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Gaddis saß in seinem Arbeitszimmer am UCL, als er den Anruf bekam. Die Nummer erschien als »Unbekannt«.

»Sam? Hier ist Paul.«

»Du klingst schrecklich. Ist alles in Ordnung?«

»Es ist wegen Charlotte.« Seine Stimme hatte einen seltsam apologetischen Klang. Selbst in diesem Augenblick tiefsten Unglücks wahrte er eine Art Etikette. »Es tut mir leid, dass ich es bin, der es dir sagen muss. Sie hatte heute Morgen einen Herzinfarkt. Sie ist tot.«

Gaddis hatte im Lauf seines Lebens drei solcher Anrufe erhalten. Als er sechzehn war, war sein älterer Bruder bei einem Autounfall in Südamerika ums Leben gekommen. In Cambridge hatte sich ein guter Freund in der Nacht vor der Abschlussprüfung erhängt. Und kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag hatte er erfahren, dass Katarina Tichonow in ihrer Moskauer Wohnung ermordet worden war, Opfer eines von Sergej Platow stillschweigend gutgeheißenen Auftragsmordes. Er erinnerte sich sehr klar an jede dieser Gelegenheiten, an jeden Satz und an seine jeweilige Reaktion darauf. Diesmal sagte er: »Was? Ein Herzinfarkt?«, weil der Brechreiz des Schocks sich nur mit Worten ersticken ließ.

Paul antwortete nur: »Ja«, und weil es ja nur einer von Dutzenden Anrufen war, die er heute noch machen musste, fügte er beinahe augenblicklich hinzu: »Mehr gibt’s im Moment nicht zu sagen.«

»Ja, natürlich. Es tut mir so leid, Paul.«

»Auch für dich tut es mir leid.«

In einer langsamen Bewegung kauerte Gaddis sich hin, mit dem eigentümlichen, aber lebhaften Gefühl, dass seine Knochen sich dehnten, so als wolle der Körper sich selber entfliehen. Zuerst erschien die Nachricht ihm absurd, bis sich langsam eine bittere Logik herstellte. Charlotte hatte zu viel getrunken. Charlotte hatte zu stark geraucht. Charlottes Herz hatte versagt. Er stand auf und stützte sich auf seinen Schreibtisch. Seine Angst war, dass ein Kollege oder ein Student an die Bürotür klopfen und hereinkommen könnte. Also schloss er rasch die Tür von innen ab, und weil er frische Luft brauchte, ging er ans Fenster, kämpfte mit dem Griff, bevor es abrupt aufsprang und Baulärm in das kleine, vollgestellte Zimmer platzte. Und dann schämte Sam sich, weil er schon kurz nach Pauls Nachricht an Edward Crane dachte. Jetzt, wo Charlotte tot war, konnte er das Buch nicht mehr mit ihr schreiben. Er würde eine andere Geldquelle auftun, einen anderen Weg finden müssen, um seine Schulden zu bezahlen. Er fühlte sich leer.

Offenbar war Charlotte am Morgen in ihr Büro gegangen, hatte ein paar E-Mails geschrieben, online den Guardian gelesen. Irgendwann, so ungefähr zwischen zehn und elf, war sie zurück ins Haus gekommen, um sich einen Toast zu machen, und hatte den Papierkorb aus ihrem Schuppen mitgebracht. Paul hatte sie auf dem Küchenboden gefunden, die wimmernde Polly neben ihr, der Toast ausgeworfen. Auf eine Autopsie war verzichtet worden. Die Ärzte und der amtliche Leichenbeschauer waren sich einig gewesen, dass Charlotte einen massiven Herzinfarkt erlitten hatte, als Folge einer genetisch bedingten koronaren Schwäche gepaart mit ungesunder Lebensführung.

