16

Toret saß allein im Wohnzimmer und wartete darauf, dass Chane mit einem Sterblichen als Nahrung für ihn zurückkehrte. Das tiefe Loch dort, wo eines seiner Augen gewesen war, hatte sich inzwischen geschlossen. Von der großen Wunde in der Brust ging kein Schmerz mehr aus, aber der Verlust an Flüssigkeit hatte ihn sehr geschwächt, und er fühlte sich auf eine Weise leer, die über Hunger hinausging. Mit jedem verstreichenden Moment erschien ihm die Illusion von »Toret« lächerlicher, und »Rattenjunge« gewann mehr an Realität.

Immer wieder dachte er an den Kampf in der vergangenen Nacht, und Unruhe erfüllte ihn. Er war stärker als das Halbblut, doch trotz der Dinge, die er von Chane in Hinsicht auf den Schwertkampf gelernt hatte, war er erneut von dem Halbelf besiegt worden.

Tibor kam herein, und sein Erscheinen unterbrach Torets Gedankengang.

»Ich bitte um Verzeihung, Herr, aber ein Mann möchte dich sprechen.«

Die Halswunde des Matrosen hatte sich geschlossen, doch es zeigten sich noch immer Schorf und Flecken dort, wo er verletzt worden war. Seine untote Existenz ließ das hagere, falkenartige Profil stärker hervortreten, und die wettergegerbte Haut verlor ihre Bräune. Die Augen schienen traurig ins Leere zu blicken.

»Warst du lange mit Sestmir befreundet?«, fragte Toret.

»Er war mein Bruder«, erwiderte Tibor. »Und auch mein Freund.«

Brüder? Tore hätte es sofort bemerken müssen. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen …

»Wer ist an der Tür?«, fragte er. Sein derzeitiger Zustand eignete sich kaum, jemanden zu empfangen.

»Ein nobler Herr«, sagte Tibor.

Toret versteifte sich ein wenig. »Dunkles Haar? Mit weißen Flecken an den Schläfen?«

»Ja, Herr.«

Die letzte Person, die Toret jetzt sehen wollte, war dieser Fremde, der immer wieder aus dem Nichts erschien, mit Warnungen vor der Dhampir.

»Sag ihm, ich bin nicht da.«

Tibor drehte sich um, und im gleichen Augenblick kam eine kühle Stimme aus dem Foyer.

»Ich glaube, du solltest mit mir sprechen.«

Der Fremde kam herein, makellos gekleidet in einen langen, schwarzen Mantel, mit perfekt sitzenden Handschuhen. In Toret regte sich Groll.

»Dies ist mein Haus«, sagte er. »Es geht mir nicht gut, und ich möchte allein sein.«

»Ja«, erwiderte der Fremde, und seine Stimme klang noch immer kühl. »Soweit ich weiß, hat dich der Halbelf verletzt. Was einer Person deines Standes nicht geziemt.«

Seines Standes? Es klang schrecklich, wie ein Hohn. Toret sah Tibor an.

»Warte im Esszimmer. Dies dauert nicht lange.«

Tibor nickte und ging. Toret stand auf.

»Wo sind die Dhampir und ihr Halbelf jetzt?«, fragte der Fremde. »Selbst mit meinen Möglichkeiten gelingt es mir nicht, sie zu lokalisieren.«

Toret fragte sich, wie alt der Mann sein mochte, obwohl er wie Mitte vierzig aussah. Er wirkte auch abgespannt und müde, vielleicht aufgrund von Schlafmangel – ganz im Gegensatz zu seinem letzten Besuch. Warum interessierte er sich so sehr für die Dhampir, und weshalb verwendete er so viel Mühe darauf, ihn zu warnen?

Plötzlich spielten die Antworten keine Rolle.

