6
Die »Klette« war ein bescheidener, aber sauberer Gasthof im Süden von Bela. Nach der Begegnung mit den feinen Herren vom Stadtrat empfand Leesil diesen Ort als Erleichterung. Magiere hatte für zwei kleine Zimmer bezahlt – sie lagen nebeneinander, wie ihre Räume im Obergeschoss des »Seelöwen«. Jedes Zimmer enthielt ein schmales Bett, einen kleinen Tisch und eine Kerze, die extra kostete. Chap wanderte durch Magieres Raum und steckte die Schnauze in die offene Truhe. Als Leesil in der Tür stand und beobachtete, wie Magiere ihre Sachen auspackte, fühlte er sich seltsam allein.
Dass jedem von ihnen ein eigenes Zimmer zur Verfügung stand, war nach all den Jahren, die sie im Freien auf dem Boden geschlafen hatten, wundervoll. Ein warmes, trockenes Bett erschien Leesil luxuriös, bedeutete aber auch eine weitere Veränderung.
Jahrelang waren sie zusammen unterwegs gewesen; Magiere, Chap und er. Manchmal hatten sie ein Zimmer gemietet, auf dem Dachboden eines Bauern. Sie schliefen zusammen, um Geld zu sparen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken in einer Welt, die sie oft nicht willkommen hieß. Zu jener Zeit hatte Leesil in Magiere nur eine Gefährtin gesehen.
Furcht war aufgekommen, als sie langsam Magieres Dhampir-Natur entdeckten, vor allem auf ihrer Seite. Noch mehr Sorgen verbanden sie mit den unbekannten Teilen ihrer Vergangenheit. Während dieser Zeit waren in ihm andere Gefühle für sie gewachsen. Und jetzt, trotz ihrer Pfennigfuchserei …
Magiere hatte nicht ein Zimmer gemietet, sondern zwei.
Sie zog ihr Lederhemd an, schnallte den Schwertgürtel darüber und vergewisserte sich, dass sich die Klinge glatt aus der Scheide ziehen ließ. Dann entnahm sie ihrem Rucksack eine Bürste und einen Lederriemen fürs Haar, legte beides auf den Tisch – es war ihre Art und Weise, sich häuslich einzurichten. Unterwegs auf der Straße hatte er das nie bemerkt und auch nicht begriffen, wie wichtig das für sie war. Vielleicht merkte sie es selbst nicht. Leesil war überall dort zu Hause, wo er sich mit Chap befand.
»Was denkst du?«, fragte Magiere.
»Ich denke, dass wir in einer Sache stecken, die zu groß für uns ist, und es keinen Ausweg gibt«, antwortete Leesil. »Das Wolfsrudel im Rathaus mag in gewisser Weise den Dorfältesten ähneln, mit denen du verhandelt hast, aber es gibt Unterschiede. Es sind Adlige und reiche Kaufleute. Hast du ihre Gesichter gesehen, als wir hereingekommen sind?«
»Ja.« Magiere schloss die Truhe. »Aber wenn ich so denke, kann ich nicht weitermachen.«
»Wir sollten den Rat also besser meiden.« Leesil nickte, wodurch sein weißblondes Haar in Bewegung geriet. Er lehnte noch immer in der Tür. »Wir besuchen Lanjow, und vielleicht gelingt es Chap, mit einem Kleidungsstück des toten Mädchens eine Spur zu finden. Dann beginnen wir mit der Jagd. Wir sind in der größten Stadt des Landes, und es wird nicht leicht sein. Wir sind keine Fährtenleser und können nur hoffen, dass wir ein wenig Glück haben.« Er hob den Kopf, und seine Lippen deuteten ein Lächeln an. »Wenn wir herumstolpern … Vielleicht gerät das blutrünstige kleine Ungeheuer dann in Panik und versucht, einen von uns umzubringen. Das würde alles ans Licht bringen.«
»Ich finde das nicht komisch«, entgegnete Magiere. »Wir haben dies einmal geschafft. Wir können es auch ein zweites Mal schaffen.«
Leesil hätte ihr gern geglaubt.
Magiere war überwältigt, als sie durch das eiserne Tor von Lanjows Anwesen trat. Das Haus war aus sorgfältig behauenen Steinen errichtet und groß genug, um drei Familien aus Miiska unterzubringen. Sie gingen die drei Stufen zur Tür hoch, und dort griff Magiere nach dem großen Klopfer aus Messing, zögerte dann aber und sah Leesil an.
»Du solltest dein Hemd in Ordnung bringen. Oder dir ein neues kaufen. Du siehst wie ein Bettler aus.«
»Ich könnte so tun, als wäre ich verkleidet.«
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu und klopfte dann.
Chap schnüffelte an der Veranda und wirkte aufgeregt. Als Magiere nachsah, um herauszufinden, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, stellte sie fest: Auf der linken Seite war der Mörtel zwischen den Steinen dunkel und fleckig.
Ein Dienstmädchen öffnete die Tür und sah nach draußen. Sie trug ein schlichtes Musselinkleid mit sauberer Schürze, und ihr Haar steckte unter einem weißen Häubchen. Sie musterte Magiere und Leesil, und ihre Augen wurden groß vor Furcht.
»Wir sind mit Ratsmitglied Lanjow verabredet«, sagte Magiere rasch. »Er erwartet uns.«
Das Dienstmädchen nickte und wich halb hinter die Tür, um sie eintreten zu lassen.
»E-er …«, stotterte sie, sah Leesil an und wandte dann schnell den Blick ab. »Er hat mir aufgetragen, euch in sein Arbeitszimmer zu führen.«
Ihre Verwirrung wuchs, als Chap hereinkam. Leesil schenkte ihr ein Lächeln, das sie erblassen ließ, als sie sich umdrehte und die Besucher durch einen Flur und dann einen offenen Torbogen führte.
»Bitte nehmt Platz«, brachte sie hervor und deutete auf ein grünes Samtsofa. Dann hastete sie fort.
»Lächele die Bediensteten nicht an«, sagte Magiere und setzte sich. »Sie sind nicht daran gewöhnt.«
Leesil rollte mit den Augen. Anstatt neben Magiere Platz zu nehmen, wanderte er langsam umher und sah sich die Dinge an, die hier und dort standen und lagen. Eine kristallene Vase und ein silbernes Tintenfass beanspruchten kurz seine Aufmerksamkeit, und dann blieb er an einem alten goldenen Kerzenhalter auf dem Beistelltisch neben dem Sofa stehen.
»Glaubst du, das ist echtes Gold?«, fragte Leesil.
»Rühr ihn nicht an!«, erwiderte Magiere.
Leesil richtete einen unschuldigen Blick auf sie. »Was?«
»Ich weiß, was du vorhast.«
»Was soll ich schon vorhaben? Ich bewundere den Geschmack des Ratsmitglieds.«
»Wenn nachher irgendetwas fehlt …« Magiere wollte Leesil am Arm ergreifen, aber er wich zurück. »Dann stopfe ich dich in unsere Truhe und erspare den Wächtern die Mühe, dich zu verhaften.«
Bevor sie ihn zwingen konnte, sich zu setzen, erklang eine tiefe Stimme.
»Offenbar wisst ihr erlesene Dinge zu schätzen.«
Lanjow stand im offenen Torbogen des Arbeitszimmers. Er war noch immer so makellos gekleidet wie am Nachmittag, wirkte aber müde und erschöpft. Allem Anschein nach lag ein langer Tag hinter ihm.
»Ich bedauere, dass wir dich am Abend stören«, sagte Magiere. »Aber wir müssen wissen, was geschehen ist. Deine Tochter wurde auf der Veranda getötet? Wer fand die Leiche?«
»Ich«, antwortete Lanjow mühsam und sah sich Leesils zerrissenes Hemd an. Er musterte Magieres Partner einige Sekunden lang, kniff dabei andeutungsweise die Augen zusammen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich auf eine Weise, die Magiere nicht zu deuten vermochte. Es wurde wirklich höchste Zeit, Leesil ein besseres Erscheinungsbild zu verpassen, wenn sie weiterhin mit diesem Ratsmitglied und anderen Leuten seiner Art zu tun haben würden. Lanjows Blick glitt zu Leesils Gesicht, oder vielleicht seinem Haar, und Magieres Verwunderung wuchs. Schließlich sah der Vorsitzende des Stadtrates dorthin, wo Chap an den Beinen des Sofas schnüffelte.
»Du warst also nicht zu Hause?«, fragte Magiere. »Wo hast du dich aufgehalten?«
»Ich habe im ›Haus des Ritters‹ Karten gespielt und kam spät nach Hause, und sie lag …« Lanjows Stimme versagte, und er schloss die Augen.
Magiere wartete und gab Lanjow Gelegenheit, sich wieder zu fassen. »War jemand zu Hause?«
Er überlegte. »Nur die Köchin, die auch meine Haushälterin ist. Der Kutscher war bei mir. Ich wusste nicht, dass das Dienstmädchen und der Hausdiener ausgegangen waren. Als ich sie später befragte, erfuhr ich, dass Chesna ihnen fast ein Jahr lang einmal in der Woche einen Abend freigegeben hat. An diesen Abenden war ich immer im ›Haus des Ritters‹.«
Leesil wandte sich vom goldenen Kerzenhalter ab und richtete zum ersten Mal das Wort an Lanjow.