In den folgenden Tagen half Gaddis Paul bei der Vorbereitung des Begräbnisses. Er schrieb – auf Bitte der Familie – einen Nachruf, stellte die Agende auf und ließ sie in einem kleinen Laden in Belsize Park drucken. Sich über diese praktischen Dinge Gedanken machen zu müssen, lenkte ihn von seiner eigenen Trauer und Verzweiflung ab. Er spürte, dass er Paul, der sich in ein nahezu undurchdringliches Schweigen zurückgezogen hatte, eine Hilfe war. Tag und Nacht kamen ihm Erinnerungen in den Sinn aus den mehr als zwei Jahrzehnten, die er Charlotte gekannt hatte; die ersten Jahre mit ihr in Cambridge, ihre kurze Liebesgeschichte, danach die Spanne der acht Ehejahre mit Natasha und die anhaltende Spannung zwischen den beiden Frauen. Sam machte sich klar, dass es jetzt niemanden mehr in seinem Leben gab – und schon gar keine Frau –, mit dem ihn eine annähernd enge Freundschaft verband. In den letzten zehn Jahren hatten sich die Reihen seiner Freunde gelichtet; entweder waren sie von kleinen Kindern in Anspruch genommen, oder sie lebten mit Partnern zusammen, mit denen er nicht viel anzufangen wusste. So etwas gehörte zum Älterwerden dazu. Charlotte war eine der wenigen Langzeitfreundschaften gewesen, die ihm als Verbindung zu seinem früheren Leben geblieben waren.

Nach dem Begräbnis fand in ihrem Haus in Hampstead ein Leichenschmaus statt. Eine Woche war seit Charlottes Tod vergangen, und die Zeit hatte seinen Schmerz mittlerweile ein klein wenig betäubt. Er gab sich nach außen hin charmant und gefasst, als er in Vertretung Pauls die Rolle des Gastgebers übernehmen musste.

»Ich will einfach niemanden sehen, verstehst du?«, hatte Paul gesagt, der sich mehr oder weniger den ganzen Nachmittag über oben in seinem Zimmer verkroch. Gaddis wusste, dass nichts den Mann trösten konnte. Manche Menschen überlässt man besser ihrer Trauer. Paul hatte Polly bei sich, und ein Dutzend Fotografien von Charlotte lagen über das Bett verstreut. »Und du?«, fragte er Gaddis. »Stehst du das da unten alleine durch?«

»Klar doch«, sagte Gaddis und sah ihn aufmunternd an. »Alles okay.«

Um sechs waren nur noch eine gute Handvoll Leute übrig geblieben. Die Kollegen, die Charlotte aus ihrer Zeit bei der Times kannten, saßen längst wieder in ihren Redaktionen, um rechtzeitig die Manuskripte für die Morgenausgabe einzutippen. Verwandte aus allen Ecken und Winkeln hatten ihr die Ehre erwiesen und waren im Lauf des Nachmittags wieder verschwunden. Als Paul endlich nach unten kam, waren nur noch ein paar nahe Verwandte übrig.

Gaddis hatte Anfang des Jahres für kurze Zeit mit dem Rauchen aufgehört, aber seit ihrem Tod brachte er es wieder auf zwanzig am Tag. Das Leben, Charlotte war der beste Beweis, war unbestreitbar zu kurz. Bei dem Gedanken musste er lächeln; er zündete sich am hintersten Ende des Gartens eine Camel an, und ihm fiel auf, dass er zum ersten Mal seit beinahe zwölf Stunden allein war. Zwei Leute vom Partyservice – ein Mädchen und ein Junge, beide in Schwarz gekleidet – sammelten ein paar Gläser von den Fensterbänken. Polly lag ausgestreckt im Gras, schaute ihnen zu und kratzte sich mit der arthritisch gekrümmten Pfote hinterm Ohr.

Im Dämmer des frühen Abends öffnete Gaddis die Tür zu Charlottes Büro und stand in dem Raum, in dem seine Freundin noch am Vormittag ihres Todes gearbeitet hatte. Im Schuppen war alles noch so, wie sie es verlassen hatte. Ihr Laptop stand auf dem Schreibtisch, der Drucker hatte ein paar bedruckte Seiten ausgespuckt, ein Exemplar des Mitrochin Archivs lag aufgeschlagen auf dem Boden. Sam setzte sich an den Schreibtisch. Er schnüffelte in ihren Sachen, kein Zweifel, auch wenn er sich und jedem eventuell Eintretenden vormachen wollte, auf der Suche nach Vereinigung mit Charlottes Geist zu sein. Die Realität war weniger pietätvoll. Er war auf der Suche nach Edward Crane.

