17
Ein elf Kilometer langer Stau auf dem M3 hinter Winchester gab Gaddis ausreichend Gelegenheit, über das nachzudenken, was Neame ihm über Eddie Cranes Jahr in Oxford erzählt hatte. Wenn sie stimmte, war es eine erstaunliche Geschichte.
Nach seinem Examen in Cambridge hatte Crane von seinem Betreuer beim NKWD, Arnold Deutsch, den Auftrag bekommen, sich noch im selben Sommer in Oxford um eine Doktorandenstelle zu bewerben. Was Moskau verlangte, war einfach: Crane sollte ein Jahr lang kommunistische Studenten sichten, die das Zeug zu Spionen in Moskaus Diensten hatten. Mit anderen Worten, er sollte den Job machen, den Burgess mit so großem Erfolg am Trinity College in Cambridge ausgeübt hatte.
Cranes Führungsoffizier in Oxford war ein Mann namens Theodore Maly, der verdeckt für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete. Maly hatte schon Arthur Wynn, einen ehemaligen Studenten am Trinity College, für die sowjetische Sache gewinnen können. Neame zufolge war es ATTILA und Wynn gelungen, sich in Oxfords linke Studentenkreise zu integrieren und einen Ring von mindestens sieben Spionen aufzubauen, der – wie sich herausstellte – genauso erfolgreich war wie sein Pendant in Cambridge. Für Gaddis war das nicht nur ein interessantes Detail in der Crane-Geschichte, es war für sich allein schon eine ungeheuerliche Sensation. Die Existenz eines Rings in Oxford war während des Kalten Krieges immer wieder eine der großen Verschwörungstheorien gewesen. Und er hatte jetzt den Beweis, dass ein solcher Ring existierte.
Aber das war noch nicht alles. Was Neame ihm über die Identität eines der Mitglieder des Oxford-Rings mitgeteilt hatte, kam einer Sensation gleich. Offenbar hatte er in Cranes Memoiren den kryptischen Hinweis auf einen Geschichtsstudenten aus der Grafschaft Yorkshire gefunden, der sich »James« nannte, von ATTILA entdeckt und 1938 von den Sowjets als Agent rekrutiert worden war. Der russische Geheimdienst hatte »James« den Codenamen AGINCOURT gegeben. In seinen Memoiren deutete Crane an, dass AGINCOURT später »eines der höchsten Ämter im Land bekleiden sollte«. Gaddis war davon überzeugt, dass Charlotte bei dem Abendessen vor drei Wochen in Hampstead auf diese Enthüllung anspielen wollte: Das war das Geheimnis, »das London und Moskau in den Grundfesten erschüttern« würde. Neame hatte behauptet, AGINCOURTS Identität nicht zu kennen, aber Gaddis war überzeugt, die Puzzlestücke zusammensetzen und zumindest eine Art Shortlist der Verdächtigen erstellen zu können, wenn man ihm genug Zeit gab.
Gaddis blieben drei Tage bis zu seiner nächsten Verabredung mit Neame. Er nutzte die Zeit, um herauszufinden, was es bereits an bekannten Fakten über Arthur Wynn gab, und richtete sein Augenmerk auf das Oxford der Vorkriegsjahre. In seinen Memoiren Spycatcher hatte der ehemalige MI5-Agent Peter Wright von der Möglichkeit eines Oxforder Rings gesprochen und mit der Dozentin Jennifer Hart, dem Labor-Abgeordneten Bernard Floud und dessen Bruder Peter sogar Verdächtige beim Namen genannt. Laut Neame erscheinen alle drei Namen in Cranes Memoiren als aktive Sowjetagenten.
Besonders neugierig machte Gaddis die Tatsache, dass mehrere potentielle Mitglieder eines Oxforder Rings unter auffälligen Umständen zu Tode gekommen waren; eine Frau hatte sich kurz nach einem Verhör durch den MI5 das Leben genommen. Daraufhin hatte die Sicherheitsbehörde aus Angst vor öffentlichem Aufsehen die Verhöre ausgesetzt und die Existenz eines Oxforder Agentenrings als topsecret behandelt. Offen blieb, ob Peter Wrights Darstellung nun der Wahrheit entsprach oder der clevere Versuch war, eine Nebelkerze zu zünden, um nicht nur ATTILA und Wynn, sondern auch AGINCOURT zu schützen.