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch gleich. Morgen bringe ich meine Familie von hier fort.«

»Fort?«, wiederholte der Fremde verblüfft. »Wohin? Um deine Existenz zu sichern, musst du sie töten.«

Toret lächelte fast, aber nur fast. »Ich habe einmal jemanden gekannt, der ähnlich dachte. Seine Knochen sind Staub unter der Taverne, die der Dhampir gehört. Rache kann einen hohen Preis erfordern.«

Unverhohlener Ärger erklang in der Stimme des Fremden. »Die Wächter schließen bei Einbruch der Dunkelheit alle Tore. Des Nachts kann niemand in die Stadt herein oder hinaus. Selbst die Abflusskanäle in der Bucht sind jetzt Tag und Nacht geschlossen. Und es wäre schwierig, gelinde gesagt, über alle Wehrwälle hinwegzuklettern.«

Toret wandte sich ab, und das Hohle seiner Existenz schien sich mit Säure zu füllen.

»Wenn du glaubst, ich fände keinen Weg an einigen sterblichen Wächtern vorbei, so weißt du nicht, wer ich bin. Geh jetzt. Du bist nicht länger willkommen.«

Er hörte näher kommende Schritte und drehte sich um. Der Fremde stand dicht vor ihm und musterte ihn mit großem Ernst, schien dabei eine Entscheidung zu treffen.

»Soll ich dich von Tibor hinausbringen lassen?«, fragte Toret.

Der Fremde öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Ein oder zwei Sekunden rang er mit seiner Fassung, wich dann zurück.

»Wie du wünschst.«

Er drehte sich um und ging. Toret folgte und verriegelte die Tür hinter ihm.

»Tibor!«

Der untote Matrose kam ins Foyer. »Ja, Herr?«

»Wenn Chane zurückkehrt … Lass ihn eintreten, aber niemanden sonst. Wenn jener Mann noch einmal erscheint, so schick ihn fort. Verstanden?«

»Ja.«

Toret ging die Treppe zum Obergeschoss hoch. Er war müde und schwach, brauchte dringend Blut, aber endlich sah er seine Welt klar und deutlich. Er ging durch den Flur und betrat Saphirs Zimmer, ohne vorher anzuklopfen. Sie zog sich gerade vor einem ovalen Spiegel an.

»Oh, Toret«, sagte sie, wie überrascht von seiner Präsenz, und musterte ihn von Kopf his Fuß.

Er wusste, dass er blasser war als sonst, die eine Augenhöhle zugeschwollen, doch sein neuer Kasack verbarg die anderen Verletzungen. Saphir schnürte ihr rotes Samtgewand zu, und der Anblick rührte ihn. Teesha hatte des Öfteren roten Samt getragen, wenn auch nicht in diesem hellen Ton. Der Ausdruck in ihrem runden Gesicht schwankte zwischen Schmollen und Empörung. Plötzlich lächelte sie, trat auf Toret zu und schlang ihm die Arme um den Hals.

»Du siehst besser aus«, sagte sie und klopfte ihm auf die Schulter. »Gestern Nacht konnte ich all die Wunden und den Schmutz nicht ertragen. Dafür bin ich einfach zu empfindlich.«

Ja, vielleicht war sie das, dachte Toret und genoss ihren Anblick. Sie mochte nicht Teesha sein, aber sie gehörte ihm.

»Du brauchst Nahrung«, sagte sie. »Ich ziehe mich rasch an, und dann besorgen wir dir einen Leckerbissen. Du solltest alles bekommen, was du willst.« Saphir lächelte erneut und hielt es vielleicht für großzügig, an seine Bedürfnisse zu denken.

»Chane ist unterwegs«, erwiderte Toret. »Er bringt mir etwas.«

»Wir bleiben also zu Hause?«, fragte Saphir und schmollte wieder. »Ich sitze hier fest, seit die grässliche Jägerin mich angegriffen hat.«

»Du wirst die ganze Nacht zu tun haben, mit Packen«, sagte Toret sanft. »Wir verlassen Bela morgen Abend nach Einbruch der Dunkelheit. In dieser Nacht bereite ich alles vor.«

Es dauerte einige Sekunden, bis Saphir die Bedeutung der Worte begriff, und dann lachte sie.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich verlasse Bela nicht. Dieser Ort ist das Paradies. Es gibt weit und breit keine andere Stadt mit besseren Tavernen.«

»Wir verlassen Bela«, wiederholte Toret. »Wenn nicht, findet uns die Dhampir, schüttet Öl auf alles, während wir schlafen, und verbrennt das Haus am Tag. Klingt das nach einem Paradies?«

Es dämmerte Saphir, dass er es ernst meinte, und für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. Dann schrie sie, packte eine Porzellanvase und warf sie nach ihm.

