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»Hören Sie gut zu.« Miklós hatte den Motor angelassen und lenkte den Wagen auf die Straße. »Wir fahren jetzt zum Flughafen. Sie sind auf den easyJet nach London Gatwick um 16.30 Uhr gebucht. Im Internet ist der Flug ohne Verspätung angekündigt. Wenn wir in Ferihegy sind, werden wir sehen, ob das stimmt. Sollte es zu Verspätungen kommen, setzen wir uns einfach in ein Café und unterhalten uns, okay? Den Pass haben Sie eingesteckt?«
Gaddis langte in die Manteltasche und zog den Reisepass heraus.
»Wie Sie auf der ersten Seite lesen können, heißen Sie heute einmal nicht Samuel Gaddis. Ihr Name für diese Reise ist Samuel Tait. Vorname und Geburtsdatum sind gleich geblieben. Damit alles echt aussieht, haben wir auch eine Kontaktadresse für Notfälle eingetragen.« Gaddis schaute auf die innere Rückseite. Dort standen mit blauem Kugelschreiber die Adresse und Telefonnummer einer gewissen Josephine Warner. »Wenn Sie Kontakt zu Tanya in London aufnehmen wollen, suchen Sie in der Namensliste auf dem Mobiltelefon nach ›Jo‹. Der Kontakt läuft über eine Vermittlung.«
»Was bin ich von Beruf?«, fragte Gaddis. Er wusste, dass er einen wachen, professionellen Eindruck machen, zur rechten Zeit die richtigen Fragen stellen musste, dabei war sein Kopf von Zweifeln zermürbt.
»Gut mitgedacht.« Miklós bog nach links auf eine einspurige Schnellstraße und drückte auf die Hupe, weil ein Mopedfahrer sie auf der Innenbahn geschnitten hatte. »Sie haben denselben Job. Sie lehren Geschichte am University College London. Das hat sich nicht geändert. Nichts hat sich geändert, außer Ihrer Adresse, Ihrem Nachnamen und der Nummer Ihres Reisepasses. Wir sind immer bemüht, die Dinge so einfach wie möglich zu lassen.«
Immer. Gaddis schaute zum Fenster hinaus auf einen gewöhnlichen Budapester Tag. Wer Miklós’ Dienste wohl sonst noch in Anspruch genommen hatte? Was für Menschen, unter welchen Umständen? Wie anders mochten die Dinge noch vor dreißig Jahren gewesen sein, als es in jedem Mietshaus Spitzel, an jeder Straßenecke Geheimpolizei gegeben hatte? Ihre Fahrt wurde an einer Verkehrsampel aufgehalten, und Gaddis erlebte einen ersten Anflug von Panik, als könnte er jeden Augenblick von Bewaffneten umringt oder an den Straßenrand gewunken werden. Aber der Moment ging vorüber. Er schob es auf Erschöpfung und Schlaflosigkeit und ermahnte sich, am Flughafen die Zigaretten nicht zu vergessen. Die Ampel sprang auf Grün, und Miklós fuhr los, vorbei am Gelände eines Gebrauchtwagenhändlers und sonnengebleichten Werbeplakaten für Samsung-Fernsehgeräte, Whisky oder Damenunterwäsche.
Der Flughafen tauchte schneller als erwartet vor ihnen auf, ein nagelneues Gebäude, erbaut in einem Stil, den Architekten bevorzugen, die Zeit und Geld sparen müssen: Die Abflughalle ähnelte einem aus vorgeformten Kunststoffbauteilen zusammengesetzten Flugzeughangar. Gaddis hatte ein Chaos wie auf Scheremetjewo erwartet, stattdessen kam er sich im Inneren des Terminals wie in einer Ikea-Filiale vor. Alles makellos sauber mit harten, terracottafarbenen Plastiksitzen und Wänden, deren strahlendes Weiß die Härte des Lichts im Terminal noch verstärkte. Miklós plauderte mit ihm, als sie auf den Abflugschalter zuschlenderten. »Sehr gut, ausgezeichnet«, sagte er, nachdem er entdeckt hatte, dass der easyJet ohne Verspätung angekündigt war. Nach kurzem Warten in der Schlange gab Gaddis seine Tasche auf, bekam den Bordpass und setzte sich mit Miklós in eine Filiale von Caffè Ritazza, wo sie sich Espressos bestellten. Immer wieder suchte sein Blick die Halle nach Hinweisen darauf ab, dass jemand ihn erkannt haben könnte. Aber ein Gefühl der Bedrohung wollte sich in einer solch nüchternen Umgebung beim besten Willen nicht einstellen. Miklós, nach wie vor bemüht, Gaddis zu beruhigen, nahm das Gespräch über russische Literatur wieder auf und ermutigte ihn zu einem längeren Vortrag über Tolstois Kindheit. Nachdem sie einen zweiten Espresso getrunken und zwei weitgehend geschmacklose Muffins verzehrt hatten, wurde es Zeit für das Boarding.