An diesem Abend ging Gaddis mit Holly ins Donmar Warehouse Theater, wo sie sich ein neues Stück ansahen, das ein ehemaliger Studienkollege von ihr geschrieben hatte.
»Langweilst du dich?«, fragte sie ihn in der Pause. »Du wirkst so abwesend.«
Sie hatte recht. Er konnte sich nicht auf die Aufführung konzentrieren. Er wäre lieber mit Holly in ein Restaurant gegangen und hätte ihr von Neame und Lampard, von »James« und dem Agentenring in Oxford erzählt. Aber das war unmöglich, er durfte sie da nicht mit hineinziehen. Er wusste ja noch nicht einmal genau, warum Holly mit den Unterlagen ihrer Mutter zu Charlotte gegangen war. War es purer Zufall gewesen, oder hatte Katya Levette irgendetwas mit der Crane-Verschwörung zu tun gehabt? Tausend Möglichkeiten schwirrten ihm durch den Kopf.
Der Barkeeper im Donmar war ein Freund von Holly, ein ehemaliger Schauspieler namens Piers, dessen Freundin eine Rolle in dem Stück hatte. Anschließend gingen sie zu viert im Covent Garden essen, und die Gesellschaft der beiden war ihm angenehm, besonders Piers machte einen lockeren, liebenswerten Eindruck. Aber ein Teil von ihm quälte sich durch den Abend, zählte die Sekunden, bis er endlich nach Hause durfte, um sich über seine Bücher herzumachen. Er überredete Holly, mit zu ihm zu kommen, wo er sie in sein Bett legte und ins Arbeitszimmer ging, um das Internet nach Informationen über AGINCOURT abzugrasen. Mehr als die uralte Verschwörungstheorie, nach der der frühere Premierminister Harold Wilson für die Sowjetunion gearbeitet haben sollte, förderte er dabei nicht zutage. Hatte Neame ihn auf eine falsche Fährte gesetzt?
Am Donnerstagmorgen machte er sich auf den Weg nach Winchester, befolgte die Instruktionen, die Neame ihm beim Verlassen der Kathedrale gegeben hatte. Er sollte wieder im Obergeschoss von Waterstone’s Bookstore auf Peter warten, wobei er diesmal, hatten sie gewitzelt, die Herald Tribune weglassen durfte.
Peter erschien pünktlich um elf Uhr und trug ein rotes Manchester United Trikot mit dem Namen »ROONEY« auf dem Rücken. Sie waren allein im Raum, Gaddis lachte, als er das Trikot sah, Peter grinste und gab ihm eine kleine Schachtel und ein Blatt Papier, auf das er eine Reihe von Instruktionen geschrieben hatte.
»Ein Navi«, sagte er. »Eingeschaltet. Einfach nur auf den grünen Knopf drücken und tun, was es Ihnen sagt. Ihr Freund wartet in einem Pub.«
Gaddis öffnete die Schachtel und fand ein kleines, locker in Luftkissenfolie gewickeltes TomTom. Die schriftlichen Instruktionen trugen ihm auf, die in das Navi programmierte Strecke zu nehmen, die ihn in ein Dorf außerhalb von Winchester führen würde. Peter würde Gaddis’ Auto in diskretem Abstand folgen, damit sie sicher sein konnten, dass niemand sie beschattete. Sollte Peter an irgendeiner Stelle den Verdacht haben, dass ihnen jemand folgte, würde er Gaddis eine SMS mit dem Betreff LONDON schicken. Damit wäre das Treffen abgesagt.
Der Plan klang vernünftig, und Gaddis war inzwischen so weit mit den exzentrischen Gepflogenheiten der Geheimdienstwelt vertraut, dass sie ihn weder wunderten noch ängstigten. Er stieg in sein Auto, legte das TomTom auf den Beifahrersitz, schaltete den Motor ein und drückte auf die grüne Starttaste.
