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Zwei Männer waren in der engen Toilette, einer wusch sich in dem angeschlagenen Waschbecken die Hände, der andere kam gerade aus einer der schmalen Kabinen und zog sich den Hosenstall zu. Gaddis zwängte sich zwischen beiden hindurch, ohne Blickkontakt zu suchen, ging in die frei gewordene Kabine und verriegelte die Tür. Ein seltsam frischer Pfefferminzgeruch lag in der Luft, als hätte der Vorgänger aus Rücksicht auf seine Mitmenschen Atemspray versprüht. Gaddis zog Stift und Notizblock heraus und begann hastig zu schreiben. Er konnte es sich nicht leisten, irgendetwas von dem zu vergessen, was Wilkinson ihm erzählt hatte, und seinem über vierzig Jahre alten Hirn traute er nicht mehr zu, morgen früh noch eine exakte Rekapitulation des Gesprächs zu liefern.
Draußen öffnete sich eine Tür, die beiden Männer verließen die Herrentoilette. Gaddis hörte dumpfes Stampfen von Rockmusik aus dem Café, gedämpftes Gemurmel vor der Tür. Er konnte kein Steno, aber rasend schnell in seiner eigenen Kurzschrift schreiben, die er über die Jahre perfektioniert hatte: Worte, Wortteile und codierte Abkürzungen, die nur für ihn einen Sinn ergaben, bedeckten die Seiten seines Notizblocks.
Die Tür öffnete sich wieder. Zwei Männer betraten den Raum und unterhielten sich auf Deutsch. Gaddis blieben noch maximal zwei, drei Minuten für seine Notizen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dass Wilkinson unruhig wurde und sich fragte, wo er so lange blieb. Er schrieb die Einzelheiten von Platows Verrat an Crane nieder, klappte den Block zu und stand auf.
In diesem Augenblick betrat Karl Stieleke das Café durch den Seiteneingang, zog in einer fließenden Bewegung eine Beretta Px4 Storm heraus und schoss aus dem schallgedämpften Lauf zwei Kugeln in den Kopf von Robert Wilkinson, die einen Batzen Gehirnmasse von der Größe einer Männerhand gegen die Wand hinter ihm klatschen ließen. Stieleke, keine zwei Schritte vom Seiteneingang entfernt, musste sich nicht davon überzeugen, dass Wilkinson tot war – er wusste es. Stattdessen drehte er sich um und rempelte sich zwischen zwei fassungslosen Gästen hindurch zur Tür, bevor jemand reagieren konnte. Er sprintete in nordöstlicher Richtung zu einem wartenden Fahrzeug, saß zwanzig Sekunden später auf dem Beifahrersitz eines Saab Geländewagens, den Alexander Grek durch die Singerstraße auf siebzig Stundenkilometer beschleunigte.
Gaddis schob gerade den Kugelschreiber in die Innentasche seines Jacketts, als er den Tumult draußen hörte. Zuerst klang es nach einem Fehler in der Musikanlage, als würde eine verkratzte CD planlos von einer Stelle an die andere springen, aber dann rief eine Frau »Hilfe!«, und der Tonfall beunruhigte ihn. Er riss die Tür auf und kam aus der Toilette in ein Szenario heller Panik, als wäre das Café in eine andere Dimension gekippt. Die Musik hatte ganz aufgehört, und sämtliche Gäste aus dem hinteren Teil des Lokals drängten Richtung Ausgang. Sie stießen sich, stolperten, riefen und fluchten wild durcheinander. Zuerst vermutete Gaddis eine Schlägerei, aber eigentlich war dieser Teil Wiens zu geordnet und gutbürgerlich für Wirtshauskeilereien betrunkener Gäste. Er versuchte sich gegen den Strom zu Wilkinson durchzukämpfen, aber der Druck der Masse hob ihn fast von den Füßen und trug ihn die kurze Treppe hinauf dem Haupteingang entgegen. Erst jetzt, im ersten begriffsstutzigen Versuch, dem Chaos um ihn herum einen Sinn zu geben, begann Gaddis sich Sorgen um Wilkinson zu machen. Auf Englisch sagte er zu einer Frau, die sich auf seiner Schulter abstützte: »Was ist denn passiert?«, aber sie schien ihn nicht zu hören, so schockiert war sie von dem, was sie gesehen hatte und was fünfzig oder sechzig Leute um zwei Uhr morgens aus dem Kleinen Café hinaus auf einen verlassenen Wiener Platz trieb.
