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Allem Anschein nach wollte Thomas Neame nicht gefunden werden. Er stand nicht im Telefonbuch. Im Internet war er auch nicht aufzufinden. Charlotte hatte Gaddis nichts über sein Leben erzählt, schon gar nichts über seinen Aufenthaltsort. Er wusste nur, dass Neame Cranes ältester Freund war – sein Beichtvater, wie Charlotte ihn genannt hatte – und sich bereit erklärt hatte, alle Einzelheiten über Cranes Zusammenarbeit mit dem KGB zu enthüllen. Er war »einundneunzig, sah aber aus wie Mitte siebzig« und war immer noch gesund und fit. Wie hatte Charlotte es ausgedrückt? »Hart und zäh, ein Schotte der Kriegsgeneration, so einer raucht vierzig Zigaretten am Tag und klettert vorm Frühstück mal kurz auf den Ben Nevis.«

Warum ausgerechnet auf den Ben Nevis? War das ein Hinweis? Lebte Neame in Schottland? Dieser Gedanke war Gaddis eines Nachts im Bett gekommen und so schnell wieder verschwunden wie ein Auto, das draußen auf der Straße vorbeirauscht. Was sollte er jetzt tun? Mit dem Nachtzug nach Fort William fahren und dort an sämtliche Türen klopfen? Das wäre das nächste sinnlose Unterfangen.

Während der nächsten Tage durchsuchte er die Unterlagen, die er von Holly Levette bekommen hatte, doch nirgends war Neames Name erwähnt. Eine nutzlose Suche mündete in die nächste, er kam sich vor wie in einer Warteschlange, in der seit Stunden nichts voranging. Gaddis hatte keinerlei Kontakte innerhalb der Polizei, keinen Freund bei der Finanzbehörde und schon gar kein Geld übrig, um einen professionellen Ermittler zu engagieren, der in Neames Vergangenheit wühlte. Er wusste nicht einmal, wo Neame zur Schule gegangen war. Und im Hinterkopf hatte er immer den beschämenden Gedanken, Calvin Somers dreitausend Pfund für etwas gezahlt zu haben, das letztlich nicht mehr wert war als eine nette Anekdote für eine Dinner-Party.

Zum Glück war Gaddis von Natur aus weder Defätist noch Melancholiker. Vier Tage nachdem er sich mit Somers in dem Pub getroffen hatte, beschloss er, nicht länger nach Neame zu suchen, sondern sich direkt auf Edward Crane zu konzentrieren. Faktisch bedeutete es, dass er nach einem Mann suchte, den es nicht mehr gab, aber das störte ihn nicht. Historiker sind spezialisiert auf Tote. Sam Gaddis hatte seine gesamte bisherige Karriere damit verbracht, Menschen, denen er nie begegnet war, Gesichter, die er nie gesehen hatte, Namen, über deren Träger er nur etwas in Büchern gelesen hatte, zum Leben zu erwecken. Er war ein Experte der Rekonstruktion. Er wusste, wie man die Fragmente der Existenz eines Fremden zusammenfügte, wie man sich durch ein Archiv arbeitete, verstand es, den Strom der Geschichte auszusieben, um die Goldstücke kostbarer Informationen ans Licht zu bringen.

Zuerst stattete er dem Zeitungsarchiv der British Library in Colindale einen Besuch ab, fand dort den getürkten Nachruf auf Crane und ließ sich von einem Mikrofilm der Times aus dem Jahre 1992 eine Kopie anfertigen. Der Artikel war nicht von einem Foto begleitet, aber der Inhalt entsprach in etwa dem, was Somers ihm am Ufer des Kanals geschildert hatte: dass Crane am Marlborough College im Internat gewesen war und anschließend am Trinity College studiert hatte; dass er vom Foreign Office in einem Zeitraum von zwanzig Jahren nach Russland, Argentinien und Deutschland geschickt worden war; dass er weder geheiratet noch irgendwelche Kinder in die Welt gesetzt hatte. Weitere biografische Informationen waren dünn gesät, aber Gaddis war überzeugt, dass sich manches davon später als nützlich erweisen würde. Der Nachruf stellte fest, dass Crane von 1938 an einen Posten in Griechenland hatte und nach dem Krieg mehrere Jahre in Italien verbrachte. Seine Mutter war zweimal verheiratet und eine Society-Schönheit gewesen, deren erster Ehemann – Cranes Vater, ein Regierungsbeamter des mittleren Dienstes in Indien – später für kurze Zeit wegen Unterschlagung im Gefängnis gesessen hatte. In den 1960er-Jahren war Crane in Argentinien einem britischen Diplomaten unterstellt worden, dem der Verfasser des Nachrufs – vielleicht im Überschwang dichterischer Freiheit – eine Affäre mit Eva Perón unterstellte. Nach dem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt hatte Crane den Aufsichtsräten mehrerer führender Unternehmen angehört, darunter einer britischen Ölgesellschaft und einer deutschen Investmentbank mit Niederlassung in Berlin.