»An den Abenden, an denen du nicht daheim warst, gab deine Tochter dem Personal frei?«
Es schien Lanjow Unbehagen zu bereiten, direkt von Leesil angesprochen zu werden. Er nickte kurz. »Ja. Ich fand es erst nach Chesnas Tod heraus.«
Leesil sah Magiere an, und sie wusste, dass seine Gedanken jetzt beschäftigt waren. Gut so. Diese eine Verbindung ließ sich leicht erkennen, aber ihm fielen oft Dinge auf, die sie übersah.
»Wir müssen mit den Bediensteten sprechen«, sagte Magiere.
»Warum?« Lanjow war wieder wachsam. »Ich habe euch all das gesagt, was sie mir gesagt haben. Sie fühlen sich wegen ihres Verrats schuldig genug. Welchen Sinn hat es, sie noch mehr zu beunruhigen?«
Verrat? Angestellte, die an ihrem freien Abend das Haus verließen … Und dieser Mann hielt das für Verrat?
»Du hast gesagt, dass die Köchin zu Hause war«, betonte Magiere. »Ich muss wenigstens mit ihr reden.«
Lanjow presste kurz die Lippen zusammen, trat durch den Torbogen und richtete einige scharfe Worte ans Dienstmädchen. Kurz darauf kam eine dickliche, gut fünfzig Jahre alte Frau herein.
Im Gegensatz zum Dienstmädchen hatte sie keine Angst. Ihr rötlich-graues Haar bildete einen Knoten, und ihre Schürze zeigte einige verblasste Flecken. Sie maß Magiere mit einem Blick.
»Du bist also die Jägerin. Wir haben jemand anders erwartet.«
Magiere lächelte fast. »Das ist mir inzwischen klar.« Sie wandte sich an Lanjow. »Können wir allein mit ihr sprechen?«
»Nein«, erwiderte er. »Wenn du sie befragen willst, so in meiner Gegenwart.«
Magiere begriff: Lanjow hatte vor dem Rat zwar von Hilfsbereitschaft gesprochen, doch er selbst schien kaum bereit zu sein, Hilfe zu leisten. Vielleicht erwartete er von ihr, dass sie sich von ihm und seinem Haus fernhielt und mit irgendwelchen mystischen Fähigkeiten versuchte, Chesnas Mörder zu finden. Und wenn sie ihn gefunden und zur Strecke gebracht hatte … Dann würde er einen Beweis dafür von ihr verlangen, damit der Rat ihr auf die Schulter klopfen und sie mit dem Geld fortschicken konnte.
»Wie heißt du?«, fragte Magiere die Köchin.
»Dyta.«
»Erzähl uns, was an jenem Abend geschehen ist«
»Ich habe dem Herrn alles gesagt. Ich wusste nicht, dass das arme Fräulein die Tür geöffnet hatte. Wenn jemand angeklopft hat, so habe ich nichts davon gehört.«
Magiere nickte. »Niemand erhebt Vorwürfe gegen dich. Ich muss ganz genau wissen, was an jenem Abend geschehen ist. Es könnte uns dabei helfen, den Mörder zu finden.«
Dyta schürzte die Lippen. »Chesna war ein nettes Mädchen. Sie gab Hedi und dem jungen Audrey immer frei, wenn der Herr fort war und Karten spielte. Sie blieb daheim und las oder leistete mir Gesellschaft. An jenem Abend hatte ich in der Küche zu tun und bereitete getrocknete Pflaumen für die Lagerung vor. Ich habe kein Klopfen an der Tür gehört. Aber mir fiel ein plötzlicher Luftzug auf, als ich die Hintertür öffnete, um ein wenig zu lüften. Vielleicht war in einem der vorderen Zimmer ein Fenster offen, dachte ich. Also sah ich nach und stellte fest, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand.«
Die Köchin unterbrach sich und rang offenbar mit den Tränen. Sie schnitt eine finstere Miene, und Zorn verdrängte den Kummer.
»Ich schloss sie. Die arme Chesna lag draußen auf der Veranda, aber ich sah sie nicht und war davon überzeugt, dass sie sich in ihrem Zimmer befand. Ich schloss einfach nur die Tür.«
Lanjow hörte aufmerksam zu, und als er diese Worte vernahm, senkte er den Kopf.
»Erst viel später, nach Mitternacht, hörte ich den Herrn rufen«, fuhr Dyta fort. »Ich lag schon im Bett, streifte rasch den Morgenmantel über und verließ mein Zimmer. Ich hörte ihn draußen, öffnete die Tür und sah, wie Lord Kuschew zur Veranda lief.«
»Wer ist Lord Kuschew?«, fragte Leesil.
»Ein Nachbar«, antwortete Lanjow. »An jenem Abend haben wir im ›Haus des Ritters‹ zusammen Karten gespielt.«
»Welch ein trauriger Anblick«, flüsterte Dyta. »Das Kleid zerrissen, und die Kehle …«
»Genug!«, stieß Lanjow hervor. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie dies helfen sollte.«
Leesil hob die Brauen, und Magiere fragte sich, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich nehme an, du hast das Kleid behalten, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Lanjow. »Hauptmann Schetnick von der Stadtwache hat mir gesagt, dass ich es aufbewahren muss, auch nach der Beerdigung.«
Magiere merkte sich den Namen. Bisher hatten nur wenige Personen bei dieser Angelegenheit Vernunft bewiesen. Der Hauptmann schien eine rühmliche Ausnahme zu sein, und vielleicht lohnte es, wenn sie sich die Zeit nahmen, mit ihm zu reden.
»Ich möchte es mir ansehen.« Magiere zögerte verlegen. »Besser gesagt …« Sie deutete auf Chap. »Unser Spürhund sollte daran riechen.«
Lanjows Gesicht verlor erneut an Farbe. Die Vorstellung, dass ein Hund an der Kleidung seiner toten Tochter schnüffelte, schien fast zu viel für ihn zu sein. Aber er erwiderte: »Es befindet sich in ihrem Zimmer. Folgt mir.«
Dyta ging, und Magiere, Leesil und Chap folgten Lanjow in den Flur und nach rechts. Der Korridor führte in einen offenen Bereich mit einer Bogentreppe. Lanjow brachte sie in den zweiten Stock und dort in ein Schlafzimmer.
Die cremefarbenen Vorhänge an dem Himmelbett waren zurückgezogen, und darauf lag eine passende Decke. An den Wänden zogen sich weiße Regale entlang, in der richtigen Höhe für ein Mädchen, und die Anzahl der Puppen darin erstaunte Magiere. Auch Leesil sah sie sich an. Allein an einer Wand zeigten sich mindestens zwanzig, außerdem Plüschtiere und einige Marionetten. Einige der Puppen waren blond, andere hatten dunkle Ringellocken. Bei einer bemerkte Magiere kastanienbraunes, fast rotes Haar. Alle Köpfe waren aus Porzellan, die kleinen Spitzenkleider in den meisten Fällen rosarot, lavendelblau oder gelb.
»Wie alt war deine Tochter?«, fragte Magiere.
»Sechzehn«, antwortete Lanjow.
Daraufhin hob Leesil die Brauen und rollte mit den Augen.
»Wo ist ihre Mutter?«, fragte Magiere.
Lanjow zögerte, schien die Frage nicht nur für irrelevant zu halten, sondern sogar für unverschämt.
»Sie starb in der Nacht, als Chesna geboren wurde«, sagte er.
In Magiere regte sich Mitgefühl für diesen arroganten Mann. Er hatte seine Frau bei der Geburt der Tochter verloren, und jetzt auch sein einziges Kind. Vielleicht hatte er es nicht eilig gehabt zu sehen, wie seine Tochter erwachsen wurde.
Lanjow öffnete die Tür des hohen Kleiderschranks und holte ein tuchumwickeltes Bündel hervor. Er trug es so zum Bett, als handelte es sich um etwas Kostbares, und als wäre es gleichzeitig etwas, dessen Berührung ihn entsetzte. Im Innern befand sich etwas, das einmal ein elegantes lavendelblaues Kleid mit safrangelben Borten gewesen war. Blutflecken zeigten sich am Hals und an der linken Schulter.
Chap lief zum Bett und sah erwartungsvoll zu Lanjow auf, aber der Vorsitzende des Rates trat nur zurück. Leesil streckte die Hand aus, nahm das Kleid und entrollte es so, dass der Saum den Boden berührte.
Magiere sah, dass Chesna ihr höchstens bis zur Schulter gereicht hätte, doch ihre Aufmerksamkeit galt vor allem dem Zustand des Kleids. Der vordere Teil war zerfetzt, von der Taille bis zum Saum. In Magieres Magengrube begann es zu brennen, und hinzu kam ein vertrauter Schmerz im Kiefer. Zorn kroch durch ihre Kehle in den Kopf.
Eine scheußliche Frage musste gestellt werden, aber als Magiere Lanjows Gesicht sah, brachte sie es nicht fertig, sie an ihn zu richten.