»Am Ende der Straße links abbiegen.«
Verwundert vernahm er die Stimme Sean Connerys, die in die Software eingebaut worden war. Noch so einer von Peters privaten Gags; der Junge begann Gaddis ans Herz zu wachsen. Kaum hatte er sich in den spärlichen Vormittagsverkehr eingereiht, als Commander James Bond ihn auch schon im besten Bühnenschottisch durch die schmalen Wege und Nebenstraßen des südlichen Hampshire lotste. Peter hatte eine Reihe von Kehren und Schleifen in die Strecke programmiert, die Gaddis mehrmals zu Kreisverkehren oder Kreuzungen führten, an denen er Minuten vorher schon gewesen war. Der Zweck der Übung war klar: Wenn ein Fahrzeug ihm auf diesen verschlungenen Wegen folgte, war es schnell ausgemacht. Gaddis wusste, dass Peter in einem roten Toyota saß, und behielt den Innenspiegel im Auge. Auf doppelspurigen Straßen und an Verkehrsampeln hielt Peter sich sechs oder sieben Fahrzeuge hinter Gaddis, der in regelmäßigen Abständen sein Tempo verlangsamte, um ihn nicht zu weit zurückfallen zu lassen. So waren sie seit fast einer halben Stunde unterwegs, als eine Textnachricht Gaddis’ Handy erreichte. Zu seiner Enttäuschung wurde die Nummer auf dem Display nicht angezeigt, aber die Nachricht kam von Peter und enthielt die Anweisung, sein Telefon auszuschalten, damit er in dem Pub nicht zu orten war. Fünf Minuten später entließ ihn Sean Connery auf dem Parkplatz eines Wirtshauses mit falscher Tudor-Fassade in der Ortschaft Easton, ein paar Meilen nördlich von Winchester.
Neame saß bereits in einer Ecke des Speiseraums. Der Abstand zu den Nachbartischen war groß genug, um sicherzustellen, dass niemand ihr Gespräch mithörte. Der alte Mann trug denselben Tweedanzug, dieselbe wollene Krawatte und dieselben blankpolierten braunen Halbschuhe wie bei ihrem ersten Treffen. Man konnte meinen, er sei von Winchester direkt hierherspaziert und habe seitdem in dem Pub gewartet. Das Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand, schien echtes Ale zu enthalten, und er selber war ausgesprochen aufgeräumter Stimmung.
»Aha, der gute Doktor.«
Neame erhob sich.
»Ist das Ihr Stammlokal, Tom?«
Der Handschlag des alten Mannes war weich und feucht. Sein Gehstock lehnte in einer Wandnische hinter seinem Stuhl, und Neame umwehte derselbe Lavendelduft, der schon über den Bankreihen in der Kathedrale von Winchester geschwebt hatte.
»Vom Pflegeheim führt ein Tunnel herüber. Für manche Insassen bedeutet er die Große Freiheit. Wie geht’s Peter?«
Gaddis lag eine Bemerkung zum Rooney-Trikot auf der Zunge, aber er hielt sich zurück.
»Ich wusste nicht, dass er so viel Humor hat«, antwortete er stattdessen. »James Bond höchstpersönlich hat mich zu Ihnen gelotst.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
Gaddis musste sich eingestehen, dass er nicht die ideale Gesprächseröffnung gefunden hatte, und verbrachte die nächsten drei Minuten damit, dem alten Mann zu erklären, dass man sich aus dem Internet Stimmen von Schauspielern auf das Navigationsgerät laden konnte. Neame wirkte nachhaltig konsterniert. Ebenso gut hätte der »gute Doktor« ihm auf Kisuaheli die Relativitätstheorie erklären können.
»Dieser neumodische Technologiekram ist mir ein Buch mit sieben Siegeln«, sagte er. »Darum kümmert sich Peter. Ich bin sehr froh, dass ich ihn habe.«
»Wo haben Sie ihn aufgetan?«, fragte Gaddis, denn es kam nicht gerade oft vor, dass ein einundneunzigjähriger Bewohner eines Altenpflegeheims einen Überwachungsexperten zur Hand hatte.