Zwei Tage später unternahm Gaddis die kurze Reise von seinem Haus in Shepherd’s Bush über Chiswick zu den National Archives, einem Gebäudekomplex in Kew, in dem offizielle Regierungsakten aufbewahrt wurden. Am Recherchen-Schalter gab er eine förmliche Anfrage für Cranes Kriegsakte ab und ließ Cranes Namen durch die digitalisierte Datenbank laufen. Die Suche förderte über fünfhundert Ergebnisse zutage, die meisten dieser Edward Cranes hatten Geburtsdaten im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Gaddis versuchte es mit »Thomas« und »Tommy« und »Tom« Neame, aber er fand nur die Ordensurkunde eines Thomas Neame, von 1914 bis 1920 gemeiner Soldat im Welsh Regiment and Army Service Corps. Die falsche Generation. Die nächste Sackgasse.

Am Ende hatte er Glück. Eine Angestellte des Nationalarchivs verwies ihn auf die Personallisten des Foreign Office, die aus mehreren Regalen zerlesener, in burgunderrotes Leder gebundener Bücher bestanden, in denen wesentliche biografische Daten sämtlicher Mitarbeiter des Außenministeriums gesammelt waren. Er nahm den Band mit der Jahreszahl 1947 zur Hand und durchsuchte das Verzeichnis nach dem Namen »Crane«. Was er dort fand, riss ihn vor Erleichterung beinahe aus dem Sessel. Endlich hatte er einen konkreten Beweis für ATTILAS Existenz gefunden.

CRANE, EDWARD ANTHONY

Geboren 10. Dezember 1916. Ausbildung: Marlborough College und Trinity Hall, Cambridge. Am 11. Oktober 1937 Ernennung zum Dritten Sekretär des Foreign Office, am 17. Oktober 1937 Eintritt in den Auswärtigen Dienst. 21. August 1938 Versetzung nach Athen. 5. Juni 1940 Versetzung ins Foreign Office. 15. November 1942 Ernennung zum Zweiten Sekretär. 2. November 1944 Versetzung nach Paris. 15. Dezember 1944 Ernennung zum stellvertretenden Ersten Sekretär.

Er ging zurück zum Regal und zog die Liste für das Jahr 1965 heraus, den letzten Band vor der Digitalisierung der Akten des Foreign Office. Bis dahin hatte Crane auf der ganzen Welt diplomatischen Dienst geleistet, wie in dem Nachruf beschrieben, aber nie als Botschafter. Warum nicht? Hatte es etwas damit zu tun, dass Crane nie verheiratet war? War er homosexuell und deshalb – nach damaligem Dafürhalten – als unzuverlässig angesehen worden? Oder hatte die Regierung, nach den Erfahrungen mit Burgess und Maclean, angesichts seiner Verbindungen zur Sowjetunion Misstrauen geschöpft?

Von Charlotte hatte Gaddis erfahren, dass Crane mit dem Ring der Fünf persönlich bekannt gewesen war, also zog er den Band für das Jahr 1953 heraus. Als er fand, wonach er suchte, fühlte er diese ganz besondere Erregung, nach der er seit mehr als zwanzig Jahren süchtig war: diesen Nervenkitzel, wenn Geschichte unter den Fingerspitzen zum Leben erwacht.

BURGESS, GUY FRANCIS DE MONCY

Geboren 16. April 1911. Ausbildung: Eton College und Trinity Hall, Cambridge. 1. Oktober 1947 Ernennungsurkunde für den Diplomatischen Dienst (höhere Laufbahn) und mit Wirkung vom 1. Januar 1947 Ernennung zum Officer, Stufe 4. 7. August 1950 Versetzung nach Washington als Zweiter Sekretär. 1. Juni 1951 Suspendierung vom Dienst. 1. Juni 1952 Rücknahme der Ernennung mit Wirkung vom 1. Juni 1951.

Donald Maclean war im selben Band verzeichnet.

MACLEAN, DONALD DUART

Geboren 25. Mai, 1913. Ausbildung: Gresham’s School, Holt und Trinity Hall, Cambridge. Heirat mit Melinda Marling 1940. Am 11. Oktober 1935 Ernennung zum Dritten Sekretär im Foreign Office oder Diplomatischen Dienst. 15. Oktober 1935 Berufung ins Foreign Office. Am 24. September 1938 Versetzung nach Paris. 18. Juni 1940 Versetzung ins Foreign Office.

Dieser letzte Eintrag erregte Gaddis’ Aufmerksamkeit. Auch Crane war im Juni 1940 nach London zurückberufen worden. Hatte er an der Seite Macleans gearbeitet? Waren die beiden Männer Freunde gewesen?