Er zog die Blätter aus dem Drucker, ein Artikel über John Updike aus dem New York Review of Books. Sein Blick wanderte nach unten. Auf was hoffte er? Fotos? CD-ROMs? Er blätterte in einem Adressbuch auf dem Schreibtisch, spielte gar mit dem Gedanken, ihr Handy einzuschalten. Sein Atem ging schneller, er sah zum Schuppenfenster hinaus, um sich zu vergewissern, dass er ungestört bleiben würde, während er die ersten Seiten ihres Kalenders aufschlug. Sein Blick suchte die Tage vor ihrem Tod, fand nur den Eintrag »Abendessen S.«, hingekritzelt an dem Abend, an dem er zum Essen gekommen war. Der letzte Abend, an dem er sie lebend gesehen hatte.

»Was machst du da?«

Paul stand in der Tür, sah ihn ungläubig an.

Gaddis klappte den Kalender zu und legte ihn zurück auf den Schreibtisch.

»Ich versuche, ihr ein bisschen nah zu sein«, murmelte er, »irgendeine Erklärung für die ganze Geschichte zu finden.«

»In ihrem Terminkalender?«

Sam stand auf. »Ach, ich weiß es nicht.« Er vermutete, dass Paul den wahren Grund kannte. »Irgendwie bin ich in ihr Büro gestolpert. Verflucht, ich weiß nicht, warum ich das getan habe.«

»Ich auch nicht.«

Sie sahen sich an. Paul war so müde und erschöpft, dass er nur den Kopf schüttelte, neben Sam trat und versuchte, das Büro seiner Frau für sich zurückzugewinnen, indem er wahllos Dinge auf ihrem Schreibtisch zu ordnen begann. »Lass uns wieder reingehen«, sagte er. »Rüber ins Haus.«

Als sie drüben waren, schien der Zwischenfall vergessen, aber Sam lag er noch eine ganze Weile schwer im Magen. Er schämte sich, dass er sich unerklärlicherweise hatte gehen lassen. Wieso hatte er sich bloß dazu herabgelassen? Erstaunlicherweise war es Paul, der das Schweigen zwischen ihnen brach, als er zwei Tage später anrief und Sam zum Abendessen zu sich einlud. Kaum war Sam über die Schwelle getreten, entschuldigte er sich auch schon für das, was geschehen war. Paul winkte ab und bat ihn in die Küche, wo eine Lasagne – zubereitet von einer sorgenden Nachbarin – im Backofen garte, schenkte ihnen zwei Gläser Rotwein ein und setzte sich an den Tisch.

»Ich habe lange über deine Grabrede nachgedacht«, sagte er. »Besonders über eine Stelle.«

Gaddis verspürte Unbehagen. Er hatte Charlottes Schwächen in seiner Rede keineswegs ausgespart, ihre Radikalität in den Anfangsjahren ihrer Karriere, ihre Angewohnheit, Freunde fallen zu lassen, deren Lebensweise nicht ihren Vorstellungen entsprach. Paul hatte sich eine Abschrift erbeten und könnte durchaus Anstoß genommen haben.

»Welche Stelle?«, fragte er.

Gaddis sah, dass Paul den Nachruf in der Hand hielt. Er begann laut vorzulesen: »Wenn wir Glück haben, begegnen wir in unserem Leben ein, zwei außergewöhnlichen Menschen. Wenn wir noch größeres Glück haben, gewinnen wir sie als Freunde.« Paul legte eine Pause ein und räusperte sich, bevor er weiterlas. »Charlotte war nicht nur einer der außergewöhnlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin, sie wurde auch meine wertvollste Freundin. Ich habe sie beneidet und bewundert. Ich habe sie für rücksichtslos, aber auch für tapfer gehalten. Dostojewski hat gesagt: Wer von anderen geachtet werden will, tut gut daran, sich selbst zu achten. Allein mit Respekt vor sich selbst zwingt man andere, Respekt vor einem zu haben.‹ Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, auf den das besser zutrifft als auf Charlotte Berg. Immer noch holt der Tod sich die Besten von uns zuerst.«

Paul legte Gaddis die Hand auf die Schulter.