Er stand still da und starrte auf das Kleid seiner Tochter. Die Hände waren zu Fäusten geballt, die Lippen zusammengepresst.
Chap schnüffelte am Saum des zerrissenen Kleids und arbeitete sich von dort aus nach oben. Leesil ging in die Hocke, damit der Hund auch den Kragen erreichen konnte. Nach einigen Sekunden sah Chap zu Leesil auf, blickte dann zu Magiere und jaulte leise.
»Nichts?« Magiere nahm eine Handvoll Stoff und drückte ihn an Chaps Schnauze, riss Leesil das Kleid fast aus den Händen. »Noch einmal … und pass auf!«
Chap verstand die Worte natürlich nicht, aber Magiere war sicher, dass er um seine Rolle in ihrem Trio wusste.
Der Hund sah ihr kurz in die Augen und knurrte leise – es klang enttäuscht und unzufrieden, fand Magiere. Erneut beschnüffelte er das Kleid. Seine Schnauze strich über die Taille, dann nach oben zum Kragen, und einmal mehr kam ein leises Jaulen von ihm.
»Das reicht«, sagte Leesil. »Er findet nichts. Vielleicht ist schon zu viel Zeit verstrichen.«
»Nun?«, fragte Lanjow. Offenbar erwartete er nach diesen für ihn so unangenehmen Dingen eine Erkenntnis von ihnen.
»Wir müssen das Kleid mitnehmen«, sagte Leesil. Er richtete sich auf und überließ das Kleid Magiere. »Vielleicht weiß Chap noch nicht, was er gerochen hat.«
Magiere wusste, dass ihr Partner improvisierte. Sie rollte das lavendelfarbene Kleid zusammen. Ein Teil von ihr wollte nicht wissen, was mit dem Mädchen geschehen war, als es verblutete. Plötzlich stellte sie sich vor, wie die Mutter, die sie nie gesehen hatte, im Dunkeln zu einer Lehensburg verschleppt worden war. Die Dorfbewohner erzählten sich von einer Frau, die manchmal abends umherwanderte und das Kind eines Mannes in sich trug, von dem Magiere inzwischen wusste, dass er ein als Mensch getarntes Ungeheuer gewesen war. Magiere war kurz vor dem Tod ihrer Mutter geboren, mit einer Verbindung zur Welt der Untoten.
Sie krallte ihre Finger in Chesnas Kleid und schloss die Augen.
Als sie plötzlich Zähne am Handgelenk fühlte, zuckten Magieres Lider nach oben.
Chap hatte ihre Hand im Maul und zog sie in Richtung Tür. Magiere befreite sich und sah Leesil an.
»Ich weiß nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Folge ihm einfach.«
Chap drehte sich und lief aus dem Zimmer. Magiere folgte ihm mit dem Kleid, und Leesil schloss sich ihr sofort an. Von Lanjow kam ein verärgertes Brummen. Chap blieb ein ganzes Stück vor ihnen, brachte die Treppe hinter sich und lief zum Haupteingang. Magiere eilte ihm nach und beobachtete, wie der Hund vor der Tür verharrte und mit der Pfote daran kratzte.
»Offenbar muss euer Hund nach draußen«, sagte Lanjow kühl. »Vielleicht habt ihr ihm zu viel Wasser gegeben, bevor ihr hierhergekommen seid.«
Leesil wandte sich ihm zu und wollte eine scharfe Antwort geben, doch Magiere kam ihm zuvor. »Er möchte noch einmal auf die Veranda.«
Lanjow seufzte resigniert und öffnete die Tür.
Chap sprang nach draußen und machte genau das, was Magiere erwartet hatte. Er senkte den Kopf und schnüffelte an den Flecken zwischen den Verandasteinen.
Sie trat durch die Tür und sah sich die Stelle an, der Chaps Interesse galt. Im matten Licht der Laternen ließ sich nicht viel erkennen. Ihr Blick blieb darauf gerichtet, als sie nach der linken Laterne griff und das kleine Einstellrad drehte, um den Docht herauszudrehen. Aber es wurde nicht etwa heller, sondern dunkler.
Magiere sah sich die Laterne an, um festzustellen, ob sie den Docht versehentlich heruntergedreht hatte. Doch die große Flamme loderte so hell, dass sie die behandschuhte Hand hob und sich die Augen abschirmte.
Ihre behandschuhte Hand? Sie trug keine Handschuhe.
Chap jaulte und sprang beiseite, als Magiere die Verandastufen hinunterwankte. Auf dem Weg blieb sie stehen, die Hand erhoben, und starrte auf ihre Finger.
Sie steckten nicht in einem Handschuh.
»Magiere?«, fragte Leesil zögernd. »Was ist los?«
»Nichts weiter«, murmelte sie.
Als sie sich wieder auf das Hier und Heute besann, stand Leesil vor ihr und musterte sie verwirrt.
»Ich …«, begann sie. »Schon gut.«
Erneut sah sie auf ihre Hände: Die rechte war leer, und die linke hielt noch immer das zerrissene Kleid mit den Blutflecken. Sie schüttelte den Kopf, trat an Leesil vorbei und die Treppe hoch, richtete dann einen argwöhnischen Blick auf die linke Laterne. Eine Sinnestäuschung, mehr steckte nicht dahinter. Sie griff nach dem Geländer, wollte sich daran festhalten …
Die Veranda war still und leer.
Magiere starrte auf die geschlossene Eingangstür mit den geschnitzten Tauben und Kletterpflanzen. Sie versuchte, sich nach Leesil, Chap und Lanjow umzudrehen, konnte aber den Kopf nicht bewegen.
Sie streckte die Hand nach den Laternen zu beiden Seiten der Tür aus, erst nach der rechten und dann nach der linken, drehte die Dochte herunter, bis die Flammen so klein wurden, dass sie fast verschwanden. Deutlich sah sie, dass ihre Hand einen eng sitzenden Handschuh aus schwarzem Leder trug. Und mit der Hand stimmte etwas nicht, denn sie war breiter, als es eigentlich der Fall sein sollte. Sie schloss sich um den Messingklopfer und stieß ihn zweimal gegen die Tür, ohne dass ein Geräusch erklang. Magiere versuchte zurückzuweichen, aber es gelang ihr nicht.
Einige Momente verstrichen, und dann öffnete sich die Tür. Ein junges Gesicht blickte nach draußen.
Das Mädchen war hübsch und hatte dunkle Locken, die bis auf die Schultern fielen. Es lächelte freundlich, als hätte es Magiere schon einmal gesehen. Magiere konnte sich nicht daran erinnern, dem Mädchen schon einmal begegnet zu sein, aber etwas an ihm erschien ihr vertraut. Es sagte etwas, ohne dass sie ein einziges Wort hörte, und das dunkle Haar strich über den safrangelben Kragen eines lavendelfarbenen Kleids.
»Chesna?«, hauchte Magiere, aber auch die eigene Stimme hörte sie nicht. Sie vernahm nur das rasende Pochen ihres Herzens.
Magieres Kiefer schmerzte, und sie spürte, wie ihre Eckzähne länger wurden. Die Hand im schwarzen Handschuh packte die Kehle des Mädchens und zog es näher. Magiere presste den Mund an den Hals, fühlte warme Haut und nahm von Parfüm oder Seife stammenden Fliederduft wahr. Ihre Zähne rissen den Hals auf, und Blut floss.
Magiere wollte das Mädchen loslassen und den Geschmack des Blutes mit den Fingernägeln von ihrer Zunge kratzen. Doch die warme Flüssigkeit füllte ihren Mund, ohne dass sie es verhindern konnte. Ihr Kopf ruckte zurück, und Magiere sah den zerfetzten Hals des Mädchens. Ihre Hand hielt Chesna noch immer gepackt und schüttelte sie, wodurch Blut auf Kleid und Leibchen tropfte. Ihre freie Hand kam nach oben und zerriss den lavendelfarbenen Stoff …
Chesnas Augen starrten mit gebrochenem Blick ins Leere.
»Schluss damit! Wach auf!«
Magiere zuckte zurück, hob beide Hände zum Gesicht und wischte mit ihnen über ihren Mund.
Sie rutschte am Rand der Veranda aus. Eine Hand hielt sie am Oberarm fest, und sie fauchte furchterfüllt, riss sich los, fiel die Treppe hinunter und landete bäuchlings auf dem Weg.
Magiere blieb liegen, mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Sie schmeckte noch immer Blut, und ihr Herz schlug so schnell, dass das Pochen der einzelnen Schläge zu einem dumpfen Brummen verschmolz.
Hände ergriffen von hinten ihre Schultern und versuchten, sie auf den Rücken zu drehen. Blindlings schlug sie zu, doch jemand packte ihre Hand, zog sie herum und auf die Knie.
»Valhachkasej’â! Mach die Augen auf!«
Magiere kam der Aufforderung nach.
In der Dunkelheit um sie herum schien alles zu glühen.