»Staatsgeheimnis«, antwortete Neame und tippte sich an die Nase. Er war entspannter, redseliger Stimmung, und er sah fantastisch erholt aus, nicht einen Tag älter als fünfundsiebzig. »Sagen wir so, Eddie hat uns bekannt gemacht, kurz bevor er abgetaucht ist.«
Eine etwas wohlfeile Antwort, wie Gaddis fand, ein bisschen zu naheliegend, aber er hatte nicht vor, Neame der Flunkerei zu bezichtigen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass die beiden Männer noch in Kontakt standen und Crane seinen Freund als bereitwilligen Mittelsmann nutzte, wann immer er Informationen unter die Leute bringen wollte. Oder Crane hatte Peter auf eigene Faust als zusätzlichen Schutz für seinen alten Freund angeheuert.
»Apropos neumodischer Technologiekram«, sagte Gaddis, »hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein Foto von Ihnen mache?«
Neame zögerte. »Im Prinzip nein, aber es darf nur für das Buch sein. Vor der Veröffentlichung dürfen Sie es niemandem zeigen. Das ist absolut notwendig für meine Sicherheit.«
»Ich verstehe«, erwiderte Gaddis mit einem Lächeln.
Es war ein zynischer Schachzug, nicht zuletzt deshalb, weil er das Foto mit nichts Elaborierterem als der Kamera seines Mobiltelefons aufzunehmen beabsichtigte. Keine Beleuchtung, kein Make-up, nur ein Schnappschuss von Cranes bestem Freund hinter seinem Glas Ale in einem englischen Pub. Er fand es beinahe rührend, wie der alte Mann sich in Positur setzte, sein Jackett zurechtrückte und sich die Haare fester an den Kopf strich, um dann wacker in das Objektiv zu starren, während Gaddis ihn ins Bild rückte.
»Ohne ›Cheese‹ bitte.«
Das Foto sah gut aus, doch Gaddis machte zur Sicherheit noch ein paar. Jede Begegnung mit Neame konnte die letzte sein, womöglich ergab sich eine solche Gelegenheit nie wieder.
»Können wir noch ein bisschen über Oxford reden?«, fragte er, nachdem er sein Handy weggesteckt hatte. Er hatte sich von der Bar ein Glas Lager kommen lassen, und es galt noch einige Fragen von seiner Liste abzuarbeiten, bevor Neame müde wurde.
»Gerne.«
»Mich würde brennend interessieren, wer AGINCOURT war.«
»Wen nicht?«
»In Spycatcher deutet Peter Wright an, dass …«
Neame ließ ihn den Satz nicht einmal zu Ende sprechen.
»Um Himmels willen, Sam. Legen Sie bloß kein Wort von dem Kerl auf die Goldwaage. Wright ist nichts anderes als ein Schwätzer. Eddie konnte ihn nicht ausstehen. Der hat immer nur einen gegen den anderen ausgespielt. Verrückt nach Geld, verrückt nach kleinkarierter Vergeltung. Wäre die Regierung auch nur mit einem Funken Verstand an das Problem Peter herangegangen, hätte man dafür gesorgt, dass er irgendwo abtaucht.«
»Sie haben Wright also persönlich gekannt?«
Neame schaute verwirrt. »Ich hätte ihn gekannt?«
»Sie haben ihn eben ›Peter‹ genannt. Wie einen persönlichen Bekannten.«
Neame runzelte die Stirn, tat die Theorie mit leisem Kopfschütteln ab. »Da täuschen Sie sich.«
Tatsächlich? Bei Neame hatte man ständig das Gefühl, dass er mit etwas hinter dem Berg hielt, etwas verbarg, um Crane zu schützen. Hatten die beiden womöglich beim SIS zusammengearbeitet? »Und was heißt das jetzt für uns?«
»Für uns?«
»Ich meine, wie erfahre ich mehr über den Oxford-Ring?«
»Tja, in Eddies Erinnerungen steht nicht mehr darüber drin. Was ich weiß, hab ich erzählt.«
Die Schroffheit dieser Auskunft stellte Gaddis’ guten Willen auf eine harte Probe.
