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Winchester entsprach genau Hollys Beschreibung: eine blankgeputzte wohlhabende Domstadt eine Stunde südlich von London mit einem vom Infarkt bedrohten Einbahnstraßensystem und – so schien es jedenfalls – einer Gedenkstätte für Alfred den Großen an jeder zweiten Straßenecke.

Gaddis war eine Stunde zu früh dort. Er hatte nicht gut geschlafen und Hollys Wohnung bereits um kurz nach acht verlassen, weil er fürchtete, im Stau stecken zu bleiben oder, noch schlimmer, von seinem betagten VW Golf auf der M3 im Stich gelassen zu werden. An der Fulham Road kaufte er sich eine Herald Tribune, die in Winchester womöglich nicht bei jedem Zeitungshändler herumlag, und raste los, einen Cappuccino im Pappbecher zwischen die Beine geklemmt, Blonde on Blonde im CD-Player. In Winchester frühstückte er in einem Café in der Stadtmitte Rühreier, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Waterstone’s Bookshop noch nicht geöffnet hatte. Als Lektüre hatte er die neueste Ausgabe von Private Eye und die Fotokopie eines Prospect-Artikels über Moskau dabei, aber er konnte sich weder auf das eine noch das andere konzentrieren. Die Herald Tribune lag unberührt in einer ledernen Aktentasche zu seinen Füßen. Seine Kellnerin, eine gelangweilte Ungarin, hübsch und wasserstoffblond, blieb bei ihm stehen, um ihm in gebrochenem Englisch von einem Kurs in Design und Technologie zu erzählen, den sie besuchen wollte. Gaddis war dankbar für die Ablenkung.

Um halb elf – der Morgen quälte sich mit geradezu tektonischer Trägheit dahin – betrat er den Buchladen und hielt sich zu keinem anderen erkennbaren Zweck als dem, jeden zu sehen, der zur Tür hereinkam, noch eine Weile im Erdgeschoss auf – in der Hoffnung, es könnte ein einundneunzigjähriger Mann dabei sein. Aus alter Gewohnheit suchte er nach Spuren des eigenen Schaffens und fand eine Hardcover-Ausgabe des Zaren alphabetisch eingeordnet im Geschichts-Regal. Normalerweise hätte Gaddis sich einem Mitarbeiter zu erkennen gegeben und angeboten, das Buch zu signieren, aber in dieser Situation erschien es ihm geraten, anonym zu bleiben.

Um fünf vor elf ging er nach oben. Zu seiner Überraschung war das Obergeschoss keine Großraumabteilung wie unten im Erdgeschoss, sondern ein kleinerer, hell erleuchteter Raum, auf allen Seiten eingeschlossen von Regalen mit Reiseführern und Ratgebern aller Art. Außer ihm war nur ein Kunde anwesend, ein junges, achtzehn- oder neunzehnjähriges Mädchen mit Rastalocken und gebatiktem T-Shirt, das in einer Ausgabe von Südostasien für den kleinen Geldbeutel blätterte. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Fußboden, hob den Blick, als Gaddis am oberen Treppenabsatz auftauchte, und formte mit den Lippen ein Begrüßungslächeln. Gaddis nickte ihr zu und nahm die Herald Tribune aus der Aktentasche, das verabredete Erkennungszeichen. Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm, achtete darauf, dass der Titel gut zu lesen war, ein unbeholfener Akt, und zog aufs Geratewohl ein Buch aus dem vorderen Regal, um sein Benehmen etwas unbefangener erscheinen zu lassen.