Leesil kniete vor ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, die andere noch immer um ihr Handgelenk geschlossen. Hinter ihm leuchteten die Laternen rechts und links von der Tür so hell, dass sie den Blick abwenden musste, doch vor diesem hellen Hintergrund blieb Leesils Gesicht nicht verborgen. Sie sah alle Einzelheiten, von den dünnen Haaren seiner schrägen Augenbrauen bis zu den blassen Narben an Kinn und Unterkiefer, die auf den Kampf gegen den kleinen Untoten namens Rattenjunge zurückgingen.
»Was hat dies zu bedeuten?«, rief Lanjow. »Was ist mit ihr?«
Der Vorsitzende des Stadtrates stand im Eingang, und sein verärgerter Blick galt den beiden Personen auf dem Weg vor seinem Haus.
»Bitte sei still«, erwiderte Leesil verärgert.
»Nein!«, rief Lanjow. »Ich habe genug von dieser lächerlichen …«
»Du sollst still sein!« Leesil drehte sich halb zum Ratsmitglied um.
Dadurch geriet sein Gesicht aus Magieres Blickfeld, aber was auch immer darin zu sehen war – es veranlasste Lanjow, seinen Ärger zu vergessen und zurückzuweichen.
Leesil wandte sich wieder ihr zu, und Magiere bemerkte eine Veränderung in seinen Zügen. Ein seltsamer Glanz entstand in den bernsteinfarbenen Augen, und sie wurden größer – er schien Angst zu haben. Magiere rückte von ihm fort, aber er hielt sie weiterhin fest.
Der Schmerz in ihrem Kiefer ließ allmählich nach. Leesil ließ ihr Handgelenk los und zog ihre andere Hand behutsam vom Mund fort. Sie versuchte, den Kopf wegzudrehen.
»Lass mich sehen«, flüsterte er.
Diesmal leistete Magiere keinen Widerstand und spürte, wie seine Finger zwischen ihre Lippen tasteten. Er runzelte die Stirn und nickte knapp.
»Jetzt ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr. »Es gibt nichts mehr zu verbergen.«
»Sie kannte ihn«, brachte Magiere hervor und strich mit den eigenen Fingern über ihre Zähne. Sie fühlte nichts Ungewöhnliches.
Leesil ergriff sie an den Oberarmen und zog sie auf die Beine.
»Wovon redest du da?«, fragte er.
»Ich habe ihn gesehen … gespürt«, antwortete Magiere. »Chesna. Sie kannte ihn.«
»Wie konntest du …?«, begann Leesil. »Ihn? Was soll das heißen?«
Magiere wusste nicht, wie sie erklären sollte, dass sie mit den Augen des Mörders gesehen hatte und Zeugin von Chesnas Tod geworden war. Mehr noch. Sie hatte das Blut des Mädchens in ihrem Mund gehabt.
»Meine Hände.« Magiere schüttelte den Kopf. »Sie waren zu breit für die einer Frau. Und ich trug Handschuhe aus gutem Leder. Nach Maß angefertigt.«
»Na schön.« Leesil zögerte und musterte Magiere. Er holte tief Luft, ließ den Atem langsam entweichen. »Was das ›Sehen‹ betrifft … Dazu kommen wir später. Die Handschuhe … Sie bedeuten vielleicht, dass der Mörder ein Adliger ist.«
»Er hat das Mädchen nicht getötet, um ihr Blut zu trinken«, sagte Magiere. »Es ging ihm nicht um Nahrung.«
»Schluss damit!«, rief Lanjow von der Tür. »Ich habe eure Fragen beantwortet und euch das Kleid meiner Tochter überlassen. Ihr solltet längst unterwegs und auf der Suche nach dem Mörder sein, anstatt für meine Nachbarn eine Schau abzuziehen.«
Magiere schob sich an Leesil vorbei und trat die kurze Verandatreppe hoch. »Chesna kannte den Täter. Wer kommt sonst noch hierher? Wer besucht dein Haus regelmäßig?«
Neuer Ärger zeigte sich in Lanjows aschgrauem Gesicht. »Willst du andeuten, dass der Mörder kein Vampir ist?«
»Nein, er ist ein Untoter.« Magiere schüttelte den Kopf, als das Bild vor dem inneren Auge klarer wurde. Und ein Wort hallte in ihr wider: Mörder. »Aber es ging ihm nicht um Nahrung. Ich glaube, er wollte, dass man Chesna blutüberströmt fand.«
»Geht, unverzüglich«, sagte Lanjow. »Meine Tochter kannte dieses Geschöpf nicht. Es ist ein … Unhold, ein Monstrum, wie jene in eurer Stadt. Der Hauptmann der Wache hat Berichte von den Leuten entgegengenommen, die von der Kreatur angegriffen wurden oder solche Angriffe beobachtet haben, und ich versichere euch: Es war gewiss kein Adliger.«
»Es hat andere Angriffe gegeben?« Leesils Stimme verriet einen zu Zorn anschwellenden Ärger. »Mit Überlebenden? Und das sagst du uns erst jetzt?«
Lanjow starrte ihn groß an und suchte nach einer Antwort auf eine Frage, die für ihn überhaupt keinen Sinn ergab.
»Es war nicht nötig, darauf hinzuweisen. Die Stadtwächter nahmen die Berichte entgegen, und die Opfer waren …«
»Einfache Leute«, sagte Magiere voller Abscheu. »Du hast es erst für erforderlich gehalten, uns um Hilfe zu bitten, als jemand von euch ums Leben kam. Es gibt also Personen, die Angriffe überlebt haben und davon berichten konnten, aber was ist mit Leichen? Gab es noch andere Leichen, abgesehen von Chesna?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Lanjow müde. »Bitte geht jetzt. In dieser Stadt treibt sich ein Geschöpf herum, das blindlings tötet. Wenn ihr bezahlt werden wollt, so nehmt den Hund und sucht in der Kanalisation, oder wo auch immer sich solche Wesen verstecken, und erwähnt nie wieder diese absurde Theorie von einem Adligen.«
Er schloss die Tür, und Magiere hörte, wie er drinnen die Riegel vorschob.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Leesil.
Magiere strich sich mit der Hand über den Mund, als wären dort Blutflecken zurückgeblieben.
»Ich habe ihren Tod gesehen«, sagte sie. »Durch seine Augen. Ich habe es gefühlt.«
»Ich glaube dir, aber …« Leesil zögerte und fragte dann: »Was hast du beim Öffnen der Augen gesehen?«
»Nur dein Gesicht, die Laternen, den Weg, aber … Alles schien von innen heraus zu glühen, sodass ich es deutlicher als sonst sehen konnte. Wieso?«
Leesil wandte den Blick von ihr ab.
»Deine Augen. Sie waren vollkommen schwarz, als hätten sich die Pupillen ausgedehnt und alles andere verschlungen.«
Eine Schwere erfasste Magieres Gliedmaßen. Sie war so müde, dass sie sich nur verkriechen und ewig schlafen wollte.
»Ich dachte, in dieser Hinsicht wäre alles geklärt«, sagte sie. »Wie viele seltsame Aspekte von mir gibt es noch?«
Leesil nahm sie am Arm und führte sie zum Tor an der Straße.
»Wir wissen, dass die Edlen Toten im Dunkeln sehen können. In gewisser Weise ergibt es einen Sinn, dass du ebenfalls dazu imstande bist. Es ist Nachtsicht, Magiere. Das Volk meiner Mutter verfügt über eine ähnliche Fähigkeit, und ich ebenfalls, zum Teil. Und was die Dinge betrifft, die du mit den Augen des Mörders gesehen hast …«
»Warum jetzt?«, fragte Magiere. »Warum hatte ich nicht schon vorher Visionen?«
Leesil schüttelte den Kopf. »Vielleicht liegt es am Kleid des Mädchens.«
»Warum geschah es dann nicht im Schlafzimmer, als ich es zum ersten Mal berührte?« Magiere hob das zusammengeknüllte Kleid.
»Ich weiß nicht. Vielleicht …« Leesil zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Ich möchte nicht, dass sich so etwas wiederholt.«
Magiere sah über die Straße. Das Licht von Öllampen fiel aufs Kopfsteinpflaster – die Laternen hingen an Pfählen oder von Halterungen an der Wand der Verteidigungsmauer. Nichts regte sich, und die Nacht war leer, abgesehen von Chap, der vor dem Tor auf der Straße saß und geduldig wartete.
»Ich habe genug davon«, bekräftigte Magiere. »Wenn so etwas geschieht, fühle ich mich jedes Mal wie beschmutzt.«
»Gib mir das.« Leesil nahm das Kleid von ihr entgegen. »Wir wollen nicht riskieren, dass es noch einmal losgeht, wie auch immer es geschah. Wir gehen zu Fuß, bis wir eine Kutsche finden, die uns zum Gasthof bringen kann.«
Magiere schloss die Hand ums Heft ihres Falchions, so fest, als wäre es der letzte Halt am Rand einer tiefen Schlucht. Wem versuchten sie etwas vorzumachen? Sie war eine ehemalige Betrügerin und jetzige Tavernenwirtin, Leesil ein ehemaliger Dieb und Spieler, der zu viel Wein trank. Ja, sie konnten kämpfen, sogar gegen Untote. Das hatten sie in Miiska bewiesen. Aber hier lag der Fall anders.
