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Zwei Tage später, Gaddis blätterte sich zu Beginn eines neuen Trimesters am UCL durch seine Post, fiel ihm ein brauner DIN-A4-Umschlag mit griechischer Briefmarke in die Hand.

Er öffnete ihn und zog einen Bogen Papier mit dem Monogramm von Charles Crane heraus. Es handelte sich um eine handschriftliche Notiz.

Es hat mich außerordentlich gefreut, gestern mit Ihnen zu sprechen. Ich habe tatsächlich noch zwei Fotografien von Onkel Eddie gefunden. Die eine wurde während des Krieges aufgenommen, eine andere im Haus meiner Mutter in Berkshire in den späten 70er-Jahren (vielleicht auch erst 1980 oder sogar 1981). Wenn ich mich recht erinnere, war Eddie gerade aus dem Foreign Office ausgeschieden und stand vor dem Antritt eines Aufsichtsratspostens bei der Deutschen Bank in Westberlin.

Wären Sie so nett, die Fotos an oben genannte Adresse zurückzusenden, wenn Sie sie nicht mehr benötigen? Dafür wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar.

Beim Herausziehen der Fotos war Gaddis so ungeduldig, dass er den Umschlag einriss. Endlich durfte er einen Blick auf Edward Crane werfen.

Das Bild aus dem Krieg war das übliche Schwarzweiß-Porträt eines Soldaten in Uniform. Es war auf ein ausgefranstes Stück ergrauter Pappe geklebt und in kaum noch lesbarer, blassblauer Tinte mit Cranes Namen und der Jahreszahl 1942 versehen. Crane war Ende zwanzig, mit grüblerisch-düsteren Zügen und dichtem schwarzem Haar, das er gescheitelt und mit Öl straff nach hinten gekämmt trug. Mit einem solchen Gesicht hatte Gaddis nicht gerechnet; er hatte sich Edward Crane zurückhaltender, schlanker, listiger, vielleicht sogar ein bisschen schwächlicher vorgestellt. Dieser Crane war ein Kraftprotz, kernig und kompakt. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass der Mann auf dem Foto die Raffinesse besessen haben sollte, die Geheimdienste auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs mehr als fünfzig Jahre lang an der Nase herumzuführen. Und warum die Uniform? Zu der Zeit, als das Foto aufgenommen worden war, musste Crane bereits als Doppelagent beim MI5 tätig gewesen sein und die Namen potentieller sowjetischer Überläufer an Theodore Maly weitergegeben haben. Gaddis erklärte die Uniform damit, dass Crane sie tragen musste, als er Cairncross in Bletchley assistierte.

Die zweite Fotografie war eine Polaroid-Nahaufnahme, aufgenommen in einem dunstigen, sonnendurchfluteten englischen Garten. Das Haar war immer noch ordentlich gekämmt, aber inzwischen schütter und weiß wie Kreide. Gaddis fühlte sich an Bilder des alten W. H. Auden erinnert, so faltig, von der Sonne ausgemergelt und schlaff unter dem Kinn war Cranes Gesicht mittlerweile geworden. Calvin Somers hatte seine Haut als »zu gesund« für einen Mann mit Bauchspeicheldrüsenkrebs beschrieben, aber das musste nicht heißen, dass Crane besonders jugendlich ausgesehen hatte. Ihm fiel auf, dass die Nase verfärbt war, von zu viel Sonne oder zu viel Rotwein, und an seinem breiten und lebhaften Lächeln ließ sich diesmal schon viel eher der Charme des Meisterspions erkennen. Gaddis war erleichtert, denn diese zweite Aufnahme passte wesentlich besser zu dem Bild, das er sich von Crane gemacht hatte, und sie vertrieb darüber hinaus alle möglicherweise noch verbliebenen Zweifel, ob Crane und Neame nicht doch ein und dieselbe Person waren. So war es zum Beispiel nicht schwer, sich den Mann auf dem Foto als onkelhaften Typen vorzustellen, der sich als patrizischer Banker in Berlin ausgab; gleichzeitig besaß Cranes Gesicht etwas Ungewöhnliches, die Augen verrieten einen ungebärdigen, ans Exzentrische grenzenden Charakterzug. Gaddis konnte nur vermuten, welche Geheimnisse sich hinter diesem Blick verbargen – fünf Jahrzehnte Täuschung und Gegentäuschung, die in den rätselhaften Vorkommnissen von Dresden gipfelten.