Er hatte ein Exemplar von Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus erwischt. Bei seinem Versuch, die Zeitung unter dem linken Ellenbogen festzuklemmen und sich gleichzeitig von hinten nach vorn durch das Buch zu blättern, meinte Gaddis die Blicke des Mädchens mit den Rastalocken auf sich zu spüren. Eine Minute verging. Noch eine. Langsam tat der Arm ihm weh, und die unwillkürliche Verlegenheit ließ ihn erröten. Was sollte Neame denken, wenn er ihn in einem solchen Buch blättern sah? Er stellte es zurück ins Regal, nahm die Zeitung in die rechte Hand und hatte das Gefühl, mitten auf einer großen Bühne vor einem Publikum von Tausenden von Menschen zu stehen. Ob Neame sich ihm in der Gegenwart des Mädchens überhaupt näherte? Würde er sich mit einem Kopfnicken zu erkennen geben und von Gaddis erwarten, dass er ihm folgte? Er kam sich vor wie in der Uraufführung eines Stücks, das er nie geprobt hatte.

Punkt elf Uhr erschien ein zweiter Kunde, ein kahlgeschorener Mann Mitte zwanzig, oben auf dem Treppenabsatz. Gaddis’ Erregung beim Klang der Schritte auf der Treppe war schnell verflogen. Der Mann trug zerschlissene Jeans, weiße Adidas-Turnschuhe und ein blaues Chelsea-Trikot mit dem Namenszug »LAMPARD« auf dem Rücken. Eher kein Mitarbeiter von Thomas Neame. Ohne Blickkontakt zu suchen, ging der Mann an Gaddis vorbei und steuerte auf einen Stapel reduzierter Paperbacks auf der anderen Seite des Raums zu. Gaddis gab sich weiter den Anschein des Schmökernden, zog ein zweites Buch aus der Ratgeber-Ecke, nachdem er zu diesem Zweck die Herald Tribune wieder unter den Ellenbogen geklemmt hatte. Es trug den Titel: Die Mäusestrategie für Männer, Veränderungen erfolgreich begegnen, und Gaddis ersetzte es rasch durch ein anderes Hochglanz-Taschenbuch, und diesmal vermochte der vielversprechende Titel Der letzte Ratgeber, den Sie je benötigen werden ihm immerhin ein breites Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Wo blieb Neame? Er schaute hinüber zur Treppe, aber dort war außer Werbeplakaten, einem schwankenden Licht und einem von jahrelangem Gebrauch ausgetretenen, beigefarbenen Teppichboden nichts zu sehen. Fünf lange Minuten später erhob sich das Mädchen mit den Rastalocken endlich vom Fußboden, stellte den Asienführer zurück ins Regal und stieg die Treppe hinab. Lampard war jetzt seine einzige Gesellschaft.

Auf einmal ging alles ganz schnell. Kaum war die Frau verschwunden, drehte Lampard sich um und kam direkt auf Gaddis zu. Gaddis wollte schon einen Schritt zur Seite treten, um den Mann vorbeizulassen, bis er verblüfft bemerkte, dass er ein Stück Papier aus der Gesäßtasche zog und ihm zusteckte.

»Sie ha’m was verloren, Chef«, murmelte er mit ausgeprägtem Cockney-Akzent. Gaddis nahm den Zettel mit erregter Verwunderung entgegen. Ehe er etwas sagen konnte, war Lampard schon halb die Treppe hinunter, eine Wolke Schweiß und die Erinnerung an ein blasses, unterernährtes Gesicht zurücklassend.

Gaddis faltete das Blatt Papier auseinander. Dort stand in spinnenhafter Krakelschrift eine kurze Nachricht:

GEHEN SIE ZUR KATHEDRALE. AUS DEM WATERSTONE’S NACH RECHTS, DANN LINKS IN DIE SOUTHGATE STREET. AM EXCHANGE PUB LINKS ABBIEGEN IN DIE ST. CLEMENT STREET. BEI BLINKERS NOCH MAL LINKS. DANN RECHTS AB IN DIE HIGH STREET. BIS ZUM DENKMAL.

GEHEN SIE AN DER PASTETENBÄCKEREI VORBEI UND DANN NACH RECHTS INS CAFÉ MONDE UND BESTELLEN SICH EINEN ESPRESSO. NICHT ANS FENSTER ODER AN EINEN DER AUSSENTISCHE SETZEN. NACH DEM VERLASSEN DES LOKALS GERADEWEGS ZUR KATHEDRALE GEHEN. SETZEN SIE SICH IM SCHIFFETWA AUF HALBER HÖHEAUF DIE RECHTE SEITE DES MITTELGANGS.