»Sie hatten recht mit dem Mord«, sagte Magiere und dachte entsetzt daran, was sie gesehen hatte: ihre Hand – seine Hand – an Chesnas zerrissener Kehle. »Als er das Mädchen umbrachte, ging es ihm nicht darum, das Blut zu trinken. Man könnte meinen, er wollte ein Zeichen setzen. Was geht hier vor?«
»Ich hole uns eine Kutsche«, sagte Leesil. »Und dann bringe ich dich fort von hier.«
Am nächsten Morgen, nach einem leichten Frühstück aus Haferbrei und Apfelmus, brachte eine gemietete Kutsche sie zum Verteidigungswall des Innenkreises, und dort zur jüngst erbauten Kaserne der Sträzhy-shlyahketné, der königlichen Garde in Bela. Magiere nahm zur Kenntnis, dass Leesil irgendwann in der vergangenen Nacht sein Hemd in Ordnung gebracht hatte. Beim Frühstück hatte er sie nach ihrer Vision gefragt. Es waren unangenehme Erinnerungen, und sie scheute davor zurück, über dieses Erlebnis nachzudenken.
Sie wussten, dass die Edlen Toten über unterschiedliche Fähigkeiten verfügten. Jetzt musste Magiere feststellen, dass das auch für ihren Dhampir-Zustand galt.
Sie veränderte sich. Zum Beispiel fühlte sie die Sonne. An diesem Morgen war sie fast genau bei ihrem Aufgang erwacht, obwohl die Vorhänge am Fenster zugezogen gewesen waren.
Selbst in den besseren Vierteln gingen die Menschen ihren täglichen Angelegenheiten nach, aber dort sah man weniger Straßenhändler und Hausierer. Die meisten Läden in diesen Teilen der Stadt boten Luxusartikel für die Privilegierten an. Neben einem Tuchhändler, der Mäntel und weite Umhänge aus Satin und erlesenen Pelzen anbot, befand sich eine Weinhandlung, aus dunklem Holz errichtet und mit weiß getünchten Wänden.
Sie kamen an weiteren Geschäften vorbei, an einer Bäckerei mit Tischen voller Leckereien und einem Wagenbauer, der Kutschen und Karren verkaufte und auch reparierte. Zuerst wunderte sich Magiere, als sie dieses Viertel erreichten, aber es ergab durchaus einen Sinn, dass die königliche Garde nicht bei den Reichen und Wohlhabenden der Stadt untergebracht war. Die Sträzhy-shlyahketné mochten einen hohen Status genießen, aber sie zählten trotzdem zum einfachen Volk. Nach der Begegnung mit Lanjow hoffte Magiere, dass Hauptmann Schetnick weniger arrogant und elitär war.
Nach einer Weile hielt die Kutsche schließlich an.
Magiere trat ins helle Tageslicht, schirmte sich die Augen ab und sah in den von Karlin stammenden Beutel. Er enthielt noch reichlich Münzen, aber sie würden viel Geld brauchen, wenn sie in einer so großen Stadt wie Bela unterwegs waren. Widerstrebend bezahlte sie den Kutscher. Entweder benutzten sie Kutschen, oder sie kauften Pferde, und in dem Fall wären Stallgebühren fällig geworden. In der strawinischen Provinz waren sie zu Fuß unterwegs gewesen oder an Bord von Kähnen gegangen, die auf den großen Flüssen verkehrten, aber Zeit hatte ihnen damals nur wenig bedeutet, und Pferde waren ein unnötiger Luxus gewesen. Jetzt verbrachten sie vielleicht die Hälfte ihrer Tage damit, von einem Ort zum anderen zu gelangen.
»Kannst du reiten?«, fragte sie Leesil, als die Kutsche fortrollte.
»Ein Pferd, meinst du? Nur wenn ich muss. Ich möchte keinem auf vier Beinen herumlaufenden, fleischgewordenen Wahnsinn ausgeliefert sein.«
»Vielleicht bleibt dir nichts anderes übrig. Die Fahrten mit Kutschen kosten zu viel Geld.«
Leesil wandte den Blick von der Kasernenpalisade ab und sah Magiere an.
»Du machst dir Sorgen über den Preis von Kutschen? Bei den vergesslichen Göttern, Magiere, ich kenne niemanden, der so geizig ist wie du.«
»Einer von uns muss aufs Geld achten!«
Magiere trat an ihm vorbei zum Tor. Sie war nicht geizig, sondern dachte voraus. Was man von Leesil nicht sagen konnte.
Die Palisade der Kaserne war etwa dreieinhalb Meter hoch und wies ein breites Tor auf, das derzeit offen stand. Vier Männer hielten dort Wache, und auf der anderen Seite exerzierten Soldaten in der frischen Morgenluft. Alle waren ähnlich gekleidet, in Kettenhemden unter weißen Waffenröcken, und die Bewaffnung bestand aus Säbeln. Einige machten sich auf den Weg in die Stadt, mit langen Spießen und weißen Schilden, die zwei Seefalken zeigten. Aus den Kämmen ihrer Helme ragten Federn solcher Vögel.
Vor einem der Wächter am Tor blieb Magiere stehen. »Entschuldige, ich suche Hauptmann Schetnick.«
Der Mann musterte sie kurz, gab dann höflich Antwort und deutete zum Hauptgebäude. »Er ist dort drin. Frag den Türwächter.«
Magiere nickte und ging weiter, mit Chap an ihrer Seite. Leesil folgte ihr.
Der Eingang des zweigeschossigen Hauptgebäudes stand offen, um die frische Luft hereinzulassen. Dahinter erstreckte sich ein kleiner, schlicht eingerichteter Raum. Eine zornige Stimme klang durch einen Flur, doch Magiere verstand nicht genau, was sie sagte. Hinter dem Schreibtisch im Eingangszimmer saß ein kahl werdender, sauber rasierter und einfach gekleideter Mann, der bei ihrem Eintreten aufsah und höflich nickte.
»Kann ich euch helfen?«, fragte er.
»Wir möchten mit Hauptmann Schetnick sprechen«, sagte Magiere. »Wir kommen auf Empfehlung von Ratsmitglied Lanjow.«
»Und worum geht es?«, fragte der Mann.
»Um Lanjows verstorbene Tochter«, antwortete Magiere. »Der Stadtrat hat uns beauftragt, Ermittlungen in Hinsicht auf ihren Tod anzustellen. Der Hauptmann hat Berichte von Bürgern entgegengenommen, die uns helfen könnten.«
Eine gewisse Aufregung schien den Mann zu erfassen, aber dann seufzte er und nickte. »Bitte wartet. Ich sehe nach, ob der Hauptmann Zeit für euch hat.«
Er stand auf und ging durch den linken Flur, aus dem die Stimme gekommen war. Wenige Momente später kehrte er zurück.
»Der Hauptmann hat Besuch, aber er meint, ihr sollt trotzdem zu ihm kommen.« Er winkte Magiere um den Schreibtisch herum und deutete in den Flur. »Geht bis zur letzten Tür.«
Chap lief voraus und blieb am Ende des Flurs vor der offenen Tür stehen. Magiere folgte dem Hund und fragte sich, was sein Interesse geweckt hatte. Als sie Chap erreichte, wurden die Stimmen deutlicher.
»Willst du damit andeuten, mein Sohn hätte die Stadt verlassen, ohne mir ein Wort zu sagen?«
Die Frage stammte von einem beleibten Mann in mittleren Jahren, der vor einem großen Tisch aus dunklem Holz saß. Er trug einen burgundroten Mantel mit passender Mütze und hatte einen dichten Bart, der vom Kinn aus spitz zulief.
»Hauptmann, mein Sohn und seine Frau werden seit Tagen vermisst«, sagte er laut. »Wann willst du endlich etwas unternehmen?«
Auf der anderen Seite des Tisches saß ein kräftiger Mann mit großer Nase, in ein Kettenhemd gekleidet. Eine dichte Masse aus braunen Locken umgab seinen Kopf, ließ aber das Gesicht frei, als wäre es am Rand eines Helms abgeschnitten worden. Neben den Schriftrollen und Pergamenten auf dem Tisch lag ein Helm, der denen der Sträzhy ähnelte, aber mehr Kämme aufwies. Ein Federbusch reichte vom Nasenschutz aus darüber hinweg. Magiere vermutete, dass dieser Mann Hauptmann Schetnick war.
»Was soll ich denn sonst noch tun?«, fragte der Hauptmann und sprach erstaunlich ruhig.
Magiere hätte damit gerechnet, dass ihn der Zorn des Kaufmanns langweilte oder er es eilig damit hatte, dessen Anliegen zu Protokoll zu nehmen und ihn dann fortzuschicken – darauf liefen ihre Erfahrungen mit Konstablern und Wächtern hinaus. Doch dieser Hauptmann wirkte geduldig und traurig.
»Du hast mir gesagt, dass dein Sohn Simask und seine Frau Luiza aus geschäftlichen Gründen mit dir nach Bela kamen«, sagte er sanft. »Sie brachen auf, um bei den hiesigen Wirten neue Kunden für euer Weingut zu finden, doch sie kehrten nicht zurück. Wächter haben Nachforschungen angestellt, und ich habe die Distriktkonstabler des betreffenden Bereichs und auch der beiden Distrikte verständigt, die die Vermissten besucht haben könnten. Niemand hat etwas beobachtet, und es gibt keine Anzeichen für ein Verbrechen. Was soll ich sonst noch tun?«
»Such nach ihnen!«, entfuhr es dem Kaufmann verärgert.