Er konnte nicht wissen, dass es nie einen Charles Crane gegeben hatte. Gaddis hatte mit einem gewissen Alistair Chapman telefoniert, einem Kollegen von Sir John Brennan aus der Zeit, als der SIS-Chef noch ein mittlerer Beamter im Wien des Kalten Krieges war. Chapman hatte dem SIS erlaubt, eine Athener Telefonnummer in seine Londoner Wohnung umleiten zu lassen und sich Brennan zu Gefallen als Cranes Neffe auszugeben. Der Chef war von seiner Performance begeistert gewesen.

»Vielen Dank, Alistair«, hatte er noch am selben Abend zu Chapman gesagt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in der langen Geschichte des SIS schon mal einen besseren Kugelfang beschäftigt haben.«

Die angeblich von Charles Crane an Gaddis geschickten Fotografien zeigten in Wahrheit einen ehemaligen SIS-Mitarbeiter namens Anthony Kitto, 1983 verstorben. Brennan hatte sie einer beliebigen Akte entnommen und in den Umschlag gesteckt. Gaddis, der von alldem natürlich nicht den leisesten Schimmer hatte, machte sich eine geistige Notiz, Charles Crane einen Dankesbrief zu schicken, bevor er sich der übrigen Post zuwandte.

Unter anderem einem Brief von einem amerikanischen Kollegen, einer von Min unterschriebenen Postkarte von Gaudís Sagrada Família und ganz unten in dem Stapel einem Bankauszug von Barclays. Er hatte sich angewöhnt, alle Briefe der zahllosen Geldinstitute, denen er Geld schuldete, gleich in den Papierkorb zu werfen, aber diesmal machte er eine Ausnahme, warf einen Blick auf den Auszug und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sein Kontostand besser war als befürchtet. Mehr als einen Monat nachdem er Calvin Somers einen Scheck über 2000 Pfund überreicht hatte, war die Summe noch nicht abgebucht worden. Es war ein nachdatierter Scheck gewesen, aber seit mindestens zwei Wochen hätte Somers ihn bei seiner Bank einreichen können.

Gaddis stand vor einem Dilemma. Er konnte die Daumen drücken und hoffen, dass Somers den Scheck vergessen hatte, aber die Vorstellung, ein gieriger und berechnender Mann wie Somers könnte vergessen haben, dass er auf zwei Riesen saß, schien ihm schon ein wenig abenteuerlich. Wahrscheinlicher war, dass Somers den Scheck verloren hatte und in drei, vier Wochen bei ihm anklopfen und um einen Ersatz bitten würde. Nichts konnte Gaddis weniger gebrauchen als einen Gläubiger, der ihn in der Vorweihnachtszeit um zweitausend Pfund erleichtern wollte. Bis dahin wäre so ziemlich jeder von ihm ausgeschriebene Scheck geplatzt. Er blätterte in der Kontaktliste seines Handys die Nummer des Mount Vernon Hospital auf, um Somers auf der Station anzurufen.

Der Anruf wurde in die Telefonzentrale umgeleitet. Gaddis war ziemlich sicher, wieder an dieselbe genervte, ungeduldige Vermittlerin geraten zu sein, die ihn schon im September hatte abblitzen lassen.

»Würden Sie mich bitte zu Calvin Somers durchstellen? Ich bekomme ihn nicht an den Apparat.«

Das tiefe Einsaugen von Luft war nicht zu überhören. Zweifellos war es dieselbe Frau, und schon dieses bescheidene Ansinnen schien ihr auf den Geist zu gehen.

»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Sam Gaddis. Die Angelegenheit ist persönlich.«

»Bleiben Sie bitte in der Leitung.«

Bevor Gaddis »natürlich« sagen konnte, war die Leitung tot; er hielt sein Handy in der Hand und fragte sich, ob sie die Verbindung womöglich unterbrochen hatte. Er wollte schon die rote Taste drücken und neu wählen, als sich ein Mann mit einem Räuspern meldete.

»Mr. Gaddis?«

»Ja.«

»Sie fragen nach Calvin?«

»So ist es.«

Gaddis bekam die entsetzliche Pause zu hören, die schlechten Nachrichten vorausgeht.

»Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu ihm standen?«

»Was soll das heißen?« Instinktiv wusste Gaddis, dass etwas nicht stimmte, und bedauerte seine Renitenz. »Calvin hat mir bei meinen Recherchen zu einer wissenschaftlichen Arbeit geholfen. Ich bin Dozent am University College. Ist alles in Ordnung?«

»Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Calvin etwas Schreckliches zugestoßen ist. Er ist auf dem Heimweg von der Arbeit ausgeraubt und erstochen worden. Es wundert mich, dass Sie es nicht in der Zeitung gelesen haben. Die Polizei geht von einem Mord aus.«