Gaddis las die Wegbeschreibung ein zweites Mal. Er hatte genug Agentenfilme gesehen, um zu wissen, dass Neame sichergehen wollte, dass ihm vom Waterstone’s Bookshop zur Kathedrale niemand folgte. Lampard war offensichtlich ein bezahlter Helfer, ein Mittelsmann. Ein alter Mann von neunzig Jahren wäre zu keiner Observation mehr in der Lage, außerdem würde er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, solange er nicht wusste, ob er Gaddis vertrauen konnte. Das alles erschien logisch und verständlich, trotzdem verspürte er ein seltsames Unbehagen, der Furcht vor dem Gesetz nicht unähnlich, als er den Buchladen verließ und sich auf der Hauptstraße nach links wandte. In der Southgate Street faltete er den Zettel ein zweites Mal auf, fürchtete schon, damit Aufmerksamkeit zu erregen. Er versuchte, sich die Wegbeschreibung einzuprägen, aber bei Blinker’s, einem kleinen Friseurladen in einer schmalen Gasse, in der Spatzen auf dem Gehsteig herumhüpften und durch die eine Mutter ihren Kinderwagen schob, musste er bereits wieder einen Blick darauf werfen. Als er aus der St. Clement Street herauskam, sah Gaddis ein paar Meter weiter vorne den Eingang von Waterstone’s Buchladen und musste mit leiser Beschämung erkennen, dass Lampards Wegbeschreibung ihn im Uhrzeigersinn einmal im Kreis herumgeführt hatte.

Er ging weiter den Hügel hinab, wie angewiesen, und fragte sich, wie viele Augen ihn beobachteten. Auf der rechten Straßenseite sah er ein schmales, steinernes Denkmal, ungefähr vier Meter hoch. Es stand neben einem Laden, einer kleinen Pastetenbäckerei, also musste es das in der Anweisung erwähnte Denkmal sein. Der Laden – aus dem ihm ein Duft nach Minze und Currypulver entgegenwehte – war in einer schmalen Gasse, die auf eine noch schmalere, aber ebenfalls mit einem Gehsteig versehene Straße führte. Ein paar Meter weiter links war die gläserne Front des Café Monde nicht zu übersehen. Er hatte keine große Lust auf Kaffee – er hatte vier Tassen in ebenso vielen Stunden getrunken –, bestellte sich aber trotzdem einen Espresso, setzte sich damit in den hinteren Teil des Cafés und wusste nicht recht, wie viel Zeit er sich damit lassen sollte. Er war nervös, fühlte sich herumgeschoben, vertraute jedoch darauf, dass die Direktiven in Lampards Nachricht ihn zu Neame führen würden.

Er wartete eine Minute, trank den Espresso, bezahlte ihn und verließ das Lokal. Er hatte auf dem Weg zum Café schon einen ersten Blick auf die Kathedrale werfen können, jetzt ging er durch das Tor und den mit Bäumen gesäumten Weg entlang, der ihn zu ihrer Südfassade führte. Junge Leute – französische Austauschstudenten, amerikanische Rucksacktouristen – liefen herum, belästigt von einem böigen Wind. Gaddis reihte sich in eine kurze Schlange ein und bezahlte fünf Pfund für den Eintritt. Flüsternde Stimmen hallten von der hohen gewölbten Decke wider, als er an mehreren Reihen hölzerner Bänke vorüberging und sich einen Platz auf der rechten Seite des Mittelgangs suchte. Er stellte die Aktentasche auf dem Boden ab, schaltete das Handy stumm und hielt Ausschau nach Neame. Neben seinem Platz stand ein alter Heizkörper, und während er wartete, klopfte er mit den Fingern auf das zerschrammte Eisen. Es war kurz vor halb zwölf.