»Was dagegen, wenn ich es überprüfe?«
Neame lächelte. »Geduld«, sagte er, und Gaddis spürte den Ärger höhersteigen. Einem so alten Mann gegenüber konnte man eigentlich nur entgegenkommend und nachsichtig sein, aber Gaddis hatte nicht übel Lust, die Fesseln des Respekts gegenüber dem Alter abzuwerfen.
»Warum Geduld?«
»Ich weiß absolut nichts über AGINCOURT. Eddie hat behauptet, er habe in den sechziger und siebziger Jahren einen steilen Aufstieg in der Labour Party gemacht, doch das ist lange her.«
»In der Labour Party?«
Neame schaute hoch. Unter den Augen wies die Haut farblose Stellen auf, die Jahre hatten sich mit dunklen Flecken in sein Gesicht geschrieben. »Ja, Labour.«
»Ich meine nur, dass Sie in der Kathedrale kein Wort davon gesagt haben.«
»Und?«
»Es ist interessant, weiter nichts.«
»Na ja, dass er kein Tory war, versteht sich wohl von selbst, oder? Immerhin reden wir von einem Arbeitersohn aus Yorkshire, einem Kommunisten.«
Ein großer Teil der Energie schien mit einem Mal aus Neame gewichen zu sein wie die Pracht aus der Fassade eines einstmals herrschaftlichen Hauses. Er sah erschöpft und müde aus. Und als wollte er diesen Eindruck unterstreichen, langte er auf den Fußboden, brachte unter beträchtlichen Mühen eine dünne Plastiktragetasche zum Vorschein und legte sie auf den Tisch.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte er und unterdrückte ein Husten.
»Ist alles in Ordnung, Tom?«
»Alles in Ordnung.« Neames müdes Lächeln hatte etwas rührend Väterliches. Gaddis blickte auf den Beutel und erkannte mit an Euphorie grenzender Erregung, was er enthielt.
»Ich traue meinen Augen nicht.«
Er war überzeugt, dass es die Memoiren waren: die Schlaffheit des Beutels, seine Schwerelosigkeit, als Neame ihn auf den Tisch gehoben hatte. Bei einem zweiten Blick erkannte er die geheftete Ecke von etwas, das wie ein Manuskript aussah. Viel konnte es nicht sein, höchstens ein paar Seiten, aber besser ein Teil des ersehnten Preises als gar nichts.
»Nehmen Sie es als Vertrauensbeweis«, sagte Neame und ermutigte Gaddis, das Papier aus dem Beutel zu nehmen. »Und außerdem als Beweis für mein nachlassendes Gedächtnis. Ich fürchte, ich habe mich als unfähig erwiesen, mich an die Einzelheiten von ATTILAS Verhalten während des Krieges zu erinnern.«
»Seines Verhaltens während des Krieges.« Tonlos wiederholte Gaddis den Satz, weil er inzwischen das geheftete Manuskript in Händen hielt und nur noch auf dessen Inhalt fixiert war. Zu seiner Enttäuschung erkannte er, dass es sich um ganze drei DIN-A4-Blätter mit hastig hingekritzelten Notizen handelte. Die Handschrift war dieselbe wie auf dem Notizzettel, den Peter ihm bei Waterstone’s gegeben hatte. Mit anderen Worten, Edward Crane hatte nichts damit zu tun. »Was ist das?«
»Ein kurzes Resümee der Dinge, die Eddie nach eigener Aussage den Russen übergeben hat.« Neame schaute an ihm vorbei zur Bar hinüber. »Das Ausmaß seines Landesverrats.«
Das verstand Gaddis nicht. Crane hatte bis hinein in die achtziger Jahre weiter für den MI6 gearbeitet. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte er sein Land verraten. Wie sollten drei jämmerliche Seiten das ganze Ausmaß seines Verrats dokumentieren? Plötzlich reichte es ihm, sich länger von offenen Fragen und Sackgassen an der Nase herumführen zu lassen. Ganz egal, wie Mister Neame sich fühlte, er brauchte jetzt Antworten.