»Wo? In welchem Teil der Stadt sollte ich suchen? Wir wären auf Mutmaßungen angewiesen.«
Ein schweres Gewicht schien sich auf den Kaufmann herabzusenken, und er sackte auf seinem Stuhl zusammen.
»Wir haben uns getrennt, um in verschiedenen Teilen der Stadt zu arbeiten«, fuhr er ruhiger fort. »Erst nach einem ganzen Tag wurde mir klar, dass sie nicht mehr da waren. Ich weiß nicht, wohin sie verschwunden sein könnten, aber mein Sohn ist sehr zuverlässig. Er hätte unser vereinbartes Treffen bestimmt nicht versäumt.«
Der Hauptmann bemerkte Magiere und Leesil in der Tür und stand auf. Sein Körperumfang war beträchtlich, aber es schienen vor allem Muskeln zu sein und nicht die Masse eines Mannes, der immer nur saß.
»Kehr zu deinem Gasthof zurück und ruh dich aus«, riet er dem Kaufmann. »Wir tun, was wir können. Wenn es Neuigkeiten gibt, setze ich mich sofort mit dir in Verbindung. Bitte entschuldige mich jetzt. Es gibt noch eine andere Angelegenheit, die meine Aufmerksamkeit erfordert.«
Tiefer Kummer und Hoffnungslosigkeit zeigten sich im Gesicht des Kaufmanns, als er aufstand. Magiere hatte Mitleid mit ihm, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Als er sich zum Gehen wandte, sah er die beiden in der Tür und drehte sich noch einmal zum Hauptmann um.
»Luiza ist hellhäutig, fast wie die Frau dort«, sagte er und deutete auf Magiere. »Sie hat schwarzes Haar und ist kleiner.«
Der Hauptmann nickte. »Ich werde das notieren.«
Der Weinhändler verließ den Raum ohne ein weiteres Wort und ging durch den Flur.
»Kann ich euch helfen?«, fragte der Hauptmann und musterte die beiden Neuankömmlinge. Er griff nach einem ledergebundenen Pergamentbündel und öffnete es. »Heute Morgen habe ich keine weiteren Termine, aber gleich ein Treffen mit der hiesigen Polizei.«
»Dies dauert nicht lange. Ich bin Magiere. Der Stadtrat hat mich mit Ermittlungen in Bezug auf den Tod von Ratsmitglied Lanjows Tochter beauftragt.«
Schetnick schüttelte verwundert den Kopf, als er diese Worte hörte, und er legte das Pergamentbündel auf den Tisch. Er sah Magiere an, nachdem er Leesil und Chap einen kurzen Blick zugeworfen hatte. Ein dünnes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, und er verschränkte die Arme.
»Du bist die Jägerin. Wer ist er?«
»Leesil, mein Partner.«
Chap schnüffelte und richtete den Blick auf Schetnick.
»Unser Spürhund«, erklärte Magiere. »Aber die Spur ist kalt, und wir müssen die Suche eingrenzen. Lanjow erwähnte Berichte über Attacken eines nächtlichen Angreifers. Wir würden gern mit einigen der betroffenen Personen reden. Kannst du uns eine Liste mit Namen und Adressen geben?«
Schetnick stand da, noch immer mit dem matten Lächeln auf den Lippen. »Du bist nicht das, was ich erwartet habe.«
Magiere hatte es langsam satt, diese Worte zu hören.
»Tatsächlich«, erwiderte sie schlicht.
Schetnick lachte laut, und die letzten Reste von Trauer verschwanden aus seinem Gesicht.
»Nein, nein«, fügte er hinzu. »Ich habe mit einem aufgeblasenen Mystiker gerechnet, oder mit einem ehrgeizigen Alchimisten. Ich war nicht sehr erfreut, als uns der Stadtrat diese Sache aus den Händen nahm. Aber wir haben viel zu tun, und die Distriktpolizisten sind Einheimische, denen es an Ausbildung fehlt und die ihren Aufgaben manchmal nicht gerecht werden. Du hingegen siehst aus, als könntest du in einem Kampf bestehen.«
Die Freundlichkeit des Hauptmanns wirkte beruhigend, und Magiere entspannte sich ein wenig. Gleichzeitig fühlte sie vages Unbehagen, denn Schetnicks Blick klebte geradezu an ihr fest.
»Kannst du uns eine Liste geben?«, fragte sie noch einmal.
»Hm … vielleicht hast du Zeit für einen Austausch.« Er zog die buschigen Brauen zusammen. »Es ist mir gleich, wer den Mörder erwischt. Ich möchte nur, dass er zur Strecke gebracht wird.«
Leesil trat näher, und Magiere sah Ärger in seinem Gesicht.
»Was meinst du mit ›Austausch‹?«, fragte er.
Schetnick sah ihn kurz an und richtete dann wieder seine volle Aufmerksamkeit auf Magiere.
»Wie gut du auch sein magst … Früher oder später brauchst du vermutlich Hilfe. Ich habe mit allen Nachbarn von Ratsmitglied Lanjow gesprochen und gebe ihre Informationen an dich weiter, wenn du mir sagst, was du bisher entdeckt hast.«
Magiere widerstand dem Drang, sofort zuzustimmen. Schetnick war mehr als ein Soldat. Als Hauptmann kannte er die Stadt vielleicht ebenso gut wie die Konstabler in den einzelnen Distrikten. Was die Polizisten erfuhren, fand vermutlich einen Weg hierher. Leesil und sie hingegen arbeiteten blind, ohne klare Hinweise. Andererseits … Magiere wollte nicht zu eifrig erscheinen. Wenn Miiska vor dem wirtschaftlichen Ruin bewahrt werden sollte, mussten Leesil und sie – und nicht die Sträzhy-shlyahketné – die Reste eines Untoten vorweisen.
Schetnicks warm blickende Augen beobachteten sie aufmerksam. Magiere antwortete ihm mit einem kurzen Nicken, obwohl sie nicht unbedingt bereit war, irgendetwas mit ihm zu teilen.
»Hast du Leichen gefunden?«, fragte sie.
Die direkte Frage überraschte ihn. Vielleicht hatte er gedacht, der Erste zu sein, der Antworten bekam.
»Nein«, sagte er. »Meistens hören wir von Leuten, die verschwinden. Auf die eine oder andere Weise werden diese Fälle gelöst, so oder so. Im letzten Monat sind mehr Personen als vermisst gemeldet worden, und weniger Fälle konnten gelöst werden. Inzwischen sind so viele Personen verschwunden, dass wir nicht nach ihnen allen gleichzeitig suchen können.«
Nichts davon ergab einen Sinn für Magiere. Vermisste Personen … Aber der Täter hatte die tote Chesna vor aller Augen auf der Veranda zurückgelassen.
»Chesnas Mörder wollte, dass sein Opfer gefunden wird«, sagte sie. »Ich glaube, es ging ihm darum, ein Zeichen zu setzen.«
»An diese Möglichkeit habe ich gedacht, aber aus welchem Grund?«, fragte Schetnick nachdenklich. »Es passt nicht zu den anderen Fällen.«
Er trat um den Tisch herum, setzte sich vorn auf die Kante und beugte sich ein wenig vor.
»Wieso bist du so sicher, dass es sich um einen Mann handelt?«, fragte er.
Leesil holte zischend Luft. »Ich glaube, wir haben die Zeit des Hauptmanns genug in Anspruch genommen. Wenn du uns bitte die Liste geben würdest … Dann machen wir uns auf den Weg.«
Leesils Stimme war eisig, und Magiere begriff, dass er die Kaserne aus irgendeinem Grund verlassen wollte. Auch Schetnick bemerkte den besonderen Ton, brummte und ging zu einer Kommode an der Wand.
»Es gibt keine Liste«, sagte er. »Ich kann euch einige protokollierte Aussagen geben, aber ich möchte sie zurückhaben.« Er ging die Pergamente in der obersten Schublade durch und holte einen Stapel so dick wie sein Daumen hervor. »Namen und Adressen stehen darauf. Könnt ihr lesen?«
»Er«, antwortete Magiere ohne Verlegenheit und deutete in Leesils Richtung. »Aber das sind ziemlich viele Unterlagen.«
»Sie werden euch nicht alle helfen«, sagte Schetnick. Er sprach noch immer freundlich, fast im Plauderton. »Einige Betrunkene, die angeblich Ungeheuer im Dunkeln gesehen haben … Und es gibt immer Leute, die Gerüchte und Tavernengerede für bare Münze nehmen.«
Leesil nahm ihm den Stapel aus der Hand. »Danke. Gehen wir.«
Er schritt geradewegs zur Tür. Es blieb Magiere gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Chap schloss sich ihr an.