Er hatte nicht länger als eine Minute dort gesessen, als er hinter sich ein Geräusch hörte, ein Gehstock, der flink über den Steinboden klickte. Gaddis drehte sich um und sah im Mittelgang einen alten Mann in einem Tweedanzug auf sich zukommen, seine Augen fingen eine Lichtquelle auf, als er den Blick hob, um Gaddis zu grüßen. Der Mann entsprach Charlottes Beschreibung von Thomas Neame so exakt, dass an seiner Identität nicht zu zweifeln war. Gaddis wollte sich erheben, eine Geste des Respekts, aber mit einem barschen, schwungvollen Schwenk mit der Stockspitze stieß der alte Mann ihn quasi zurück auf den Sitz.

Neame schlurfte die Sitzreihe entlang und nahm neben Gaddis Platz. Er tat das ohne erkennbares körperliches Unbehagen, abgesehen von einer leisen Atemnot, als er sich setzte. Er bot Gaddis nicht die Hand zum Gruß, sah ihn nicht einmal an. Stattdessen blickte er geradeaus, als wollte er beten.

»Sie sind keiner von diesen marxistischen Professoren, oder?«

Gaddis meinte den Hauch eines Lächelns auf Neames imposantem Profil zu erkennen.

»Einer von der ganz treuen Sorte sogar«, antwortete er.

»Schade.« Der alte Mann wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, gestört von etwas in seinem Blickfeld. Sein Rücken war gebeugt, die Haut im Gesicht und am Hals dunkel und schlaff, aber für einen Mann von einundneunzig Jahren machte er einen erstaunlich robusten Eindruck. »Ich entschuldige mich für das Umherschicken«, sagte er. Die Stimme klang betont nach Oberschicht. »Aber Sie werden verstehen, dass ich sehr darauf achtgeben muss, mit wem ich mich treffe.«

»Natürlich, Mr. Neame.«

»Nennen Sie mich Tom.«

Neame legte den Gehstock quer über die drei Sitze neben sich. Gaddis blickte auf seine Hände. Sie waren ständig in Bewegung, als drückten sie einen dieser kleinen Übungsbälle zur Stärkung der Handgelenke. Die fast durchsichtige Haut zog sich wie Pergament über die Knöchel.

»Ich glaube nicht, dass mir jemand hierher gefolgt ist«, sagte Gaddis. »Die Instruktionen Ihres Kollegen waren eindeutig.«

Neame runzelte die Stirn. »Meines was?« Er hatte ihm noch immer nicht das Gesicht zugewandt.

»Ihres Freundes aus dem Buchladen. Ihres Kollegen Lampard. Der mit dem Chelsea-Trikot.«

Neame brachte ein kleines, unendlich herablassendes Lächeln hervor, bevor er antwortete.

»Verstehe«, sagte er. Jetzt drehte er sich um, wie ein Standbild mit verrenktem Hals, und Gaddis meinte Besorgnis aus den Runzeln und Furchen im Gesicht des alten Mannes herauslesen zu können. Als befürchtete er, Gaddis’ Intelligenz überschätzt zu haben. »Mein Freund heißt Peter«, sagte er.

»Ist er ein Verwandter von Ihnen? Ein Enkel?«

Gaddis wusste selber nicht, warum er diese Frage gestellt hatte; die Antwort interessierte ihn nicht sonderlich.

»Ist er nicht.« Jemand zog einen eisernen Rollwagen über den Steinboden der Kathedrale, das Quietschen der Räder hallte in dem riesigen Schiff wider. »Sie haben die Anweisungen genau befolgt.«

Weil Gaddis nicht wusste, ob Neame eine Antwort erwartete, wechselte er das Thema.

»Sie können sich denken, dass ich eine Menge Fragen an Sie habe.«

»Und ich an Sie«, erwiderte Neame. Er wandte den Blick wieder zum fernen Altar. Bereits jetzt baute sich eine Spannung zwischen ihnen auf, eine Gereiztheit, mit der Gaddis nicht gerechnet hatte. Er nahm den großen Altersunterschied zwischen ihnen als eine schwer zu überbrückende Kluft wahr, ein bisschen fühlte er sich wie ein kleiner Junge in Gegenwart des Großvaters. Neame trainierte immer noch seine Hände, sein Mittel gegen die Arthritis, die ihn offensichtlich plagte. »Wie haben Sie von Eddie erfahren?«, wollte er wissen.

