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Alexander Grek beobachtete das Haus der Bergs seit drei Stunden. Um 18.45 Uhr hatte er Paul mit zwei vollgepackten Waitrose-Tragetaschen von der Arbeit heimkehren sehen. Um 19.12 Uhr, er rauchte gerade eine Zigarette, war Charlotte hinter einem Fenster im ersten Stock aufgetaucht, gerade aus der Badewanne oder unter der Dusche hervorgekommen, hatte einen Vorhang vor das Fenster gezogen, nachdem sie sich ein Handtuch um die Brust gewickelt hatte. Kurz nach acht hatte ein unbekannter Mann weißer Hautfarbe – Anfang vierzig, wirres Haar, zwei Flaschen Rotwein in der Hand – das Grundstück betreten. Greg vermutete, dass der Mann zum Abendessen eingeladen war.
Der unbekannte Mann verließ das Haus um 23.21 Uhr. Er war gut einen Meter achtzig groß, etwa achtzig Kilo schwer, trug ein Cordjackett und eine lederne Aktentasche an einem Riemen über der Schulter. Der Mann schüttelte Paul Berg im Hauseingang die Hand. Dann umarmte und küsste er Bergs Frau Charlotte. Grek hatte eine Kamera mit Teleobjektiv auf dem Beifahrersitz seines Autos liegen, aber es war unmöglich, ein Foto von dem Gesicht des Mannes zu machen, weil er rückwärts von der Haustür fortging, auf die Straße zu, während er noch mit seinen Gastgebern redete. Als die Zielperson den Bürgersteig erreicht hatte, entfernte sie sich in Richtung Hampstead High Street von Greks Auto.
Grek beschloss, sich die Beine zu vertreten. Er folgte dem Mann durch die Pilgrim’s Lane und sah, wie er vor einer Filiale der Buchladenkette Waterstone’s ein Taxi anhielt. Das Taxi fuhr Richtung Süden davon. Grek zündete sich eine Zigarette an und ging zurück zu seinem Fahrzeug. Auf halbem Weg erleichterte er sich, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, an einer Kastanie, zur Straße hin versteckt hinter einem mit einer Plane bedeckten Abfallcontainer.
Morde – zu dieser Einsicht war er vor langer Zeit gekommen – ließen sich in drei Kategorien einteilen. Sie waren politisch oder militärisch oder moralisch motiviert. Da Alexander Grek sich nicht mit konventionellen Moralvorstellungen befasste, war seine Arbeit entweder politischer oder militärischer, in den meisten Fällen aber defensiver Natur. So stand hinter dem heutigen Plan das lobenswerte Ziel, ernsten Konsequenzen für seine Regierung zuvorzukommen. Grek war kein Auftragskiller im herkömmlichen Sinn, man konnte ihn nicht mieten. Als junger Mann war er vom Geheimdienst seines Landes – gemeinhin als der FSB bekannt – ausgebildet worden, und nach seinem Ausstieg im Jahr 1996 hatte er ein kleines, äußerst erfolgreiches Sicherheitsunternehmen mit Niederlassungen in St. Petersburg und London geleitet. Unter solchen Bedingungen lernt ein Mann sehr viel über das Geschäft des Todes. Aber Grek sah sich selbst zuallererst als ein politisches Wesen. Die ATTILA-Recherchen bedrohten den Staat. Und die Bedrohung musste beseitigt werden. Er tat also nichts anderes als seine patriotische Pflicht.
Er stellte eine halbleere Flasche Mineralwasser ab, zog sich eine wollene Mütze tief in die Stirn, stieg aus dem Wagen und überquerte die Straße. Die Pilgrim’s Lane war menschenleer. Grek ging hinüber auf die östliche Seite des Hauses und öffnete das einfache Schloss der Holztür, die in den Garten führte. Die Angeln hatte er in der Nacht zuvor geölt, damit die Tür sich lautlos öffnen ließ. Jetzt befand er sich in einem schmalen Durchgang, in dem ein Fahrrad, ein paar Gartengeräte und mehrere rostige Farbeimer herumstanden. Er schaute an der Hausfassade empor, um sicher zu sein, dass in den oberen Stockwerken kein Licht mehr brannte. Dann durchquerte er den Garten.
Tagsüber arbeitete Charlotte Berg in einem umgebauten Schuppen am südlichen Ende des Grundstücks. Sie benutzte einen Laptop-Computer, den sie nachts im Haus aufbewahrte. In dem Schuppen standen ein billiger Farbdrucker, ein altmodisches Telefon- und Faxgerät, ein paar Karteischränke, ein schäbiger Holzstuhl und ein, zwei gerahmte Fotografien von sentimentalem Wert. Sie hatte Paul davon überzeugen können, dass man den Schuppen besser unverschlossen ließ, weil ein Vorhängeschloss potentielle Einbrecher nur auf dumme Gedanken brachte. Grek öffnete die Schuppentür, trat ein und zog die Tür hinter sich zu.
Natriumfluorazetat ist ein feines weißes Pulver, ein Abfallprodukt von Pestiziden. Es ist geruchlos und billig, meistens benutzt man es als Rattengift, um die Ausbreitung der Nager in Kanalsystemen einzudämmen. Grek hatte zehn Milligramm in einer kleinen Ampulle mit Wasser aufgelöst, die er jetzt aus der Jackentasche zog. Die winzige Überwachungskamera, in einer Lampe über Bergs Schreibtisch installiert, hatte eine kleine, halbleer getrunkene Flasche Evian neben dem Drucker gezeigt. Grek nahm die Flasche zur Hand, ließ die farblose Flüssigkeit in das Wasser laufen und drehte den Verschluss wieder drauf. Es fiel genug Mondlicht in den Schuppen, um die Kamera ohne die Hilfe einer Taschenlampe wieder auszubauen. Dann entfernte er noch eine Abhöreinrichtung unter Charlotte Bergs Schreibtisch. Beide Geräte stopfte er zusammen mit dem Kabelgewirr in die Seitentaschen seines Jacketts. Als er damit fertig war, studierte er die Papiere auf dem Schreibtisch. Eine Telefonrechnung. Eine Rechnung über Maler- und Renovierungsarbeiten. Ein Exemplar des zweiten Bandes des Mitrochin Archivs. Nichts davon schien in direkter Beziehung zu Attila zu stehen.
Ein Geräusch von draußen. Etwa drei oder vier Meter vom Schuppen entfernt. Grek ging in die Knie. Er hörte das Geräusch zum zweiten Mal und erkannte, dass es von einem Tier stammte, einem Fuchs vielleicht. Der Hund der Bergs, Polly, durfte nachts nicht in den Garten und lag wahrscheinlich selig schlafend im Haus.
Grek richtete sich langsam auf. Er öffnete die Schuppentür und ging zurück durch den Garten. Er sah sich um, bevor er aus dem Schatten des Hauses trat, und überquerte die Pilgrim’s Lane, als er sicher sein konnte, dass niemand ihn beobachtete. Er öffnete die Wagentür, entlud den Inhalt der Taschen auf den Beifahrersitz und fuhr in Richtung Hampstead High Street davon.