»Tom, ich hatte gedacht, das wäre …«
»Ich weiß, was Sie gedacht hatten.« Neame fasste wieder an den Knoten seiner Wollkrawatte als gelte es, mit dieser Geste die Würde der Unterhaltung zu retten. »Aber das kann ich Ihnen noch nicht geben. Werfen Sie doch erst mal einen Blick darauf. Es dürfte von größtem Interesse für Sie sein.«
Gaddis kam sich vor wie ein ratloser Sohn, der von seinem besonders anspruchsvollen Vater eine Aufgabe gestellt bekommen hatte. Er sah ein Wort, das er als »Bletchley« identifizierte, und las, was Neame daruntergekritzelt hatte:
E arbeitet 42 kurz in Bletchley
Direkter Zugriff auf ULTRA/ zusammen mit dem Karelier
Panzerbrechende Granaten + Tiger Panzer (Kurskaja Duga)
»Das ist schwer für mich zu verstehen«, sagte Gaddis und blätterte weiter zur nächsten Seite. Hier schien Neame eine Passage wörtlich aus den Erinnerungen abgeschrieben zu haben.
In diesem Winter ist es uns mit Cairncross’ Hilfe gelungen, an der Ostfront die Leben Tausender russischer Soldaten zu retten. Es war die Zeit der Zitadellen-Offensive. Dank der Codeknacker konnte ich an MANN detaillierte Informationen über die Truppenbewegungen der Deutschen weitergeben. Dadurch waren die sowjetischen Kommandanten in der Lage, ihre Männer rechtzeitig aus der Angriffslinie zu nehmen.
Gaddis wusste, dass es sich bei MANN um den NKWD-Decknamen für Theodore Maly handelte.
Natürlich wussten John und ich nicht, ob unsere Bemühungen irgendeine direkte Auswirkung auf das alles hatten, aber das minderte nicht unser Gefühl, wichtige Arbeit für die Sache zu leisten.
»Welche Sache?«, murmelte Gaddis, der sich immer noch keinen rechten Reim auf das machen konnte, was er da vor sich hatte. War das ein Extrakt aus den Erinnerungen? Warum hätte Neame sich die Mühe machen sollen, es aus dem Text abzuschreiben? Was brachte es ihm, ein solches Spiel zu spielen?
Neame, der seine Verwirrung bemerkte, forderte ihn mit einer Handbewegung zum Weiterlesen auf.
Zu derselben Zeit gelang es dem Karelier auch, eine Liste der Luftwaffen-Geschwader zu beschaffen, die im Gebiet von Kursk operierten. Als er krank wurde, oblag es mir, diese Informationen an seinen Verbindungsmann weiterzugeben. Ich glaube, dass daraufhin fünfzehn Flugplätze der Nazis bombadiert und 500 Flugzeuge zerstört werden konnten. Ein wunderbarer Schlag, für den John und ich den Rotbannerorden verliehen bekamen.
»Lieber Himmel, stimmt das? Cairncross und Crane sind ausgezeichnet worden?«
Neame nickte. »Wenn es dort steht.«
Gaddis blätterte zurück zur ersten Seite. Er deutete auf die Notiz: »Panzerbrechende Granaten + Tiger Panzer« und bat Neame um Einzelheiten.
»Einzelheiten?« Der alte Mann tippte mit dem Zeigefinger auf einen Flecken schorfiger Haut gleich unterhalb des Haaransatzes. »Ich glaube ›der Karelier‹ war einer der Namen, unter denen die Russen Cairncross kannten, oder?«
Gaddis nickte.
»Na ja, und Eddie erinnert sich, dass die Russen in der Lage waren, Granaten zu entwickeln, mit denen man die Panzer der Nazis zerstören konnte in der Schlacht von …« Das Aussprechen des Namens »Kurskaja Duga« fiel ihm schwer, und Gaddis nahm es ihm ab. »Genau. Und wieder zollte er ULTRA die Anerkennung für diese Informationen.«
»Ich verstehe.«
Gaddis blätterte weiter zur letzten Seite, auf die Neame weitere Notizen geschrieben hatte.