»Haltet mich auf dem Laufenden!«, rief Schetnick ihnen nach. »Und wenn ihr etwas braucht … Gebt mir Bescheid.«
Magiere winkte und eilte durch den Flur. Als sie den Hof vor der Kaserne erreichten, war Leesil bereits auf der Straße und winkte eine Kutsche herbei.
Leesil hielt sich für fähig, mit fast allen Leuten zu reden, aber als die Sonne unterging, hätte er nichts dagegen gehabt, nie wieder ein Wort zu sagen. Sie hatten die halbe Stadt durchkämmt. Na schön, vermutlich war es nur ein Zehntel oder ein Zwanzigstel, aber es fühlte sich nach der Hälfte an, und sie hatten nur acht der in Schetnicks Berichten erwähnten Personen gefunden. Chap war während der Suche immer unruhiger geworden und zweimal verschwunden, was Leesil gezwungen hatte, in Seitengassen und auf Märkten nach ihm zu suchen.
Die Erlebnisse bei Lanjow hatten Magiere zutiefst erschüttert. Leesil wollte sie trösten und gleichzeitig erfahren, was mit ihr geschehen war – bevor es noch einmal passierte. Beim Frühstück hatte sie widerstrebend einige Fragen beantwortet und sich dann allen seinen Versuchen widersetzt, ihre neuen Fähigkeiten genauer zu erörtern. Dass sie im Dunkeln sehen konnte, fand Leesil kaum überraschend, aber die Vision vom Mörder und den Ereignissen war eine ganz andere Angelegenheit.
Das Kleid kam als Auslöser nicht infrage, denn in Miiska hatte sie verschiedene Gegenstände von Opfern berührt, auch blutige, ohne dass es zu etwas Vergleichbarem gekommen war. So beunruhigend die neuen Wahrnehmungen für Magiere auch sein mochten – Leesil fand, dass sie jede Hilfe gebrauchen konnten. Sie hatten keine Spur und nur wenige Hinweise, wussten nicht, wo sie mit der Suche beginnen sollten. Hinzu kam ein Hauptmann, der den größten Teil des kurzen Treffens damit verbracht hatte, Magiere so anzustarren, als wünschte er sie sich zum Frühstück oder zu einem späten Abendessen. Leesil konnte Schetnick nicht leiden.
Er war müde und hungrig und hatte genug davon, traurigen, verzagten Leuten zuzuhören, die von beunruhigenden Dingen erzählten. Sie hatten mit den Töchtern von Schustern gesprochen, mit Gerbern und ihren Söhnen, mit Wirten und sogar Angehörigen des niederen Adels. Bisher hatten nur der Sohn eines Gerbers und ein junger Adliger – der nicht bereit gewesen war, sie in sein Haus zu lassen – übereinstimmende Geschichten erzählt. Beide Männer waren einer Frau mit hellblauen Augen und auffälliger Kleidung begegnet. Einzelheiten der Begegnung konnten sie nicht nennen; sie erinnerten sich nur daran, dass sie später benommen und geschwächt umhergewandert waren, mit Wunden am Hals.
»Die Sonne geht unter«, sagte Leesil. »Kehren wir zum Gasthof zurück. Morgen früh machen wir weiter.«
»Noch ein Bericht«, murmelte Magiere geistesabwesend und blickte auf das Pergament.
Manchmal gelang es ihr, die Bedeutung einiger Worte zu erkennen, und Leesil beobachtete, wie sie die gleiche Zeile mehrmals las. Inzwischen wurde es schnell dunkler, und die meisten Läden waren bereits geschlossen. Chap lag auf dem Kutschensitz ihnen gegenüber, und auf Leesil wirkte der Hund irgendwie verdrießlich.
»Hellblaue … blaue … blaue Augen«, sagte Magiere leise, als sie sich Wort für Wort durch den Satz arbeitete.
Leesil stöhnte. »Lass uns vorher wenigstens etwas essen.«
»Ich glaube, hier ist von einem Bordell die Rede.«
Er streckte die Hand nach dem Pergament aus. »Lass mich sehen.«
»O ja«, sagte Magiere ein wenig abfällig. »Das weckt dein Interesse, nicht wahr?«
»Sehr komisch«, erwiderte Leesil und überflog den Bericht.
Etwa vor einem Mond hatte eine Frau mit hellblauen Augen – wie »Kristalle«, so der Zeuge – einen Wächter namens Koh’in ib’Sune angegriffen, der seinen Dienst in einem von Belas besseren »Domvolyné« leistete, einem Haus der Muße. Gemeint war ein Bordell für Leute, die lieber ein Etablissement besuchten, das nicht direkt den Namen Bordell verdiente.
»Es ist die gleiche Beschreibung«, sagte Magiere. »Wir kennen sie vom Gerbersohn und dem hochmütigen jungen Adligen.«
Leesil nickte.
»Damit stimmen drei Aussagen überein«, betonte Magiere.
»Na schön, na schön. Noch dieser Fall, und dann zurück zum Gasthof. Aber hier wird keine genaue Adresse genannt.« Leesil beugte sich durchs Fenster der Kutschentür und rief dem Kutscher zu: »Kennst du die ›Blaue Taube‹?«
Der Mann bedachte ihn mit einem neugierigen Blick. »Ich weiß, wo sie ist, wenn du das meinst.«
»Bring uns dorthin.« Er zog den Kopf ins Innere der Kutsche zurück.
Chap jaulte leise, ohne sich zu bewegen. Eine Zeit lang setzten sie die Fahrt schweigend fort, und schließlich verkündete der Kutscher: »Die ›Blaue Taube‹.«
Leesil hatte nicht darauf geachtet, wohin sie fuhren, und überrascht stellte er fest, dass sie wieder im Innenkreis der Stadt waren. Nichts in den Berichten hatte den Schluss zugelassen, dass die Spur – wenn es eine war – hierherführte.
Der junge Adlige, der die blauäugige Frau gesehen hatte, wohnte im zweiten Kreis, in einem respektablen, aber nicht besonders reichen Viertel, und der Sohn des Gerbers im Außenkreis. Zu den drei Begegnungen war es also in unterschiedlichen Teilen der Stadt gekommen. Andererseits war es nicht undenkbar, dass ein Untoter so weit in Bela herumzog.
Magiere bezahlte den Kutscher und bat ihn zu warten. Dann trat sie neben Leesil und verlagerte das Gewicht vom einen Bein aufs andere. Das Bordell war ein protziger Steinbau mit zwei großen Kohlepfannen neben der himmelblauen Tür. Die Rollläden der ungewöhnlich kleinen Fenster waren heruntergelassen, damit niemand ins Innere sehen konnte. Als sie mit Chap dastanden und sich umsahen, kam ein älteres Paar vorbei und warf ihnen missbilligende Blicke zu.
»Ich bin noch nie in einem Bordell gewesen«, sagte Magiere schließlich.
Leesil sah sie an und lächelte. »Ich auch nicht. Wie schlimm ist das?«
»Für wen?«, erwiderte sie leise. »Für dich oder die Frauen?«
»Natürlich für die Frauen«, sagte Leesil. »Wie ich gehört habe, gibt es in solchen Etablissements Unterhaltung aller Art. Einige bieten sogar Knaben an, und ich weiß von einem in den Kriegsländern mit einer großen Dogge, die …«
»Schon gut.« Magiere ergriff ihn am Arm, zog ihn die Stufen hoch und klopfte an die Tür.
Ein riesiger Mann öffnete und musterte sie überrascht. Sein Kopf war ebenso kahl wie das breite Kinn, und dunkle, fast schwarze Augen starrten die Besucher an. Doch sein auffälligstes Merkmal war die dunkelbraune Haut. Er trug eine dunkelgrüne Hose und eine offene Weste ohne Hemd. Der Griff eines Streitkolbens ragte an der Seite hinter einem roten, mehrmals um die Taille geschlungenen Seidengürtel hervor.
»Ihr seid zu früh«, sagte der Riese.
»Äh, nein …«, erwiderte Magiere verlegen. »Du verstehst nicht. Wir suchen einen Mann namens Koh’in ib’Sune. Ist er da?«
Der Hüne füllte die ganze Tür aus.
»Ich bin Koh’in. Aber ich kenne euch nicht.«
Leesil hörte, dass er mit einem glatten, fließenden Akzent sprach, wie Lord Au’shiyn vom Stadtrat.
»Wir arbeiten mit der Stadtwache zusammen«, log er. »Wir möchten mit dir über einen Bericht reden, der eine Frau mit kristallblauen Augen erwähnt, die dich angegriffen hat. Es gibt noch andere Berichte, und wir versuchen, eine Verbindung zwischen ihnen zu finden.«
Die Strenge wich nicht aus Koh’ins Miene. »Ihr seht nicht wie Stadtwächter aus.«
»Wir sind auch keine«, sagte Leesil. Erschöpfung ließ ihn ehrlich werden. Offenheit schien hier die einzige Möglichkeit zu sein. »Wir sind Vampirjäger und arbeiten für die Stadtwache. Können wir hereinkommen?«
Koh’in blinzelte zweimal, und vage Sorge erschien in seinem Gesicht.