Draußen hörte Gaddis klar und deutlich das Wort »Kanone«, auf Englisch ausgesprochen von einem Amerikaner, dessen Gesicht er nicht sehen konnte. Er schnappte andere verzerrte Gesprächsfetzen auf, die sich zu einem entsetzlichen Bild dessen, was passiert war, zusammensetzten: Ein Mann war aus kürzester Distanz erschossen worden. Ein älterer Mann. Keiner hatte den Schützen gesehen, keiner den Schuss gehört.
Gaddis drehte sich um, wollte gegen den Strom der Entgeisterten zu Wilkinson gelangen, aber in dem schmalen Durchgang drängten sich ihm zu viele Menschen entgegen. Er erkannte eine Frau, die ganz in der Nähe seines Tisches im hinteren Teil des Lokals gestanden hatte. Der Schock hatte sie die Zigarette vergessen lassen, die sie in der Hand hielt.
»Was ist passiert?«, fragte er sie. Keine Antwort. Er sagte auf Deutsch: »Problem?« Diesmal reagierte sie.
»Jemand ist erschossen worden«, sagte sie auf Englisch. »Mehr weiß ich nicht.« Sie ergriff seinen Arm, als wäre Gaddis ein alter Freund, an dem sie Halt suchte.
»Ein Gast?«, fragte er.
»Ja.«
Es konnte sich nur um Wilkinson handeln. Gaddis spürte einen dumpfen Druck der Angst. Er meinte plötzlich, neben sich zu stehen. Dieselbe Fassungslosigkeit überkam ihn wie in der Wohnung in Berlin. Er versuchte, den Kopf frei von Panik zu bekommen. War er selber noch sicher? Hier draußen auf diesem Platz musste er jede Sekunde damit rechnen, dass eine Kugel ihn von den Beinen holte, er lud förmlich zu einem zweiten Schuss ein. Und wenn ihn einer als den Mann erkannte, der neben dem Opfer gesessen hatte? Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Polizei auf ihn aufmerksam machen würde.
In einer entlegenen, noch funktionierenden Kammer seines Denkens handelte er entschlossen. Der Überlebensinstinkt wurde aktiv. Er sah die Leute von dem Lokal weg in die Seitenstraßen laufen, ihre Freunde mit sich ziehend. In der Ferne ertönten Sirenen. Gaddis folgte den Flüchtenden, weil es für ihn das Beste war, vom Tatort zu verschwinden. Zusammen mit einer Gruppe von zehn, zwölf Leuten verließ er den Platz in südöstlicher Richtung, der Weg war leicht abschüssig. Er kam an einem Laden mit englischsprachiger Literatur vorbei; ein Etablissement auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah nach einem Nachtclub oder Bordell aus. Weiter vorne sah Gaddis die Lichter des Verkehrs auf dem Schubertring und die niedrigeren Bäume des Stadtparks. Er war hier nur wenige hundert Meter vom Radisson entfernt, und für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, dorthin zu gehen. Ein verrückter Gedanke, sich an einem Nachtportier vorbeireden zu müssen, der ihn später womöglich der Polizei übergab.
Er zog sein Telefon aus der Tasche. Weil er sonst niemanden hatte, an den er sich wenden konnte, wählte er Tanyas Nummer. Sie meldete sich fast augenblicklich, sie klang benommen und verwirrt.
»Hallo?«
Ihre Stimme hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn, obwohl sie ihn verraten hatte.
»Warum habt ihr das getan, Tanya?«
»Sam?«
»Bob Wilkinson ist erschossen worden.«
»Was? Erschossen?« Ihr Entsetzen klang echt. Sie wiederholte, was er ihr gerade erzählt hatte, als müsste sie die volle Bedeutung dessen, was er ihr mitteilte, erst noch verkraften. »Wo sind Sie?«
Eine Sirene heulte in nächster Nähe, gleich darauf stimmte ein zweiter Polizeiwagen ein, der zum Kleinen Café raste.