»Von Charlotte. Sie war eine meiner besten Freundinnen.«

Neame räusperte sich die Kehle frei. »Ja. Ich möchte Ihnen sagen, wie leid es mir getan hat, von ihrem Tod zu erfahren.« Es klang aufrichtig. »Ein nettes Mädchen. Und ausgesprochen klug.«

»Danke. Ja, das war sie.« Gaddis nutzte die Verbesserung des Klimas, um mehr über ihre Beziehung zu erfahren. »Sie hat erzählt, dass sie Sie mehrfach getroffen hatte.«

Die Bestätigung beschränkte sich auf ein abruptes Kopfnicken. Dann senkte Neame den Blick auf Gaddis’ Aktentasche und fragte ihn, ob er beabsichtige, ihre Unterhaltung mitzuschneiden.

»Nur wenn Sie es wünschen.«

»Nein, ich wünsche es nicht.« Auch diese Antwort war kurz und knapp; Neame wollte offensichtlich keinen Zweifel daran lassen, wer das Sagen hatte. Plötzlich zuckte er zusammen wie unter einem grellen Schmerz, der ihm durch den gebeugten Rücken geschossen war, aber er unterdrückte ihn sofort mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln. Gaddis erkannte den klaglosen Gleichmut der Kriegsgeneration. Sein Großvater hatte ihn besessen, und auch seine Großmutter. Kein Aufheben um etwas machen. Keine Klagen. Durchhalten. »Charlotte hat sich dreimal mit mir getroffen«, fuhr Neame fort. »Ich lebe im Meredith, einem Pflegeheim nicht weit von hier. Zweimal haben wir uns in Landgasthöfen getroffen, um über Eddie zu reden, einmal bei mir im Heim. Und das war in der Tat eine amüsante Begegnung. Ich musste sie als meine Enkeltochter ausgeben.« Gaddis lächelte, als er sich Charlotte in dieser Tarnung vorstellte. Das waren Kriegslisten nach ihrem Geschmack gewesen. »Ich muss sagen, dass es ein Schock für mich war, von ihrem Tod zu erfahren.«

»Für uns alle.«

»Und, vermuten Sie eine Form von Fremdeinwirkung?«

Sowohl die Tragweite der Frage als auch die ruhige Sachlichkeit, mit der Neame sie gestellt hatte, überraschte Gaddis. »Gar nicht«, antwortete er. »Sie etwa?«

Neame holte tief Luft, ein wenig zu theatralisch, wie Gaddis fand.

»Tja, woher soll ich das wissen? Aber jetzt haben Sie die Bühne betreten. Sie sind der Mann, der der Geschichte nachgeht. Und ich vermute, Sie möchten, dass ich Ihnen von Eddie erzähle.«

»Sie sind an mich herangetreten«, erwiderte Gaddis, den Neames Art zu irritieren begann. »Sie haben mir E-Mails geschrieben. Sie haben mir Peter geschickt. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, woher Sie wussten, dass ich Charlottes Job übernommen habe. Ich kann nur vermuten, dass sie Ihnen erzählt hat, dass wir zusammen ein Buch schreiben wollten.«

»Das ist korrekt.« Gaddis glaubte nicht, dass Neame die Unwahrheit sagte. Die eiserne Karre setzte ihre Reise über einen entfernten Steinfußboden fort, das metallene Kreischen der Räder trug seinen Teil zur kampfeslustigen Stimmung zwischen ihnen bei. »Ich vermute, Sie wissen über St. Mary’s Bescheid.«

»Ich weiß über St. Mary’s Bescheid.«

Endlich ein Bereich der Geschichte, in dem Gaddis sich zu Hause fühlte. Der alte Mann wandte ihm wieder sein Gesicht zu, ein Hauch von Lavendel lag in der Luft. Neames Zähne waren verwittert zu gelblichem Grau, die blauen Augen klar und tief wie gefärbtes Glas.