Toret duckte sich, und die Vase zerbrach hinter ihm an der Wand.

Welstiel saß in der Taverne »Bei Calabar« und wartete auf Lanjow. Der letzte Traum war anstrengend gewesen, und er fühlte sich ausgelaugt. Sein sorgfältig gewobenes Netz löste sich langsam auf, Faden für Faden. Nach dem Feuer in der »Klette« hatte er Magieres Spur verloren, und jetzt beabsichtigte Rattenjunge, die Stadt zu verlassen. Welstiel trank einen Schluck Wein und zwang sich zur Ruhe. Er hatte nach Lanjow geschickt, und bestimmt traf der Vorsitzende des Stadtrats bald ein. Wenn jemand wusste, wo Magiere steckte, so Lanjow.

Es gab noch immer gewisse Möglichkeiten, wenn er Rattenjunge aufhalten und Magiere unauffällig bei ihrer Jagd helfen konnte. Aber zu viel Hilfe durfte es nicht geben. Wenn sie Rattenjunges Haus vor Einbruch der Nacht fand, hatte sie den Vorteil des Tageslichts und war nicht gezwungen, gegen mehrere Kontrahenten und auch noch einen Beschwörer anzutreten. Ihre Ausbildung musste weitergehen.

Eine dicke Frau mit ergrauendem Haar näherte sich dem Tisch.

»Seid Ihr Meister Welstiel?«, fragte sie. »Ein Junge hat gerade eine Nachricht gebracht.«

Er nickte, und sie gab ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Welstiel nahm es entgegen und las seinen Namen darauf. Die Frau bemerkte, dass ihm der kleine Finger fehlte.

»Danke«, sagte er und wandte den Blick nicht von ihr, als sie abwartend stehen blieb.

Die Frau brummte und ging.

Welstiel drehte das Papier und stellte fest: Ein Wachssiegel hielt es an der Rückseite zusammen. Er brach es und öffnete den Brief.

Lieber Freund,

ich bedauere, dass ich mich heute Abend nicht mit dir treffen kann. Die neuesten Ereignisse in Bela verlangen meine volle Aufmerksamkeit. Ich fürchte, meine Zeit ist jetzt so begrenzt, dass ich es mir nicht mehr erlauben kann, das ›Haus des Ritters‹ oder die Taverne ›Bei Calabar‹ zu besuchen.

Inzwischen hast du sicher von Lord Au’shiyns Tod gehört. Ich habe noch einmal über deinen Rat nachgedacht und darauf verzichtet, die Dhampir fortzuschicken; es ist also nicht nötig, dass wir diese Angelegenheit erneut in meinem Büro besprechen.

Ich darf dir versichern, dass sie die Unterstützung sowohl der Wache als auch der Weisen hat. Lass mich diese Gelegenheit nutzen, dir noch einmal zu danken. Leider weiß ich nicht, wann wir uns wieder treffen können.

Ich bleibe dein demütiger Freund.

Alexi Lanjow

Welstiel las den Brief noch einmal, obwohl er jedes einzelne Wort verstanden hatte.

Auf die höfliche Art eines vornehmen Herrn teilte Lanjow ihm mit, dass er im Rathaus nicht mehr willkommen war und alle Kontakte außerhalb davon ebenfalls aufhörten. Mit anderen Worten: Lanjow hatte die Beziehung zwischen ihnen beendet.

Welstiel spürte wachsende Unruhe. Er las den Brief ein weiteres Mal, und diesmal verharrte sein Blick bei dem Hinweis auf die Weisen. Lanjow hatte erwähnt, dass sie in einer früheren Kaserne untergebracht waren.

