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Um sechs Uhr verließen sie das Hotel. Neuigkeiten über die Schießerei in der Reichenberger Straße waren bekannt geworden. Deutsche Fernsehsender berichteten, Meisners Angreifer sei noch am Leben und befinde sich auf der Intensivstation, sein Zustand sei stabil. Die Nachricht war ein schwacher Trost für Gaddis, aber seine Verzweiflung konnte sie kaum lindern. Auch wenn er nicht mehr den Tod eines Menschen auf dem Gewissen hatte, bekam er die Gräueltat, die er in Meisners Wohnung begangen hatte, nicht aus seinem Kopf. Sie stand ihm so lebendig und entsetzlich vor Augen wie die Verstümmelung eines Kindes.

»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Tanya zu ihm, als Des sie zum Flughafen fuhr. »Wenn Sie jemanden sehen, der Ihnen bekannt vorkommt und dem Sie nicht ausweichen können, sei es im Terminal oder im Flugzeug, behalten Sie einfach die Ruhe.« Sie schien gar nicht zu merken, in welchem Geisteszustand sich Gaddis befand, dachte nur an die Sicherheit der Operation. »Sollte es nötig sein, meine Anwesenheit zu erklären, stellen Sie mich als Ihre Freundin vor. Ich heiße Josephine. Wir sind seit Dienstag in Berlin gewesen.«

Gaddis schüttelte den Kopf und starrte verständnislos zum Fenster hinaus.

»Sam, das ist wichtig.« Sie drehte sich in ihrem Sitz um und sah ihn an. »Sie müssen sich zusammennehmen und konzentriert bleiben. Ich weiß, Sie sind nicht gut auf mich zu sprechen, aber wir müssen diese Geschichte zu Ende bringen. Es ist Ihre einzige Chance, nach Hause zu kommen, ohne Fragen beantworten zu müssen.«

»Und, hatten wir unseren Spaß?«, fragte er, die Worte von bitterem Sarkasmus gefärbt. »Haben wir uns gut amüsiert? Glauben Sie, es könnte was Ernsteres draus werden?«

Des schaute Tanya an.

»Das bringt uns nicht weiter, Sam.« Tanya hatte so gut wie gar nicht geschlafen. Sie trug einen modischen blauen Hosenanzug und strahlte die Geschäftsmäßigkeit einer Frau aus, die viel im Kopf haben musste. Gleich nach der Landung in London war sie zu einem eilig anberaumten Treffen mit Brennan – der erzürnt war, dass sie ihre Tarnung aufgegeben hatte – in sein Büro in Vauxhall Cross bestellt. »Wie ich Ihnen bereits gestern Abend gesagt habe, ist es die vernünftigste Strategie, als Paar aufzutreten.«

»Ach, richtig.« Gaddis machte aus seiner Verächtlichkeit keinen Hehl. »Ihr kompliziertes Liebesleben.«

Um sieben checkten sie ein. Bei der Sicherheitskontrolle musste Gaddis die Stiefel ausziehen und den Ledergürtel ablegen, aber er war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten in der Schlange vor dem Scanner; es war das Herumstehen, das Warten, das ihn mutlos und ängstlich machte. Während der nächsten Viertelstunde vertrieben sie sich die Zeit in einem Buchladen, blätterten in Taschenbüchern und Berlinführern. Hin und wieder versuchte Tanya, Konversation mit ihm zu machen, aber er wusste, dass es ausschließlich der Tarnung diente, und entsprechend einsilbig fielen seine Antworten aus. Vierzig Minuten vor dem geplanten Take-off gingen sie schweigend durch eine Reihe neonbeleuchteter Korridore zur Passkontrolle.

»Lassen Sie mich reden«, sagte Tanya und stellte sich in die Schlange, doch als sie an den Schalter traten, würdigte der Beamte ihre Pässe kaum eines Blickes. Zu dieser frühen Stunde wurden sie mit einem unterdrückten Gähnen durchgewunken.

Gaddis verschlief den größten Teil des Rückflugs, aber die kurze Ruhe vermochte seine Stimmung nicht aufzuhellen. Auch nach der Landung in London lasteten die Ereignisse des vergangenen Tages schwer auf seinem Gemüt. Er konnte an nichts anderes denken als an Charlotte und an Benedict Meisners fehlende Schädelhälfte. In der Ankunftshalle erwartete sie ein Fahrer, ein anderer Des in Jeans und Nylonanorak, der ein Schild mit der Aufschrift JOSEPHINE WARNER in fetten Großbuchstaben in die Höhe hielt. Als Gaddis es sah, durchzuckte ihn ein Zornesblitz: Er hasste dieses Doppelleben, wollte nichts mehr mit dem allen zu tun haben, in Barcelona bei Min oder mit Holly in Paris sein; er wollte das Leben zurückhaben, das er vor Charlottes Tod geführt hatte.