»Dann wissen Sie auch, dass Eddies Tod vorgetäuscht war. Und dass sich das Office die ganze Geschichte ausgedacht hat, um ihn zu schützen.«

»Ihn vor was zu schützen?«

»Oder vor wem?« Neame streckte die Hand aus, um den Griff seines Gehstocks zu berühren. Die Antwort auf diese Frage schien ihm ein genauso großes Rätsel zu sein, wie sie es für Gaddis war. »Ich weiß nur, dass Eddie sich verabschieden wollte. Er hat mir erzählt, was sie mit ihm vorhatten. Ich wusste, dass ich ihn wohl zum letzten Mal gesehen hatte.«

»Und? War es so?«

Neame brachte noch so ein tiefes, bedauerndes Seufzen hervor. »Ach, ich vermute, er ist nicht mehr am Leben. Die wenigsten sind so alt geworden wie ich.«

Gaddis quittierte die Bemerkung mit einem stillen Lächeln, gleichzeitig verspürte er einen Stich der Enttäuschung. Ein toter Cambridge-Spion war für ihn nicht halb so viel wert wie einer, der sich seines Lebens und bester Gesundheit erfreute. Mehr aus Enttäuschung als aus Vernunft beschloss er, die Grenzen von Neames Wissen zu erforschen.

»Aber Sie wissen nicht, ob Edward Crane tot ist?«

Neame lehnte sich ein winziges Stück zurück, wandte den Blick hinauf zur Kirchendecke. Nach ein paar Sekunden war klar, dass er auf diese Frage nicht antworten wollte. Gaddis schlug eine andere Richtung ein.

»Kannten Sie ihn seit Ihrer Kindheit?«

»Seit dem Trinity College. Das zählt wohl nicht mehr zur Kindheit. Aber ich will Ihnen was erzählen: Ein Jahr nach der St.-Mary’s-Operation hat Eddie mir ein Dokument geschickt, eine Art Kurzautobiografie, wenn man so will. Highlights aus dem Leben eines Meisterspions.«

Gaddis atmete auf. Endlich etwas Konkretes. Wohlige Zufriedenheit breitete sich in ihm aus, endlich setzten sich ein paar Teile zusammen. Charlotte hatte von diesem Dokument gesprochen, aber er durfte Neame gegenüber nicht zu viel von seinem Wissen preisgeben.

»Himmelarsch, das gibt’s doch nicht!«, sagte er und hatte für einen Augenblick vergessen, dass er im Schiff einer Kathedrale aus dem dreizehnten Jahrhundert saß. Neame lächelte.

»Dieser Ort dient der Ehre Gottes, Dr. Gaddis. Hüten Sie Ihre Zunge.«

»Begriffen.« Es war der erste Scherz zwischen ihnen, und wieder versuchte Gaddis, von Neames gehobener Stimmung zu profitieren. »Was ist mit diesem Dokument passiert? Haben Sie es noch? Haben Sie versucht, es zu veröffentlichen?«

»Veröffentlichen?«

»Was ist daran so komisch?«

Neame musste husten, und wieder schien ein jäher Schmerz ihm durch die Brust zu zucken. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Eddie hätte mir den Hals umgedreht.«

»Warum?«

»Weil er ein Gewohnheitstier war. Und Verschwiegenheit gehörte zu den Dingen, auf die er Wert legte. Er hat mir seine Erinnerungen im stillschweigenden Einvernehmen überlassen, dass ich sie nicht veröffentliche.«

»Und davon sind Sie überzeugt?«

Neame schaute, als hätte nach vier Jahrzehnten zum ersten Mal jemand sein Urteil bezweifelt. Gaddis versuchte es auf andere Art.

»Wenn Crane einen Rechenschaftsbericht zu Papier gebracht und ihn Ihnen übergeben hat, könnte dahinter nicht unbewusst der Wunsch gestanden haben, dass seine Geschichte irgendwann einmal ans Licht kommt?«

»Unbewusst?« Aus Neames Mund klang das Wort wie die größte Absurdität der Welt.

