22

Auf dem Parkplatz lief er Josephine Warner in die Arme. Sie hatte gerade einen schwarzen Renault mit Fließheck aufgeschlossen und stellte eine Tragetasche von Waitrose auf den Rücksitz. Wenn Gaddis ihr nicht über eine Reihe geparkter Autos hinweg zugewinkt und »Hi!« gerufen hätte, wäre er ihr wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Er warf eine halbgerauchte Zigarette fort – der nächste abgebrochene Versuch, das Laster zu beenden – und trat sie auf dem Boden aus.

»Hallo. Doktor Gaddis, richtig?«

»Richtig«, sagte er. Er ging auf sie zu, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie haben schon Feierabend?«

Insgeheim hoffte er, dass es so war. Da Peter sich nicht meldete, hatte er den Gedanken bereits aufgegeben, nach Winchester weiterzufahren. Er war frei, ruhelos, und er hätte sie gerne zum Essen eingeladen.

»Feierabend nicht gerade«, antwortete sie. »Ich muss schnell nach Richmond, einen Kollegen abholen. Ich bin hier die Neue, die Laufereien bleiben an mir hängen.«

Sie schaute ihn an, eine stumme Taxierung, und Gaddis war sicher, ein herausforderndes Flackern in ihren Augen gesehen zu haben. Gleich fiel ihm Holly ein, und er fragte sich, wie zum Teufel er sich auf einen Parkplatzflirt mit einer Archivarin in Kew einlassen konnte. Dabei konnte doch nichts herauskommen.

»Noch mal vielen Dank für das Testament«, sagte er und trat einen Schritt zurück.

»War es brauchbar?« Instinktiv hatte sie einen Schritt nach vorne getan, auf ihn zu. Ein plötzlicher Windstoß, heftig und herbstlich frisch. Warner hielt sich Haarsträhnen aus dem Gesicht, als sie sagte: »Arbeiten Sie an einem neuen Buch? Ich habe Ihre Bulgakow-Biografie gelesen.«

Damit hatte er nicht gerechnet. Am Vormittag war sie ihm völlig gleichgültig erschienen, hatte überhaupt nicht erkennen lassen, dass sie wusste, wer er war. »Allen Ernstes? Wieso das? Auf der Transsibirischen nichts Besseres zum Lesen dabeigehabt? Im Gefängnis Zeit totschlagen müssen?«

Sie lächelte, sagte, wie gut ihr das Buch gefallen habe, und Gaddis spürte schaudernd die entsetzliche Seichtheit weiblicher Schmeichelei. Wenn er ehrlich war, hatte er in dem Moment, als er sie hinter dem Tresen gesehen hatte, Lust bekommen, es bei ihr zu versuchen, so wie es Natasha und er während ihrer Ehe ständig bei anderen versucht hatten. Warum hatten sie das getan? Ihre Beziehung hatte davon irreparable Risse bekommen. Und doch hätte er nichts dagegen, es mit dieser Frau, die ihm völlig fremd war, wieder so zu machen, eine vielversprechende Geschichte mit Holly aufs Spiel zu setzen. Allerdings hätte eine Affäre ihn womöglich von Crane und Neame abgelenkt. Also: Finger weg. Das Buch war ungleich wichtiger. Was nicht bedeutete, dass er nicht mit ihr reden und abwarten durfte, wohin das Gespräch sie führte.

»Mein Freund damals in Oxford hat mich auf Der Meister und Margarita gestoßen«, sagte sie und kam hinter ihrem Renault hervor. Jetzt standen sie keinen Meter mehr voneinander entfernt. »Ich fürchte sogar, er hat große Teile Ihres Buches für seine Dissertation geklaut.«

»Das slawistische Institut in Oxford ist hervorragend«, erwiderte Gaddis, wobei ihre elegante Anspielung auf einen verflossenen Liebhaber ihm durchaus nicht entgangen war. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Ich bin noch ganz neu hier. Halbtagsstellung. Im Juni war ich mit der Promotion fertig.«

»Und die abrupte Trennung von Archiven und Bibliothekaren war nicht auszuhalten.«

»So ungefähr.«

Der folgende Austausch war so belanglos wie vorhersagbar. Gaddis kündigte an, zurück nach Shepherd’s Bush zu fahren, woraufhin Josephine Warner ihm antwortete, sie wohne »gleich um die Ecke« in Chiswick. Gaddis schlug vor, sich abends mal auf einen Drink zu treffen, worauf Warner freudig einging und ihm nach einem weiteren kurzen Flackern im Blick ihre Handynummer im Tausch gegen seine anbot. Es war ein Anfang, ein erster Schritt auf dem Weg zu potentieller Verführung, und beide Seiten spielten ihre Rollen mit routinierter Perfektion.