»Warum habt ihr das getan?«, wiederholte er seine Frage. »Direktive der Firmenleitung?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas damit zu tun habe? Wo sind Sie? Erzählen Sie, was passiert ist.«
Beinahe glaubte er ihr die Unschuld. Er wollte sie ihr glauben. Aber es gab kein Vertrauen mehr zwischen ihnen. Er sagte: »Woher soll ich das wissen? Ich war auf der Toilette, hatte Wilkinson allein am Tisch zurückgelassen, und als ich wieder rauskam, war er tot. Erklären Sie mir, was da passiert ist. Wahrscheinlich sind Sie auch hier in diesem verfluchten Wien. Erklären Sie mir, woher die gewusst haben, wo er steckt.«
»Sam. Jetzt hören Sie mir zu.« Tanya hatte ihre Fassung zurückgewonnen. Auf einmal war sie unnatürlich ruhig. »Ich hatte so etwas befürchtet. Ich dachte, Sie seien noch in Spanien. Was ist das für eine Nummer? Haben Sie ein neues Handy?«
»Ja«, antwortete er.
»Beenden Sie auf der Stelle die Verbindung. Schalten Sie das Handy ab und nehmen Sie den Akku heraus. Dann gehen Sie mindestens einen Kilometer weiter, suchen sich ein öffentliches Telefon und rufen mich von dort aus an. Tun Sie das.«
»Wie bitte?«
Sie hatte die Verbindung bereits unterbrochen. Gaddis sprach ins Leere. Er verbarg sich im Dunkel eines Hauseingangs und starrte auf das Display. Offenbar befürchtete sie, die Russen könnten sein Handy orten. Aber wollte sie ihn wirklich schützen oder sich nur Zeit kaufen, um John Brennan zu informieren? Wie auch immer, ihm blieb keine andere Wahl, als zu tun, was Tanya gesagt hatte. Er grub den Daumennagel tief in die Powertaste des Handys, schob die Gehäuseabdeckung zurück, nahm den Akku heraus und ließ ihn in die Hosentasche fallen, bevor er zum Schubertring lief und ein Taxi heranwinkte.
Er sackte zurück in den Rücksitz, schwankend wie ein Betrunkener, während der Fahrer ihn im Spiegel betrachtete und auf das Fahrtziel wartete. Gaddis wurde klar, dass er außer der Goldenen Spinne und dem Riesenrad im Prater keine einzige Adresse in Wien kannte. Ganz sicher wäre es schwachsinnig, ins Hotel zurückzufahren, und der Prater hatte um diese Nachtzeit bestimmt nicht mehr geöffnet. Instinktiv und weil ihm kein anderes Wiener Wahrzeichen einfiel, sagte er: »Hotel Sacher.« Dem Fahrer entwich ein Laut, der verärgert und belustigt zugleich klang, und keine zwei Minuten später wusste Gaddis auch warum: Das Sacher war drei Straßen weiter. Er hätte es in weniger als fünf Minuten zu Fuß erreichen können.
»Mein Fehler, tut mir leid«, sagte er, obwohl nichts dafür sprach, dass der Fahrer Englisch verstand. »Ich meinte nicht das Sacher. Können Sie mich zum Südbahnhof bringen?«
Jetzt drehte sich der Fahrer – ein Mann mittleren Alters, der sich am Ende einer langen Schicht nicht von einem englischen Touristen herumschicken lassen wollte – auf seinem Sitz um. »Südbahnhof?«, fragte er, als hätte Gaddis ihn gebeten, ihn zum Mars zu bringen. »Keine Züge jetzt.«
»Ich bin dort verabredet«, erwiderte Gaddis, und nach ein paar Augenblicken seufzte der Fahrer, legte den ersten Gang ein, lenkte den Wagen auf die Fahrbahn und surrte durch ein paar grüne Ampeln auf den südlichen Teil der Stadt zu. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Ein paar Minuten später entdeckte Gaddis eine Telefonzelle am Straßenrand und bat ihn anzuhalten.
»Halt, bitte.«
»Hier nix Bahnhof«, murmelte der Fahrer.