1939. Zum sowjetischen Doppelagenten beim MI5 ernannt. Gibt MANN eine Liste mit den Namen potentieller sowjetischer Überläufer. Daraufhin werden Diplomaten nach Moskau zurückgerufen.
Volle Kenntnis über Aktivitäten der Spionageabwehr in London und darüber hinaus. Ebenso über das Ausmaß der Unterwanderung der Kommunistischen Partei durch den MI5.
Gespräch mit Dr. SG über diplomatische Zellen.
1943. Guy und E zu Geheimgesprächen zwischen Churchill und Roosevelt nach Casablanca geflogen.
Pläne für Landung der Alliierten auf Sizilien und die Invasion der italienischen Halbinsel an MANN weitergegeben.
»Hier steht, dass Sie mir etwas über diplomatische Zellen erzählen wollen.«
Neame nippte an seinem Glas. Ein paar Männer waren in das Pub gekommen. Einer von ihnen schien die Wirtin zu kennen. Den Begrüßungslärm übertönend sagte Neame: »Wie bitte?«
Gaddis beugte sich vor, tippte auf die Rückseite des Manuskripts.
»Was sind diplomatische Zellen, Tom?«
»Was weiß ich?«
Warum musste gerade jetzt, wo Gaddis so nötig einen wachen Thomas Neame brauchte, jegliche Energie aus dem alten Mann weichen? Spielte er ihm etwas vor, oder forderte tatsächlich das Alter seinen Tribut?
»Soll ich uns etwas zu essen bestellen?«
»Das wäre sehr freundlich.«
Vielleicht vermochte ein Süppchen mit etwas Brot seine Lebensgeister wieder zu wecken. Die zehn Minuten, bis das Essen serviert war, überbrückte Neame mit Bemerkungen über das Personal in seinem Pflegeheim. Er verriet Gaddis, dass er sich »zu Tode« langweilte. Das erklärt seine Stimmungsumschwünge, dachte Gaddis, und bestellte sich noch ein Glas Lager. Als die Suppe kam, schlürfte Neame zwei Löffel und schob dann den Teller beiseite.
»Hab ich Ihnen schon erzählt, was nach dem Krieg mit Eddie geschah?«
Es geschah übergangslos. Er war aufgewacht. Innerhalb weniger Sekunden schien Neame seine geistige Schärfe und Frische wiedererlangt zu haben. Gaddis fühlte sich an einen Schauspieler erinnert, der zurück in seine Rolle schlüpfte; es war nervtötend. Anscheinend hatte er das Manuskript und die diplomatischen Zellen vergessen und wollte lieber über Cranes Erlebnisse nach dem Krieg reden. Gaddis ließ ihn gewähren. Sollte der alte Mann ruhig die Geschichte auf seine Weise und in seinem Tempo erzählen. Solange er sie erzählte.
»Nein, darüber haben Sie noch nicht gesprochen.«
»Wissen Sie was, Sam?«
»Was?«
Neame beugte sich vor, um ein Haar wäre er auf den Ellbogenflicken seines Tweedjacketts weggerutscht. »Ich glaube, Eddie hatte damals etwas, was man heutzutage einen Nervenzusammenbruch nennen würde.«
»Tatsächlich?«
Jetzt war es an Gaddis, sich aus seinem Stuhl nach vorn zu beugen. Er kam sich vor wie in einem Theaterstück. Ein- oder zweimal hatte er in tiefer Nacht mit dem Gedanken gespielt, Thomas Neame sei vielleicht nicht mehr als ein Schwindler, ein boshafter alter Schelm, der sich Geschichten über einen Mann namens Eddie Crane ausdachte, der nie existiert hatte. Solchen Gedanken war er jetzt wieder sehr nah.
»Tatsache ist, dass wir uns aus den Augen verloren haben.« Neame machte ein trauriges Gesicht. »Eddie war ’47 nach Italien gegangen, und über die folgenden fünf Jahre weiß ich rein gar nichts. Wir haben uns nicht gesehen, uns nicht geschrieben. Damals dachte ich, er ist womöglich gar nicht mehr am Leben.«
Gaddis nickte. Wohin führte das? Welchen Teil der Geschichte dachte er sich jetzt gerade aus? Zwei ältere Damen hatten am Nebentisch Platz genommen und steckten sich die Servietten in den Ausschnitt.