Gaddis ließ sich achtundvierzig Stunden Zeit, bis er sich telefonisch mit ihr verabredete. Josephine schien erfreut, von ihm zu hören, und war angetan von der Idee eines gemeinsamen Abendessens. Er schlug ein Restaurant in Brackenbury Village vor, und drei Abende später saßen sie sich im Kerzenschein an einem Tisch gegenüber und nahmen eine Flasche Givry in Angriff. Er war verwundert, wie offen ihre Unterhaltung beinahe vom ersten Augenblick an war.

»Sagen wir mal so: Mein Liebesleben ist ein bisschen kompliziert«, gestand ihm Josephine, noch bevor das Essen bestellt war, und Gaddis fühlte sich aufgefordert ihr mitzuteilen, dass auch er sich »seit ungefähr einem Monat« mit jemandem traf. Sie wussten beide, dass es die Phase des gegenseitigen Abklopfens war. Gaddis gehörte nicht zu denen, die platonische Beziehungen zwischen Mann und Frau für ausgeschlossen hielten, aber er wusste aus Erfahrung, dass er und Josephine sich hier nicht zusammengefunden hatten, um über historische Archive zu plaudern. Sie hörte den ganzen Abend nicht auf, diskret mit ihm zu flirten, und er revanchierte sich, indem er sich größte Mühe gab, ihr ein weiteres Date schmackhaft zu machen. Im Laufe des Abendessens stellte sich bei ihm immer mehr das Gefühl ein, dass diese Frau wahnsinnig attraktiv war: geistreich, witzig und klug, bewandert in fast jedem Thema von Cricket bis Tolstoi, Seinfeld bis Graham Greene. Dazu sah sie umwerfend gut aus, und das ohne offensichtliche Eitelkeit oder Arroganz. Von Zeit zu Zeit, als spürte sie seine wachsende Begeisterung, fand Josephine Gelegenheit, Gaddis daran zu erinnern, dass im Hintergrund ein mehr oder weniger fester Partner wartete, aber solche Mahnungen überzeugten ihn nur noch mehr davon, dass sie eigentlich auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Beziehung war.

»Er hat mich schon zweimal gefragt, ob ich ihn heiraten will«, sagte sie, während sie eine Bandnudel um ihre Gabel wickelte.

»Und Sie geben ihm jedes Mal aufs Neue einen Korb?«

»Ich bitte jedes Mal aufs Neue um etwas mehr Zeit.«

Sie wollte von ihm wissen, woran seine eigene Ehe gescheitert sei, ein Thema, das er mit Holly nun schon seit geraumer Zeit aussparte, aber Josephines Offenheit, ihre vertrauensvolle Art ermutigten ihn, ihr Auskunft zu erteilen.

»Wir waren beide nicht für diese Ehe geschaffen«, sagte er. »Sie hat uns eingesperrt, uns Einschränkungen auferlegt, die wir nicht erfüllen wollten.«

»Sie waren untreu?«

»Beide«, sagte er und war froh, als Josephine ihr Interesse auf Min richtete.

»Ihre Tochter lebt in Barcelona, sagten Sie?«

»Ja. Bei ihrer Mutter. Und einem Freund, den ich nach Kräften …«

»Quäle?«

Gaddis lächelte. »Toleriere.«

»Aber das ist ziemlich kompliziert?«

»Ab einem bestimmten Punkt wird alles kompliziert, oder?«

Sie bestellten noch eine Flasche Wein, und Gaddis erzählte ihr, wie schlimm es für ihn war, die entscheidenden Jahre in Mins Entwicklung zu verpassen. Er erzählte von seinem Vorsatz, »mindestens einmal im Monat« nach Spanien zu fliegen, weil Min noch zu jung sei, um ohne Begleitung nach London zu reisen. Er verriet, dass er hin und wieder etwas von ihr fand – eins ihrer Spielzeuge hinter der Couch oder einen einzelnen rosa Socken am Boden des Wäschekorbs. Er hätte auch hinzufügen können, dass es Nächte gegeben hatte, in denen er sich auf Mins Bett zusammengerollt und in ihr Kopfkissen geschluchzt hatte, aber solche Enthüllungen sparte man sich besser für das fünfte oder sechste Rendezvous auf; weshalb sollte er das Bild des starken, netten Mannes, das er zu entwerfen versuchte, gleich wieder demontieren?