Die beiden Männer steuerten auf die Sicherheitskontrolle zu. Es standen keine Polizisten am Eingang, keine Spürhunde, auch keine breitschultrigen Russen, die schwarzweiße Überwachungsfotos von Dr. Samuel Gaddis herumzeigten. Es war ein normaler Nachmittag an einem normalen Billigflugterminal. Gaddis konnte sich nicht vorstellen, dass sich ihm noch irgendein Problem in den Weg stellen würde.
»Also«, sagte Miklós und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »wir sind alte Freunde, okay? Sie sind für ein paar Tage bei mir zu Besuch gewesen. Die meiste Zeit haben wir getrunken.«
Plötzlich kam die Angst zurück. Ihm wurde klar, warum Miklós ihn erst jetzt in die letzten Einzelheiten ihrer Tarnung einweihte. Offenbar hatte er befürchtet, dass Gaddis sie vergessen könnte.
»Wir haben uns vor fünf Jahren auf einem Junggesellenwochenende in Budapest kennengelernt.« Miklós rieb sich grinsend den Bart, als wären ihm ein paar schmutzige Details dazu eingefallen. »Und jetzt müssen Sie gehen, Mr. Tait. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«
Gaddis brachte ein Lächeln zustande, obwohl er vor Nervosität Sodbrennen hatte.
»Vielen Dank für alles«, sagte er und streckte dem Ungarn die Hand entgegen. Miklós hatte offensichtlich andere Vorstellungen von einer richtigen Verabschiedung und umarmte ihn herzlich.
»Nicht vergessen, wir sind Freunde«, knurrte er Gaddis ins Ohr. Er gab seinen Kopf wieder frei, hielt ihn aber noch bei den Armen. Sein Griff war kräftig. »Wenn Sie Probleme bekommen, rufen Sie die britische Botschaft an. Das Gesetz berechtigt Sie, sich durch Ihre Regierung vertreten zu lassen. Es kommt dann ein Botschaftsmitarbeiter zu Ihnen, jemand, der über Ihre Situation Bescheid weiß. Haben Sie verstanden?«
»Ich habe verstanden.« Er wischte sich die Schläfe, wo er eine Schweißperle gefühlt zu haben meinte, und versuchte seinem Gesicht einen beherzteren Ausdruck zu geben. »Sie waren so wahnsinnig nett zu mir. Ich wünschte, ich könnte Ihnen auf irgendeine Weise danken.«
»Sie müssen mir nicht danken«, erwiderte Miklós eilig, und Gaddis sah das verschmitzte Funkeln in seinen Augen, das ihm auf dem Bahnsteig in Keleti schon aufgefallen war. »Ich habe einen interessanten Tag mit Ihnen verbringen dürfen, Sam. Mit sehr anregenden Gesprächen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche und sichere Heimkehr.« Es entstand eine kleine Pause, in der Miklós sich auf einen bösen Witz vorbereitete. »Falls man Sie fragt, ob sich jemand an Ihrer Tasche zu schaffen gemacht haben könnte, wissen Sie, was Sie zu sagen haben.«
Gaddis lachte und machte sich auf den Weg zu den Kontrollschaltern. Er kam sich vor wie in einem Raum, in dem rundherum alle Bilder schief hingen. Wenn man den Pass nun als Fälschung erkannte? Was dann? Ob Miklós auf ihn wartete und ihm zu Hilfe kommen könnte? Ob er sich vergewisserte, dass der Engländer es in den Abflugbereich geschafft hatte? Oder war er jetzt ganz auf sich allein gestellt?
Er stand in der Schlange hinter einem jungen polnischen Ehepaar und einem Mann mit einem braunen Gitarrenkoffer. Er drehte sich um, wollte Miklós ein letztes Mal zuwinken.
Aber Miklós war nicht mehr da.