»Sie dürfen nach Hause«, sagte Tanya, nachdem sie den Parkplatz in Gatwick überquert und auf den Rücksitzen eines flaschengrünen Vauxhall Astra Platz genommen hatten. »Sie müssen nicht mit uns kommen, es gibt keinen Grund, um Ihre Sicherheit zu fürchten. Soweit wir wissen, hat sich keine dritte Partei für Ihre Internetkorrespondenz interessiert oder Ihre Telefongespräche abgehört. Der Mann in der Wohnung hat offenbar auf Meisner gewartet. Er war nach Berg und Somers das nächste Glied in der Kette. Aus irgendeinem Grund wissen die Russen noch nicht von Ihnen. Dafür sollten Sie dankbar sein.«

»Ja, es bringt also nicht nur Nachteile, wenn der MI6 einem die Mülltonnen durchstöbert«, erwiderte Gaddis. Es war ein feuchter englischer Morgen unter einem Himmel ohne Blau. »Und es verschafft einem die Beruhigung, dass ihr die einzige Organisation seid, die in schamloser Weise Persönlichkeitsrechte verletzt.«

Tanya hatte sich an seinen zänkischen Ton gewöhnt. Sie verstand ihn, aber es war ihre Pflicht, dem Secret Service gegenüber loyal zu sein.

»Hören Sie, Sam, ich will damit ja nur sagen, dass die Geschichte ausgesprochen günstig für Sie ausgegangen ist. Sie können ganz normal weiterleben. Es ist so, als wäre nichts geschehen.«

Sie hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, da war ihr der Fehler bewusst. Gaddis wandte ihr sein Gesicht zu.

»Soviel ich weiß, ist Charlotte ermordet worden, Tanya.«

»Sicher. So hab ich das nicht gemeint. Tut mir leid …«

»Und Calvin Somers ist auch tot.«

Sie streckte die Hand nach seinem Arm aus. »Sam …«

»Letzte Nacht ist ein Mann gestorben, weil er so dumm war, sich vor fünfzehn Jahren auf Geschäfte mit dem MI6 einzulassen. Auch Benedict Meisner ist ermordet worden. Und das soll ich jetzt einfach vergessen? Wie sollte ich ganz normal weiterleben‹?«

Tanya probierte es mit einem anderen Ansatz. »Ich will Ihnen doch nur sagen, dass Sie es vergessen müssen.« Sie machte sich keinerlei Illusionen, dass es leicht werden würde. »Genauso wie Sie Ihr Buch vergessen müssen. Das ist der Deal, den Sie mit uns machen. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig.«

Gaddis wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu streiten. Sie war darauf programmiert, die Größe und Güte des MI6 zu sehen, die Männer, die so mächtig waren, dass sie seine Beteiligung an der Schießerei einfach aus den Akten verschwinden lassen konnten. Schließlich war das ihre Spezialität – das Umschreiben von Geschichte. Tanya hatte ihm versprochen, dass der MI6 mit den Deutschen »eine Vereinbarung treffen« würde. Und als Gegenleistung musste Gaddis aufhören, hinter Crane herzuschnüffeln.

»ATTILA ist Vergangenheit«, sagte sie. »Crane wird aus Winchester weggebracht. Peter ist seinen Job los. Sie werden keinen von beiden wiedersehen.«

Sie krochen die M25 entlang, eingequetscht zwischen LKWs und Lieferwagen mit genervten Fahrern. Gaddis musste an Peter denken, der ihn von Sean Connery durch die Landschaft Hampshires lotsen ließ, und es tat ihm leid, dass er seinen Job verlieren würde. »Und wenn Crane Kontakt mit mir aufnimmt?«, fragte er. Er hatte nicht groß über die Frage nachgedacht; er wollte bei Tanya nur eine Reaktion provozieren. Aber der Gedanke brachte ihn auf eine Idee. Hatte der MI6 die Hushmails gelesen? Vielleicht ließe sich über chiffrierte Nachrichten weiter mit Crane kommunizieren?

»Crane wird nicht versuchen, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen«, sagte Tanya, aber es schwang keine Überzeugung in ihrer Stimme mit.

»Weshalb sind Sie da so sicher?« Gaddis begann an eine Rettung seines Buchprojekts zu glauben. Und mochte es noch so verrückt sein, er war trotz allem, was passiert war, fest entschlossen, zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte. »Glauben Sie im Ernst, so ein Mann wäre nicht in der Lage, den MI6 zu täuschen?«

»Edward Crane ist so ziemlich zu allem in der Lage.«

»Eben.« Er schaute zum Fenster hinaus. Jetzt ging es darum, den Eindruck zu erwecken, dass sein Interesse an ATTILA erloschen war. Er musste Tanya mit derselben Raffinesse belügen, mit der sie ihn belogen hatte. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich kenne meine Lage. Wenn er anruft, läuft er bei mir ins Leere. Ich bin fertig mit der Geschichte.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Glauben Sie, ich will vom FSB erschossen werden?« Tanya bestätigte die Unvermeidlichkeit einer Intervention der Russen mit einem kühlen Kopfnicken. »Ich akzeptiere die Bedingungen unseres Deals.«

Er schaute sie an. Ihre Augen waren gerötet vor Müdigkeit. Es war seltsam, aber irgendwie fühlte es sich falsch an, sie zu hintergehen. Die Ereignisse in Berlin hatten ein Band zwischen ihnen geschmiedet.

»Ich habe meinen Job am UCL«, sagte er. »Das Buch wird ungeschrieben bleiben. Wenn alles gutgeht, haben wir uns heute zum letzten Mal gesehen.«