»Damit hast du absolut recht gehabt. Ich möchte dir sagen, dass du mir mit deinen Worten sehr geholfen hast.«

»Das macht mich froh.«

»Ich habe auch darüber nachgedacht, was du in ihrem Büro gemacht hast. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie das für Charlotte gewesen wäre.« Gaddis wollte etwas erwidern, aber Paul ließ ihn nicht. »Ich glaube, sie hätte es genauso gemacht. Oder zumindest hätte sie verstanden, warum du dort warst. Du bist in ihr Büro gegangen, um zu erfahren, wo sie an dem Vormittag war, um ihr nah zu sein, wie du es ausgedrückt hast. Edward Crane ist dir wieder eingefallen, und der Gedanke, einen Blick auf ihre Recherchen zu werfen, ging dir nicht mehr aus dem Kopf. Ein langer Tag lag hinter dir. Du warst müde.«

»Ich habe geschnüffelt«, räumte Gaddis unverblümt ein. Es rührte ihn, dass Paul nach einem Weg suchte, ihm zu verzeihen, aber er wollte sich selbst nicht vom Haken lassen. »Ich habe mich von dem Cambridge-Buch verabschiedet. Ich wusste, dass es damit vorbei ist, und habe mich selbst bedauert.«

»Was soll das heißen, dass es damit vorbei ist? Warum?«

Die Antwort auf diese Frage erschien so offensichtlich, dass Gaddis sie der Mühe nicht wert fand. Paul ging zum Ofen, um nach der Lasagne zu sehen. Er wirkte lockerer als noch vor zwei Tagen; er war in seine Privatheit zurückgekehrt. Ihm war der Luxus gewährt geworden, mit sich und seiner Trauer allein bleiben zu dürfen. Als er sich wieder umdrehte, sagte er: »Warum machst du nicht weiter? Arbeite dich in Charlottes Recherchen ein und sieh zu, wie du ein Buch daraus machst.«

Gaddis fiel keine Antwort darauf ein. Paul bemerkte seine Verwirrung und versuchte, ihn zu überzeugen.

»Ich will nicht, dass ihre Mühe jetzt im Sande verläuft. Sie war damit einverstanden, das Buch mit dir zusammen zu schreiben. Sie würde sich wünschen, dass du damit weitermachst.«

»Paul, ich bin kein Enthüllungsjournalist. Ich bin ein Mann der Archive.«

»Wo ist der Unterschied? Du befragst Menschen, oder? Du verstehst es, einer Spur von A nach B zu folgen. Du weißt dich eines Telefons, des Internets, öffentlicher Bibliotheken zu bedienen. Was sollte so schwer daran sein?«

Gaddis zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche. Es war nur ein Reflex – sofort steckte er es wieder weg. Er wollte jede Taktlosigkeit vermeiden.

»Nur zu, zünd dir eine an.«

»Nicht nötig. Ich will’s eh bleiben lassen.«

»Damit du es weißt«, – Paul stellte den Backofen aus und nahm die Form heraus –, »ich akzeptiere kein Nein. An deinem nächsten freien Nachmittag kommst du her. Du liest dir Charlottes Recherchen durch und siehst, was du daraus machen kannst. Wenn du das Gefühl hast, sie war einer Sache auf der Spur, wenn du meinst, diesen Cambridge-Spion finden zu können, dann schreibst du das Buch und setzt Charlottes Namen neben deinen.« Er machte eine für ihn untypische theatralische Handbewegung. »Sie haben meinen Segen, Doktor. Ans Werk.«