Welstiel legte einen Silbergroschen auf den Tisch und wartete nicht aufs Wechselgeld. Er verließ die Taverne, trat auf die Straße und winkte eine Kutsche herbei.

»Weißt du, wo sich die hiesige Niederlassung der Gilde der Weisen befindet?«, fragte er den Kutscher. »Bring mich dorthin.«

Irgendwo im zweiten Kreis der Stadt kletterte Chane aus der Kanalisation. Er war der Dhampir entkommen, doch etwas anderes belastete ihn: Wynn und auch Tilswith wussten nun, was er war.

Er befand sich jetzt in einem der ärmeren Stadtviertel westlich des Händlerdistrikts und brauchte noch immer Blut für Toret. An der Straßenecke unweit einer Taverne bemerkte er drei Prostituierte, doch er wählte nie jemanden aus einer Gruppe. Auf der anderen Seite stand eine einzelne junge Frau vor einer Gasse. Sie war klein, hatte glattes, schmutziges Haar und trug ein abgenutztes Musselinkleid. Die Augen waren klar, nicht trüb von Alkohol.

Chane ging zu ihr.

»Suchst du Gesellschaft?«, fragte sie. Ihre Stimme klang resigniert und freudlos, und ihr fehlten mehrere Zähne.

»Ja, aber nicht hier. Komm mit mir nach Hause.«

Sie zögerte, betrachtete seinen Mantel und die Stiefel. Wie Chane gekleidete Männer kamen nicht sehr oft in dieses Viertel.

»Ich habe ein Zimmer«, sagte sie. »Nicht weit von hier.«

Chane zeigte seinen Geldbeutel. »Ich zahle für die ganze Nacht.«

Die Frau zögerte, vom Klimpern der Münzen in Versuchung geführt, aber noch immer vorsichtig. Sie kam etwas näher, nervös und gleichzeitig entschlossen, und hakte sich bei Chane ein.

In diesem Teil der Stadt war es schwer, eine Kutsche zu finden, und erst einige Straßen weiter bekam Chane Gelegenheit dazu. Zu seiner Erleichterung versuchte die junge Frau während der Fahrt nicht, ein Gespräch zu beginnen. Als sie ihr Ziel erreichten, gingen sie gemeinsam zum Haus, und Chane stellte überrascht fest, dass die Eingangstür verriegelt war.

Er klopfte, woraufhin Tibor die Tür einen Spaltbreit öffnete und nach draußen sah. Als er Chane erkannte, öffnete er die Tür ganz und wich zurück.

Chane bedeutete seiner Begleiterin einzutreten, und Tibor wies er an: »Sag dem Herrn, dass ich zurück bin.«

Von oben kam Saphirs Geheul und das Klirren eines zerbrechenden Objekts aus Glas oder Porzellan. Die Frau sah Chane an und wirkte verunsichert.

»Du hast einen Herrn? Ich habe dich für einen gehalten.«

Chane antwortete nicht, und die Prostituierte wich zur Tür zurück.

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte sie. »Ich gehe einfach. Du schuldest mir nichts.«

Chane packte sie am Oberarm.

Die Frau schrie nicht, hob aber schnell ein Bein und zog ein Messer aus dem Stiefel. Die Klinge fuhr über Chanes Hand, und er war so überrascht, dass er die Prostituierte losließ. Doch als sie sich zur Tür umwandte, war sie bereits geschlossen, und Tibor stand stumm davor.

Chane ergriff die Frau mit einer Hand am Nacken. Zwar hatte er bereits Blut getrunken, aber der Schnitt in seiner Hand brachte den Speichel in seinem Mund zum fließen. Sie holte aus und wollte mit dem Messer zustoßen, aber Chane schloss die freie Hand um ihr Handgelenk. Es kostete ihn eine große Willensanstrengung, nicht in den Hals der Frau zu beißen.

»Ist sie für mich?«, erklang Torets Stimme hinter ihm.