Gaddis bezahlte den Mann, reichte einen Zehn-Euro-Schein durch das Fenster, ohne auf Wechselgeld zu warten. Das Schmutzwasser einer Pfütze auf dem Gehsteig spritzte ihm an die Schuhe, als er auf die Telefonzelle zuging. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Das Telefon klebte voller Zettel, die Zelle war überall von Münzen und Messern verkratzt. Er wählte Tanyas Handynummer.
»Sam?«
»Ich bin in einer Telefonzelle.«
»Hören Sie mir jetzt ganz genau zu. Wir haben nicht viel Zeit. Wenn Ihre Nummer angezapft war, ist es meine jetzt auch. Sie sind dort nicht sicher. Wir holen Sie raus aus Österreich. Exfiltration. Wenn sie hinter Wilkinson her waren, sind sie auch hinter Ihnen her.«
Gaddis war fassungslos, antwortete nicht, Tanya missverstand sein Schweigen als Skepsis.
»Überlegen Sie. Die Polizei bekommt garantiert eine gute Beschreibung der Leute, die an dem Abend mit Wilkinson zusammen waren. Man wird nach Ihnen fahnden. In Ihr Hotel können Sie nicht zurück. Das wäre Selbstmord. Sie können sich kein Auto mieten. Sie dürfen sich auf keinem Bahnhof und keinem Flughafen blicken lassen. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist Sam Gaddis im Gewahrsam der österreichischen Polizei.«
Er fragte sich, warum Tanya auf einmal in der dritten Person von ihm sprach. Machen das Agenten immer so? Sie verwandeln einen in etwas Abstraktes, in einen ›Auftrag‹, um sich selber davon zu überzeugen, dass sie es nicht mit einem menschlichen Wesen zu tun haben.
»Glauben Sie mir«, sagte er, »das Letzte, was Sam Gaddis jetzt gebrauchen kann, ist von der österreichischen Polizei in Gewahrsam genommen zu werden.«
»Gut. Dann hören Sie zu. Haben Sie Ihr altes Mobiltelefon noch?«
»Nein. Das habe ich in Barcelona gelassen. Und alles andere liegt noch im Hotel.«
»Gehen Sie auf gar keinen Fall dorthin zurück.« Er verstand die Logik in dieser Anweisung, doch der dickköpfige Teil seiner Persönlichkeit war davon überzeugt, dass er noch Zeit hatte, ins Hotel zurückzufahren, seine Sachen zu holen und Wien zu verlassen. »Dort wartet sicher schon jemand auf Sie. Haben Sie Ihren Pass bei sich?«
»Tanya, das ist alles in meinem Hotelzimmer. Ich bin heute Abend mit einem Notizbuch, einem Kugelschreiber und einem Päckchen Zigaretten losgegangen. Nein, ich habe meinen Pass nicht bei mir, nicht einmal meine Brieftasche. Ich habe etwa achtzig Euro in bar und eine U-Bahn-Karte. Sonst nichts.«
Enttäuschtes Schweigen. »Egal«, antwortete sie schließlich. »Ich muss aus dieser Verbindung raus. Wir müssen Schluss machen. Verschwinden Sie von dort, wo Sie gerade sind, und suchen Sie sich einen sicheren Ort. Tauchen Sie ab. Am besten in einer Bar oder einem Nachtclub. Gehen Sie irgendwo hin, wo Sie bis sechs Uhr früh bleiben können.«
»Und was passiert um sechs Uhr früh?«
»Dann schalten Sie Ihr Mobiltelefon genau so lange ein, wie ich brauche, um Ihnen Instruktionen für Ihre Exfiltration zu geben. Sie müssen mir vertrauen, Sam. Gehen Sie nicht zurück in Ihr Hotel. Wir können veranlassen, dass Ihre Sachen abgeholt werden. Gehen Sie in einen anderen Teil der Stadt. Tauchen Sie für drei Stunden ab. Um sechs Uhr bekommen Sie die Instruktionen. Sobald Sie sie erhalten haben, schalten Sie Ihr Telefon wieder aus und tun genau das, was ich Ihnen gesagt habe. Verstanden?«
Er war überrascht und geschmeichelt zugleich von ihrer Bereitschaft, ihm zu helfen.
»Verstanden.«