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Jetzt musste Gaddis zocken.
Hatte der russische Geheimdienst ihn mit Calvin Somers in Verbindung gebracht? Stand er als Nächster auf der Abschussliste? Wenn Moskau Somers’ Schreibtisch im Krankenhaus verwanzt, seine Telefongespräche mitgehört, seine E-Mail-Korrespondenz analysiert hatte, konnte er davon ausgehen, dass dem so war. Wenn der FSB oder der GCHQ seine eigenen Internet-Aktivitäten überwachte, mussten die zahllosen Suchen nach Informationen über Edward Crane bemerkt worden sein und zu Reaktionen geführt haben.
Weniger Grund gab es zu der Befürchtung, dass der britische oder russische Geheimdienst ihn mit Charlottes Recherchen in Verbindung brachte. Über das Cambridge-Buch hatten sie beim Abendessen in Hampstead diskutiert, nicht am Telefon und nicht via E-Mail. Ähnlich verhielt es sich mit Ludmilla Tretiak: Gaddis hatte vor seinem Besuch darauf geachtet, keine Spuren online oder im Mobilfunknetz zu hinterlassen. Wenn der FSB ihn nicht bewusst nach Moskau gelockt hatte, um ihn dort observieren zu können, dürfte das Treffen mit ihr unbemerkt geblieben sein.
Noch andere Faktoren sprachen sogar zu seinen Gunsten. Somers war vor mehr als zwei Wochen ermordet worden, Charlotte seit über einem Monat tot. Wenn die Russen es auf ihn abgesehen hätten, müsste er eigentlich längst eliminiert worden sein. Solange er wachsam blieb, keine weiteren Hinweise auf Crane oder ATTILA auf seinen Computern oder Telefonen hinterließ, war er in Sicherheit. Aber war es klug, in sein Haus zurückzukehren? Und war womöglich sogar Min in Barcelona in Gefahr? Dieser Gedanke, mehr noch als die Sorge um seine eigene Sicherheit, gab Gaddis das Gefühl absoluter Machtlosigkeit. Wie sollte er sich dagegen wehren? Wenn sie Min oder Natasha zu Leibe rücken wollten, konnten sie das jederzeit tun. Wenn sie ihn zum Schweigen bringen wollten, konnten sie das tun. Da war es völlig gleichgültig, ob er in ein Hotel zog, bei Holly übernachtete oder nach Karatschi auswanderte. Früher oder später würde der FSB ihn finden. Außerdem dachte er nicht daran, sich von einer Bande Ganoven aus seinem Haus vertreiben zu lassen; das wäre schlicht und einfach feige. Da blieb er lieber und stellte sich ihnen. Die ganze Sache aufgeben ging auf gar keinen Fall. In sein altes Leben konnte er ohnehin nicht zurück, solange die Männer, die Charlotte und Somers getötet hatten, frei herumliefen. Was sollte Min von ihm halten, wenn er das tat? Was sollte sie von einem Vater halten, der Reißaus nahm?
Es mussten noch ein paar Stunden vergehen, ehe Gaddis sich den Gedanken erlaubte, dass er möglicherweise überreagierte. Immerhin war es nach wie vor möglich, dass Charlotte eines natürlichen Todes gestorben war. Und was Somers betraf: In London wurden laufend Menschen erstochen. Wer wollte schon mit Sicherheit behaupten, dass Calvin nicht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war? Zweifellos war es ein beunruhigender Zufall, dass sie beide innerhalb so kurzer Zeit ums Leben gekommen waren, aber außer der dunklen Ahnung, dass die russische Regierung alle mit ATTILA in Verbindung stehenden Personen aus dem Weg räumen ließ, hatte Gaddis keine Beweise für ein gezieltes Vorgehen.
Dann geschah etwas, das seine Zuversicht weiter stärkte. Als er aus einem Internetcafé in der Uxbridge Road einen Berlinflug buchte, musste Gaddis zu seinem Schrecken feststellen, dass Ludmilla Tretiak die E-Mail-Adresse kontaktiert hatte, die er ihr in Moskau gegeben hatte. Die Nachricht war in seinem Spam-Ordner abgelegt, vielleicht weil sie auf Russisch geschrieben war.
Lieber Dr. Gaddis,
ich schreibe Ihnen diese Nachricht vom Computer einer Freundin und unter ihrer E-Mailadresse in der Hoffnung, dass sie nicht entdeckt wird. Es war schön, mit Ihnen zu reden. Ich habe das Gefühl, mich dafür bedanken zu müssen, dass Sie mir neue Informationen im Zusammenhang mit dem Tod meines Mannes haben zukommen lassen.
Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen. Gut möglich, dass Sie schon wissen, dass Robert Wilkinson den MI6-Stützpunkt in Berlin geleitet hat, während mein Mann in Ostdeutschland tätig war. Fjodor kannte den Mann auch unter dem Pseudonym Dominic Ulvert. Ich weiß nicht, welchen Nutzen diese Information für Sie hat, vielleicht gar keinen. Aber Sie fragten mich nach Personen, die Edward Crane in Berlin noch gekannt haben könnte, und ich nehme einmal an, dass er mit dem ranghöchsten britischen Geheimdienstler, der zu der Zeit in Berlin arbeitete, Kontakt gehabt hat.
Im Moment fällt mir nichts ein, was Ihnen noch von Nutzen sein könnte. Aber ich habe in Moskau erleben dürfen, mit welchem Engagement Sie an der Lösung dieses Rätsels arbeiten, und Ihre Begeisterung hat mich nicht kaltgelassen.
Natürlich konnte das eine Falle sein, ein Versuch des FSB, ihn zu einem Treffen mit einem nicht existierenden früheren SIS-Offizier zu locken. Aber der etwas atemlose, verträumte Ton der E-Mail klang nach Ludmilla Tretiak und gab Anlass zur Hoffnung, dass ihr nichts zugestoßen war.
Er schaute wieder auf den Bildschirm. In seiner Hosentasche fand er einen losen Papierfetzen, notierte sich die Namen »Robert Wilkinson« und »Dominic Ulvert« und dachte darüber nach, ob sie ihm schon mal irgendwo untergekommen waren, in Charlottes Akten oder den Kartons, die er von Holly bekommen hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste, dass es riskant war, Tretiak zu trauen, und dass sein Optimismus in Zeiten wie diesen Stärke und Schwäche zugleich war, aber auf gar keinen Fall durfte er einfach ignorieren, was sie ihm mitgeteilt hatte. Die Information schrie danach, recherchiert zu werden. Zumindest konnte er Josephine Warner bitten, die beiden Namen durch das Archiv des Foreign Office laufen zu lassen. Schaden konnte es ja nicht.
Eine Stunde später rief Gaddis sie aus einer Telefonzelle in der Uxbridge Road an.
»Josephine?«
»Sam! Gerade habe ich an Sie gedacht.«
»Nur Gutes, will ich hoffen. Bei euch in Kew geht alles seinen Gang?«
Sie tauschten ein paar Artigkeiten aus, aber Gaddis stand der Sinn nicht nach Smalltalk. Er brauchte Josephines Hilfe bei der Auswertung der Informationen.
»Tun Sie mir einen Gefallen?«
»Sicher.«
»Wenn Sie wieder im Dienst sind, würden Sie dann bitte nachschauen, ob es Akten über einen Diplomaten namens Robert Wilkinson gibt? Und wenn da nichts kommt, versuchen Sie es mit Dominic Ulvert. Alles, was Sie über die beiden finden können. Briefe, Protokolle von Sitzungen oder Konferenzen, an denen sie teilgenommen haben. Alles.«
Es war erst das zweite Mal, dass sie sich sprachen seit dem Abendessen in Brackenbury Village, und Gaddis war sich darüber im Klaren, dass sein Auftreten direkt und geschäftsmäßig war. Zu seiner Überraschung schlug Josephine ein zweites Treffen vor.
»Ich kann nachsehen«, sagte sie. »Überhaupt würde ich mich gerne für die Einladung revanchieren. Diesmal bin ich dran. Dann bringe ich Kopien von allem mit, was ich gefunden habe.«
»Das wäre wahnsinnig nett.«
Und auf einmal war es nicht mehr Josephines seltsame Zurückhaltung in der Goldhawk Road, an die Gaddis sich erinnerte, sondern ihr Gesicht im Kerzenschein, ihr verheißungsvoller Blick.
»Ich fürchte, am Wochenende habe ich keine Zeit«, sagte sie. »Nächste Woche wäre besser, falls es Ihnen möglich wäre.«
»Und? Was haben Sie vor am Wochenende?«
»Na ja, Ihretwegen habe ich endlich die Kurve gekriegt.«
»Meinetwegen?«
»Sie haben mir so ein schlechtes Gewissen wegen meiner Schwester gemacht, dass ich mich kurzerhand bei ihr eingeladen habe. Ich fliege morgen nach Berlin.«
Was für ein Zufall! »So etwas Verrücktes. Heute Nachmittag habe ich einen Flug nach Berlin gebucht. Wir werden zur selben Zeit dort sein.«
»Sie machen Witze!« Er meinte ehrliche Begeisterung aus ihrer Reaktion herauszuhören. Offenbar war ihr »komplizierter« Freund nicht zu der Reise eingeladen. »Dann müssen wir uns sehen, gemeinsam etwas unternehmen am Wochenende.«
»Das wäre genial.«
Gaddis nannte ihr seine Unterkunft – »das Novotel am Tiergarten« –, und sie fassten ein gemeinsames Abendessen am Samstagabend ins Auge.
Er konnte sein Glück kaum fassen.