ihr Foto gesehen und wird Sie erkennen, falls Sie ihn übersehen sollten. Miklós bringt Sie zum Flughafen und sorgt dafür, dass Sie sicher zurück nach London geflogen werden.«
»Das ist unglaublich.« Gaddis konnte sich nur wundern, wie schnell Tanya arbeitete, welche Gefälligkeiten sie abrufen, welche Netzwerke sie aktivieren konnte. »Und wenn ich irgendwo aufgehalten werde? Wenn die Russen mich ausfindig gemacht haben?«
»Das ist eine gute Frage.« Eva unterstrich, welche Bedeutung sie ihr gab, indem sie vom Gas ging und sich den Nacken rieb. »Allerdings besteht nur eine sehr geringe Gefahr, dass man Sie an irgendeinem Punkt Ihrer Reise aufhält oder Ihnen Fragen stellt. Österreich ist kein Polizeistaat, Doktor Gaddis, und Ungarn auch nicht. Ich habe die Berichterstattung über die Ereignisse im Kleinen Café im Radio gehört. Von einem Mann, auf den Ihre Beschreibung passen würde, war nicht die Rede. Natürlich kann es sein, dass die Polizei auf Zeit spielt und im Besitz eines Überwachungsfotos aus dem Lokal ist. Wäre das möglich?«
»Keine Ahnung.« Gaddis machte sich auf einmal Sorgen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Ihm fiel das Gruftimädchen in Meisners Mietshaus ein, und er versuchte sich zu erinnern, ob er im Kleinen Café eine unter der Decke montierte Kamera gesehen hatte. War denn die Videoüberwachung im öffentlichen Raum nicht vor allem eine britische Krankheit? »Ich glaube nicht.«
»Aber jemand vom Personal könnte mit der Polizei gesprochen haben. Wir können also nicht sicher sein. Wegen des Schengener Abkommens finden keine Grenzkontrollen statt. Und sollten wir von einem Streifenpolizisten angehalten werden, müssen Sie sagen, Sie seien ein Freund aus England und wir würden für ein paar Tage nach Budapest fahren. Sie wohnen seit Donnerstag in meiner Wohnung in Wien.« Und nach einer kurzen Pause: »Wenn nötig, müssen wir so tun, als sollten mein Mann und Ihre Frau besser nicht von dieser Reise erfahren.«
Eva war rot geworden, Gaddis nicht, und er registrierte mit Erleichterung, dass diese besonnene, einfallsreiche Frau zu schamhaftem Erröten in der Lage war. Es brachte sie einander näher.
»Behalte ich meinen richtigen Namen?«
»Im Augenblick noch, ja. Von Miklós bekommen Sie eine neue Identität. Sie verlassen Ungarn mit einem gefälschten Reisepass.«
Diese Perspektive beruhigte Gaddis so sehr, dass er es sich gestattete, die Augen zu schließen und ein kurzes Nickerchen zu halten, während das Auto auf die ungarische Grenze zufuhr. Er meinte, einen ganzen Park von Windrädern gesehen zu haben, der sich über den ganzen Horizont erstreckte, aber vielleicht war es auch ein Traum gewesen. Als Nächstes registrierte er, wie Eva schon auf ungarischer Seite vor einem Bahnhof aus der sowjetischen Ära vorfuhr. Es war nicht nötig gewesen, ihn zu wecken, als sie die Grenze passierten. Und jetzt waren sie in Hegyeshalom.
»Bitte warten Sie hier«, sagte sie, nachdem sie gesehen hatte, dass er aufgewacht war. Auf der Uhr am Armaturenbrett war es kurz vor zehn.
»Was ist los?«
»Ich gehe eine Fahrkarte kaufen.«
Er war allein auf einem verlassenen Parkplatz. Eine ausgehungerte Katze scharrte in einem kleinen Abfallhaufen herum. Neben einem Lastwagen, der aussah, als wäre er seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr bewegt worden, lagen ein paar blaue Plastikplanen aufgestapelt. Gaddis hatte das Gefühl, im tiefsten Russland erwacht zu sein, einer Welt aus bröckelnden Mietskasernen aus kommunistischer Zeit; ausrangierte Güterwagen standen auf von Unkraut überwucherten Abstellgleisen, von Oberleitungen hingen Knäuel abgerissener Kabel. Alles war weniger ordentlich, weniger gepflegt. Er roch seinen eigenen Atem, und es verlangte ihn nach einem Schluck Wasser. Der Schlaf hatte ihm nicht gutgetan. Nach der kurzen Ruhe fühlte er sich müder, nicht frischer.
Eva kam zurück, bewaffnet mit einem Käsesandwich, einer Halbliterflasche Mineralwasser und einer Fahrkarte nach Budapest.
»Das ist ja eine Hin- und Rückfahrkarte«, stellte Gaddis fest, während er das Sandwich verschlang und die Flasche fast leer trank.
»Sie kommen morgen zurück«, antwortete sie lächelnd. »Eine einfache Fahrt erregt viel mehr Misstrauen. Da fällt mir ein …«
Sie stieg aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum und kam mit einer abgewetzten Ledertasche zurück, in die sie ein paar Toilettenartikel, zwei Taschenbücher und ein T-Shirt gesteckt hatte.
»Das ist für die Reise.« Sie zog die Autotür zu. »Ein Ausländer, der ohne Reisetasche einen Zug besteigt, könnte Verdacht erregen. Suchen Sie sich einen Platz neben jungen Leuten, wenn Sie nicht gestört werden wollen. Junge Leute sind viel weniger neugierig. In einer Stunde sind Sie in Budapest. Es gibt absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Es tut mir leid, dass ich nicht mit Ihnen kommen kann.«
»Ist schon gut«, sagte Gaddis.
»Geben Sie mir bitte Ihr Mobiltelefon?« Es wunderte ihn nicht, dass sie ihn darum bat. »Ich bringe es zurück nach Österreich und lege es eingeschaltet in einen Park in der Nähe meiner Wohnung. Vielleicht lassen die Leute, die hinter Ihnen her sind, sich davon ablenken und glauben, dass Sie noch in Wien sind. Aber vielleicht durchschauen sie den Trick auch. Sie sollten jedenfalls nicht länger damit herumlaufen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Gaddis hätte noch hundert Fragen gehabt, aber sie fielen ihm nicht ein. Wahrscheinlich war es besser so. Wozu die Dinge noch mehr komplizieren? Was sollte ihm schließlich passieren? Er musste nur in diesen Zug einsteigen und einen Mann namens Miklós treffen. Als er hochschaute, fuhr der Budapester Zug gerade in den Bahnhof ein. Evas Zeitplan ging perfekt auf. Er stieg aus dem Wagen.
»Vielen Dank«, sagte er. »Das war sehr freundlich von Ihnen. Ich vermute, wir werden uns nicht wiedersehen.«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Eva. Gaddis gab ihr das Telefon und den Akku. »Alles wird gut, Doktor Gaddis, alles wird gut. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«