»Ich entnehme Ihrer Reaktion, dass Sie kein ausgesprochener Freudianer sind.«

Auf der Unterlippe des Mannes hatte sich ein weißer Speichelfaden gebildet, den er mit einem gefalteten weißen Taschentuch abtupfte, ein Vorgang, der ihn gleichzeitig zu ärgern und verlegen zu machen schien; das waren die kleinen Demütigungen des Greisenalters. Während er das Taschentuch in die Tasche seiner Tweedhose zurückschob, wandte er den Blick zum Altar.

»Sehen Sie, ich habe diese Verabredung mit Ihnen getroffen, weil ich ein paar Dinge richtigstellen möchte in der Akte Eddie Cranes, der in meinen Augen ein Held des Vaterlands war.«

»Ein Held.« Tonlos wiederholte Gaddis das Wort.

»Ganz genau. Wenn auch kein Held im modernen Sinn. Heutzutage muss ein junger Mann nur die Zehenspitze auf afghanischen Boden gesetzt haben, schon hat er das Victoria Cross um den Hals baumeln. Was für ein Unsinn. Ich spreche vom wahren Heldentum, bei dem man nicht nur Leib und Leben aufs Spiel setzt, sondern seinen Ruf.« Die Anstrengung, seinen Standpunkt zu verkaufen, brachte ihn zum Husten. »Ich will die Geschichte auf meine Art erzählen, mir die nötige Zeit dafür lassen. Ich darf Eddies Vertrauen nicht damit missbrauchen, dass ich das Manuskript einfach an den Meistbietenden verschachere. Ich will die Kontrolle über den Informationsfluss behalten. Ich möchte mit jemandem zusammenarbeiten, dem ich vertrauen kann.«

Gaddis wollte sagen: »Sie können mir vertrauen«, aber er überlegte es sich anders. Er wusste, dass er langsam, nach und nach, Neames Respekt gewann, und wollte diesen Erfolg nicht durch eine unbedachte Bemerkung aufs Spiel setzen.

»Zusammen mit dem Manuskript habe ich ein paar Informationen über Eddies neue Lebensumstände bekommen. Und eine ganze Reihe von Anweisungen.« Gaddis hätte sich gerne Notizen gemacht, wie neulich am Kanal, aber es blieb ihm nichts anderes als der Versuch, das alles im Kopf zu speichern. »Eddie ließ mich wissen, dass er unter einer neuen Identität ein ruhiges Leben in Schottland führte, geschützt von seinen früheren Arbeitgebern im Foreign Office. Es ginge ihm nicht besonders gut, schrieb er, und er rechnete nicht damit, mich noch einmal wiederzusehen. Dies sind ein paar persönliche Erinnerungen an ein ungewöhnliches Leben‹, schrieb er. Ich habe sie zu meiner eigenen Genugtuung aufgeschrieben.‹ So ungefähr. Ich weiß nicht, ob er Kopien davon gemacht hat. Ich bezweifle es, ehrlich gesagt. Wie gesagt, Eddie legte Wert auf Verschwiegenheit. Aber ich glaube an die Geschichte, Dr. Gaddis, und ich vermute, dass Eddie das gewusst hat. Ich glaube, dass die Welt ein Recht darauf hat zu erfahren, was dieser Mann für sein Land getan hat.«

»Für Russland?«

Neame verkniff sich ein überhebliches Lächeln, in seinen Augen spiegelte sich wieder das Licht. Es war faszinierend, so viel Leben, so viele Gedanken und Ideen durch einen Mann pulsieren zu sehen, der im zehnten Lebensjahrzehnt stand.

»Nicht für Russland, Doktor Gaddis. Für England.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ach, Sie werden es noch verstehen«, sagte er und legte Gaddis eine federleichte Hand aufs Knie. Diese plötzliche Vertraulichkeit hatte etwas Erschreckendes. »Erst einmal müssen wir die Katze rückwärts laufen lassen.«