Als der Nachtisch kam, redeten sie bereits über seine Recherche im Nationalarchiv. Es war – aus Notwendigkeit – das einzige Mal an diesem Abend, dass Gaddis sie rundheraus anlog, vorgab, eine Vorlesung über die Aktivitäten des NKWD während des Zweiten Weltkriegs vorzubereiten. Die Wahrheit über Edward Crane war ein Geheimnis, das er nur sich selber anvertrauen durfte und ganz gewiss nicht einer Josephine Warner. Stattdessen erzählte er ihr von der Möglichkeit, dass seine Recherchen ihn nach Berlin führen würden.

»Dort lebt jemand, mit dem ich gerne reden würde.«

»Jemand, der während des Krieges für die Russen gearbeitet hat?«

»Ja.«

Josephine strich die Serviette auf ihrem Schoß glatt.

»Meine Schwester lebt in Berlin.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Vor zwei Jahren ist sie dort hingezogen. Ich hab sie immer noch nicht besucht.«

Mit einer Mischung aus Erstaunen und Freude hob Gaddis den Blick von seinem Teller – Josephine bot ihm die Gelegenheit, sie zu einer Deutschlandreise einzuladen.

»Ich könnte bei ihr vorbeischauen, wenn ich hinfliege«, schlug er vor.

»Sie ist eine Plage«, erwiderte Josephine, und Gaddis war sicher, leise Eifersucht in ihrem Blick gelesen zu haben.

Aber damit war der Höhepunkt der koketten Plänkeleien bereits erreicht. Um elf hatte Gaddis die Rechnung bezahlt, und als sie die Goldhawk Road entlanggingen, hatte Josephines Verhalten sich spürbar verändert. Innerhalb von Sekunden hatte sie ein Taxi herbeigewunken, vielleicht eingedenk der Tatsache, dass sie beide ein bisschen betrunken waren, sich zueinander hingezogen fühlten und der Versuchung womöglich nicht widerstehen könnten.

»Es war ein netter Abend«, sagte sie und tauchte hinab auf den Rücksitz, nachdem sie Gaddis einen flüchtigen Kuss auf die Wange gehaucht hatte.

»Fand ich auch«, antwortete er, erstaunt darüber, wie abrupt Josephine den romantischen Optionen des Abends eine Absage erteilt hatte. Er schloss daraus, dass sie es vorzog, in das »komplizierte Liebesleben« zurückzukehren, von dem sie zu Beginn des Abendessens gesprochen hatte.

»Ich muss um fünf aus dem Bett«, erklärte sie und winkte kurz zum Rückfenster des Taxis hinaus, das sich bereits nach Chiswick in Bewegung setzte. Auch solche Dates hatte Gaddis schon erlebt, und deshalb war er sich nicht einmal sicher, dass er die Frau je wiedersehen würde. Sie hatte versprochen, in Kew eine Fotografie von Edward Crane »auszugraben«, aber an diesem Abend hatten sie eine berufliche und persönliche Grenze überschritten, und er konnte sich vorstellen, dass sie, um unnötige Komplikationen zu vermeiden, eine Kollegin mit der Aufgabe betrauen würde. Vielleicht war er zu pessimistisch, aber etwas in Josephines Verhalten nach ihrem Aufbruch aus dem Restaurant schien die Tür zu einer Affäre zugestoßen zu haben. Während des Essens war sie zweifellos verführerisch gewesen, hatte heimliche Hoffnungen auf weitere Begegnungen genährt – Kino, Essen, sogar Berlin –, aber kaum war die Rechnung bezahlt, hatte diese Verspieltheit sich in Luft aufgelöst. Was sehr schade war, weil er sie mochte. Auf seinem Heimweg durch ein Labyrinth trübe beleuchteter Wohnstraßen spürte er, dass ihm schon lange keine Frau mehr so unter die Haut gegangen war wie Josephine Warner.