»Kommt mit in die Küche«, sagte er und trat langsam zur Seite. »Es hat meiner Herrin missfallen, dass ich den Vorfall gemeldet habe. Sie glaubt, das könnte dem Geschäft schaden.«
Mit einem kurzen Blick über die Schulter führte er die Besucher in den rückwärtigen Teil des Hauses.
Leesil war neugierig auf den Salon, doch vom Foyer aus konnte er nur einen kurzen Blick hineinwerfen, bevor er den Weg zur Küche fortsetzen musste. Kissen aus glänzendem Stoff lagen auf Diwanen und Sofas, und schwere Vorhänge waren an den Fenstern zugezogen. Leesil folgte Koh’in und sah, wie sich die Rückenmuskeln unter der Weste des riesenhaften Mannes abzeichneten. Vermutlich genügte seine Präsenz, um bei den Gästen dieses Hauses gute Manieren zu garantieren.
Die Küche war ordentlich und gut ausgestattet, mit Töpfen in Regalen und einem Herd, in dem ein kleines Feuer brannte. Eine wunderschöne, sehr gut gebaute Frau mit einer Mähne aus kastanienbraunem Haar saß am Küchentisch und trank Tee, während eine liebliche blonde Nymphe ihr das Haar richtete. Sie trugen ähnlich beschaffene, bernsteinfarbene Seidengewänder, bestickt mit weißen Rosen.
»Das ist Brita«, sagte Koh’in respektvoll und deutete auf die Sitzende. Dann zeigte er auf die andere Frau. »Und die junge Natascha. Sie bereiten sich gegenseitig vor, während wir miteinander sprechen.«
»Was soll das, Koh’in?«, fragte Brita herablassend, mit einem Blick auf Magieres Hose und Falchion. »Du weißt, dass die Herrin um diese Zeit keine Besucher erlaubt. Und ein Hund?«
»Sie sind von der Stadtwache«, erwiderte Koh’in leise. »Sie wollen mich nach … der Frau fragen.«
»Oh.« Brita stand sofort auf, und es stellte sich heraus, dass sie größer war als Leesil. Direkt vor Koh’in blieb sie stehen, als wollte sie ihnen den Weg versperren. »Die Fragen könnt ihr ruhig in unserem Beisein stellen. Die Wache hilft kaum und macht uns dafür jede Menge Schwierigkeiten, wenn sich irgendein Geck beschwert. Fragt und lasst ihn dann in Ruhe.«
Natascha legte den Lockenstab auf den Herd, trat an Koh’ins Seite und verschränkte wie herausfordernd die Arme. Neben dem großen sumanischen Wächter wirkte sie wie ein Porzellanpüppchen.
»Ja«, sagte sie, und es klang ein wenig bitter. »Der arme Koh’in wurde vor fast einem Mond in der Gasse überfallen. Die Wunden an seinem Hals sind inzwischen geheilt, doch ihr habt erst jetzt beschlossen, Nachforschungen anzustellen?«
»Eigentlich arbeiten wir gar nicht für die Wache«, erwiderte Magiere und hob wie zur Verteidigung die Hände. »Wir sind im Auftrag des Stadtrats unterwegs, in einer Angelegenheit, die mit dieser Sache in Verbindung stehen könnte.«
»Es sind Vampirjäger«, flüsterte Koh’in den beiden Frauen zu.
Brita schnaufte und verschränkte ebenfalls die Arme, wodurch sich in den Seidenärmeln Falten bildeten.
»Dafür gibt der Stadtrat Steuergelder aus? Was ist passiert? Wurde irgendeinem ach so feinen Adligen die Kehle aufgeschlitzt? Aber kein Hahn kräht danach, wenn so etwas woanders geschieht.«
Leesil musste sich voller Unbehagen eingestehen, dass sie mit dieser Einschätzung gar nicht so falsch lag.
»Sag uns, was geschehen ist«, wandte er sich müde an Koh’in.
Der Riese nickte. »Ich vergewissere mich immer, dass alle Damen sicher und in ihren Zimmern allein sind, wenn ich unten abschließe.«
Natascha legte Koh’in die kleinen, schmalen Hände auf den Arm. Sie hätte beide gebraucht, um den dicken Unterarm des Hünen ganz zu umschließen.
»Aber bevor ich abschließe, gehe ich einmal ums Haus, um sicher zu sein, dass niemand da ist und herumschleicht, wenn ihr versteht, was ich meine«, fuhr Koh’in fort.
Leesil nickte.
»An jenem Abend bemerkte ich ein rotes Kleid und blonde Locken in der Gasse hinterm Haus. Ich dachte, dass eine der Damen zu einer Party gerufen worden war und spät heimkehrte. Deshalb eilte ich zu ihr, um sie ins Haus zu bringen. Aber sie gehörte nicht zu uns.«
»Wie sah sie aus?«, fragte Magiere.
»Sie war hübsch und klein. Dunkelblonde Ringellocken und hellblaue Augen. So hell, dass sie mich an Edelsteine denken ließen, die das Licht der Straßenlaternen reflektierten. Aber die Herrin würde ihr nicht erlauben, hier bei uns zu arbeiten.«
»Warum nicht?«, fragte Leesil, und Koh’in runzelte die Stirn.
»Ihr Kleid war aus teurem Satin, aber sie sah …« Koh’in suchte nach dem richtigen Wort. »… billig aus, nicht wie Brita oder Natascha. Vielleicht lag es an ihrem Gesicht. Ich kann es nicht erklären. Ich wollte ihr helfen, da sie in der Gasse nicht ohne Schutz sein sollte. Sie lächelte und fragte, wohin wir gehen könnten, um ungestört zu sein. Daraufhin hielt ich sie für eine arme Straßenhure, die ein Kleid gestohlen hatte und versuchte, sich bei unseren vorbeikommenden Gästen einige Münzen zu verdienen. Ich wollte sie verscheuchen und …«
Der Blick des großen Mannes ging in die Ferne, und er rang die Hände, als Natascha den Kopf an seinen Oberarm lehnte. Er wirkte verlegen.
»Sie drückte mich gegen die Gassenwand und öffnete den Mund, und ich sah lange, spitze Zähne, die es auf meinen Hals abgesehen hatten. Sie ähnelten denen eines Numâr.«
»Eines was?«, fragte Leesil.
»Eine große, schwarze Raubkatze in meiner Heimat«, erklärte Koh’in. »Mit langen Reißzähnen. Ich stieß die Frau fort, aber sie war stark, sehr stark, und ich lief fort. Dass ich blutete, merkte ich erst, als ich die Tür hinter mir geschlossen und verriegelt hatte. Eine gewöhnliche Frau war das bestimmt nicht.«
Natascha klopfte ihm sanft auf den Arm. »Es ist alles in Ordnung. Du konntest nicht mehr tun.«
»Hast du ein Stück Stoff von ihrem Kleid abgerissen?«, wandte sich Magiere an den Wächter.
»Was soll diese Frage?«, erwiderte Brita scharf.
Magiere deutete auf Chap. »Das ist unser Spürhund. Wenn ihr etwas habt, das von der Frau stammt … Es würde uns helfen.«
»Oh.« Brita beruhigte sich. »Koh’in?«
Der Sumaner schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte nur daran, ins Haus zurückzukehren.«
Leesil hatte nicht viel erwartet, aber die Beschreibungen des Mannes ähnelten denen des Gerbersohns und des jungen Adligen.
»Fangt ihr jenes Geschöpf jetzt?«, fragte Natascha.
»Wir versuchen es«, erwiderte Leesil, dem keine bessere Antwort einfiel.
Brita sah sie beide an und sagte mit widerstrebender Höflichkeit: »Danke, dass ihr gekommen seid. Endlich kümmert sich jemand um diese Angelegenheit.«
Nach einigen Versprechungen und Worten des Abschieds stieg Leesil wieder in die Kutsche, aber diesmal rollte sie in Richtung eines warmen Abendessens. Allerdings übte die Vorstellung von einem ruhigen, entspannenden Abend keinen Reiz mehr auf ihn aus. Eine Tatsache hing noch unausgesprochen zwischen Magiere und ihm in der Luft.
»Es sind zwei«, sagte sie schließlich. »Wir jagen zwei Vampire.«
»Wenn deine Vision der Wahrheit entspricht«, gab Leesil zu bedenken.
»Daran zweifle ich nicht. Und wir hatten es schon einmal mit mehr als nur einem Vampir zu tun.«
»Glaubst du, sie stehen miteinander in Verbindung?«, fragte Leesil. »Stehen wir erneut einer Gruppe gegenüber?«
Magiere hob und senkte die Schultern.
»Die Stadträte können meinetwegen daheim zittern«, sagte Leesil. »Aber Koh’in gefiel mir … und auch Brita und Natascha. Abgesehen von den anderen einfachen Leuten, den Hafenjungen und so, sind sie hier die ersten Personen, die es wert sind, geschützt zu werden.«
»Und Chesna, der wir nicht mehr helfen können.« Magiere sah ihn an. »Wir werden sie beschützen. Deshalb sind wir hier – so scheint es jedenfalls.«
Leesil erwiderte den Blick. Ein Kampf stand ihnen bevor, und zum ersten Mal seit dem Verlassen von Miiska lächelte er mit grimmiger Zufriedenheit.