»Ich glaube, es gab da einen Freund«, fügte Neame hinzu, eine Bemerkung, die Gaddis völlig überraschte. »Ja, wirklich, es muss da einen Freund gegeben haben.« Cranes Sexualität war also kein heikles Thema mehr? In der Kathedrale hatte Neame jeden Gedanken an einen Liebhaber abgeblockt, und heute outete er Crane bei der erstbesten Gelegenheit. Vielleicht war er zu dem Schluss gekommen, dass er Gaddis auch die delikatesten Einzelheiten der Geschichte seines Freundes anvertrauen durfte. So etwas nannte man wohl ein Best-Case-Szenario. »Mit Sicherheit wissen wir, dass Guy und Donald übergelaufen sind, richtig? Die Fähre nach Frankreich im Jahr ’51 und die sukzessive Enttarnung des Cambridge-Rings.«
Gaddis nickte. Er meinte zu spüren, wie die Arbeit der Synapsen durch seinen Chefmanipulator beschleunigt wurde. Neame langte instinktiv nach dem Gehstock, aber seine Hand zitterte, als tastete sie sich durch Dunkelheit.
»Hinter alldem steckt etwas«, sagte er. »Dem Nervenzusammenbruch, meine ich. Wenn Sie mich fragen, ist Eddie nie mit dem Pakt zurechtgekommen.«
»Mit dem Hitler-Stalin-Pakt?« Gaddis blickte tief in seine Suppenschüssel, aus der es nach Curry roch. Er wünschte, die Wirtin würde sie endlich abräumen. »Ein erstaunlicher Gedanke, den Sie da haben. Der Pakt wurde ’39 geschlossen, über zehn Jahre früher.«
»Ja, ja.« Offenbar war Neame sich dieser Unstimmigkeit bewusst. Immerhin hatte Crane noch lange nach Stalins Bündnis mit Nazi-Deutschland für die Sowjets gearbeitet. »Die anderen – verstehen Sie –, Guy, Anthony, Kim, Donald, John –, die hatten mit dem Pakt ihren Frieden gemacht, einer wie der andere. Aber Eddie konnte dafür einfach keine Rechtfertigung finden. Sein Vertrauen in das Sowjetsystem war gründlich erschüttert. Er war kein Pragmatiker und kein Intellektueller wie, sagen wir, Guy und Anthony. Er wollte in diesem Kuhhandel mit Hitler kein notwendiges Übel sehen. Für ihn war das purer Opportunismus, die absolute Abkehr von Marx.«
»Mit diesem Gefühl stand er nicht allein.«
»Nein.« Neame stürzte sich darauf, suchte Gaddis’ Blick, wie ein Reisender, der im fremden Land ein teilnahmsvolles Ohr gefunden hatte. »Eddie bedauerte sein Engagement für die Sowjets zutiefst. Er war stolz auf ein paar Dinge, die er erreicht hatte, ein paar der Dinge, über die wir heute gesprochen haben« – er deutete auf die Blätter vor ihnen auf dem Tisch, und auf einmal bekamen die Notizen für Gaddis einen Sinn –, »aber er sah auch, welche Richtung Stalin einschlug, und ihm wurde klar, dass er auf das falsche Pferd gesetzt hatte.«
»Und warum hat er weitergemacht?«, fragte Gaddis. »Warum hat er während seiner ganzen Karriere weiter für die Sowjets gearbeitet?«
»Hat er nicht.«
»Wie bitte?«
»Eddie war ein Doppelagent, Sam. Das wollte ich Ihnen damit sagen. ATTILA war der größte Coup, den der SIS nach dem Krieg landete, und nur ganz wenige Menschen auf dieser Erde wissen darüber Bescheid. Dreißig Jahre hat Eddie Crane Moskau davon überzeugen können, dass er für den KGB tätig war, und während der ganzen Zeit hat er heimlich für uns gearbeitet. Ist das nicht fantastisch? Es war eine Täuschung von epischen Ausmaßen. Und ich will, dass die Welt davon erfährt.«