In dem Eintrag hieß es weiter:

15. Oktober 1940 Ernennung zum Zweiten Sekretär, am 2. Mai 1944 Versetzung nach Washington. 27. Dezember 1944 Ernennung zum stellvertretenden Ersten Sekretär. 25. Oktober 1948 Ernennung zum Officer, Stufe 6. 7. November 1948 Berufung zum diplomatischen Rechtsberater in Kairo. 6. November 1950 Berufung ins Foreign Office und Ernennung zum Leiter der Amerikanischen Abtlg. 1. Juni 1951 Suspendierung vom Dienst. Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 1. Juni 1952, mit Wirkung vom 1. Juni 1951.

Dieselben Ausdrücke: »Beendigung des Arbeitsverhältnisses«, »Suspendierung vom Dienst«. 1951 war das Jahr von Burgess’ und Macleans Flucht aus England. Zwei der am hellsten strahlenden Sterne im Dienst Ihrer Majestät verkrümeln sich an einem kühlen Frühlingsmorgen auf einer Kanalfähre Richtung Moskau, weil sie – von ihren Mitverschwörern Kim Philby und Anthony Blunt – den Tipp bekommen haben, dass sie vom MI5 als Agenten des KGB enttarnt wurden.

Jetzt suchte Gaddis unter dem Buchstaben »P« im Verzeichnis des Dienstes nach Philby. Fehlanzeige. Er griff zum Jahresband 1942 und zog die nächste Niete. Gaddis überprüfte den Band für das Jahr 1960. Auch hier keine Erwähnung Philbys. Warum war er nicht in das Verzeichnis der Mitarbeiter des Foreign Office aufgenommen worden? Erfreuten sich MI6-Mitarbeiter der Anonymität? Gaddis sah in jedem einzelnen Jahresband zwischen 1940 und 1959 nach und fand nirgendwo einen Hinweis auf Philby. Stattdessen stolperte er über Absonderlichkeiten: Zwischen 1946 und 1952, dem Zeitraum, in dem der Nachruf ihn nach Italien verpflanzte, fanden sich keine Einträge für Edward Crane. War er während dieser Zeit Mitarbeiter des MI6 gewesen? Oder hatte er nach dem Krieg eine ausgedehnte Auszeit genommen? Es gab viele Fragen, zu viele für Gaddis’ Geschmack. Eine Story dieser Größenordnung zu recherchieren, Charlottes Vorhaben gerecht zu werden, würde Jahre, nicht Monate dauern. Manch ein Historiker hatte sein ganzes Berufsleben der Suche nach dem sechsten Mann gewidmet, keiner von ihnen mit Erfolg. Wenn sich doch bloß ein noch lebender Mitarbeiter des Foreign Office auftreiben ließe, der Crane persönlich gekannt hatte. Es musste doch Kollegen geben, die derselben Delegation angehört oder an derselben Konferenz teilgenommen hatten wie Crane.

Gegen Mittag ging er nach unten, aß in der Cafeteria des Nationalarchivs ein fades Sandwich und nahm an einem der Internet-Terminals Platz. Eine Richtung der Recherche stand ihm noch offen: ein Kollege am UCL hatte ihm den Tipp gegeben, dass manche älteren Diplomaten ihre Unterlagen und persönlichen Papiere im Archiv des Churchill College in Cambridge deponieren ließen. Gaddis könnte dort eine Querverbindung zwischen Crane und einem ehemaligen britischen Botschafter in Argentinien oder vielleicht einem Ersten Botschaftssekretär in Berlin finden. Vor den Fenstern kreischten die Möwen, als er bei Google »Churchill College, Cambridge« eingab. Er holte den Janus Webserver in Cambridge auf den Bildschirm und gab in die Suchleiste »Edward Crane« ein. Drei Katalogeinträge erschienen, keiner enthielt irgendeinen spezifischen Verweis auf Crane. Als er den Namen »Thomas Neame« eingab, lieferte der Server kein einziges Ergebnis.

Sein Ausflug war eine herbe Enttäuschung gewesen. Er ging hinaus zum Parkplatz, und als er im Handschuhfach seines Autos ein altes Päckchen Camel fand, gab er seinen jüngsten Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, wieder auf. Die Zigarette trug wenig zur Aufhellung seines Gemüts bei, und er fuhr im leisen herbstlichen Dauerregen zurück nach Shepherd’s Bush. Es schien, als ob jeglicher Hinweis auf Crane oder Neame systematisch aus den historischen Archiven gelöscht worden wäre. Anders ließ sich kaum erklären, warum sie nicht ausfindig zu machen waren. Noch nie war er im ersten Stadium einer Recherche zu einem neuen Projekt so langsam vorangekommen. Im Stau auf der M4 fasste Gaddis den Entschluss, nach Moskau zu fliegen und sich Crane von der russischen Seite aus zu nähern. Sollte ATTILA ein wertvoller KGB-Spion gewesen sein, wie Charlotte behauptet hatte, dann musste es irgendwo tief in den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes eine Akte über Edward Crane geben. Ob man gerade ihm, nach seinem jüngsten, kritischen Buch über das Platow-Regime, Zugang zu den Archiven gewähren würde, war allerdings eine ganz andere Frage.