»Ja … natürlich«, antwortete er.

Er verabscheute es, Toret eine solche Freude zu machen. Diese Frau, so klein sie auch war, steckte voller Vitalität und Überlebenswillen. Genauso gut hätte man einem Trunkenbold, der zu lange kein Bier mehr gehabt hatte, erlesenen Wein anbieten können.

Sie zappelte, und Chane hielt sie wie ein Geschenk. Er schloss die Hand fester um ihr Handgelenk, bis das Knirschen von Knochen zu hören war. Die Prostituierte wimmerte schmerzerfüllt und ließ das Messer fallen.

Toret schlang seine dünnen Arme um die Frau und bohrte ihr sofort die Zähne in den Hals, so schnell, dass sich Chanes Hand von ihrem Nacken löste. Er ließ auch das Handgelenk los und hielt ein verächtliches Schnaufen zurück.

So eine Vergeudung.

Im Obergeschoss fiel eine Tür zu, und es folgte das Trampeln von Schritten. Saphir erschien oben an der Treppe zum Foyer. Das normalerweise perfekt frisierte Haar war zerzaust, und sie schien einen Wutanfall zu haben, der über ihre üblichen Koller hinausging.

»Du kannst mich nicht einfach verlassen, du kleiner Nager!«, rief sie. »Ich bleibe in der Stadt, hast du gehört? Ich bleibe hier!«

Toret ließ die tote Frau fallen, öffnete den Kasack und beobachtete, wie sich die große Wunde in der Brust schloss. Ein neues Auge bildete sich in der zuvor leeren Augenhöhle, und er drehte sich zur Treppe um.

»Halt den Mund«, befahl er Saphir. »Geh jetzt und fang mit dem Packen an.«

Saphir schloss den Mund und hob eine Hand so zum Kopf, als wäre hinter ihren Augen ein plötzlicher Schmerz entstanden. Abrupt drehte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück.

»Packen?«, wiederholte Chane.

»Wir verlassen diesen Ort.«

»Meinst du das Haus?«

»Ich meine die Stadt. Wir kehren in meine Heimat zurück. Morgen Abend bestechen wir einige Matrosen, damit sie uns nach Süden zum Sumanischen Reich bringen. Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal daheim gewesen bin.« Toret zögerte. »Wenn wir bleiben, findet uns die Dhampir. Wir überleben nur, wenn wir gehen. Die Wüste wird dir gefallen – sie ist sauber.«

Toret ging die Treppe hoch und ließ die Leiche der Prostituierten auf dem Boden des Foyers zurück.

»Wenn ein Mann mit dunklem Haar und weißen Schläfen kommt …« sagte er. »Lasst ihn nicht herein.«

Dann blieb er stehen und drehte sich um.

»In einer so großen Stadt ist es sehr unwahrscheinlich, dass uns die Dhampir findet, bevor wir aufbrechen, aber wir sollten kein Risiko eingehen. Wir müssen nur noch einen weiteren Tag überstehen. Bereite einen Abwehrzauber oder eine Falle vor, irgendetwas, für den Fall, dass jemand einbricht. Etwas Einfaches, das die Dhampir aufhält und uns warnt.«

Chane wahrte die Fassung und nickte gehorsam. »Wir lassen Tihko und deinen Wolf frei – sie warnen uns bestimmt, wenn jemand versucht, sich Zutritt zu verschaffen. Außerdem ergreife ich noch einige andere Maßnahmen.«

»Nichts mit Stolperdrähten oder dergleichen«, sagte Toret. »Mach von deinen besonderen Fähigkeiten Gebrauch. Ich glaube, der Halbelf kann eine gewöhnliche Falle schon aus einer Entfernung von einer Meile erkennen.«

»Na schön«, sagte Chane. So viel dazu, dass es etwas Einfaches sein sollte.

Diese Wende der Ereignisse war beunruhigend. Wenn Toret seinen neuen Plan in die Tat umsetzte, würden sie in der folgenden Nacht auf dem Weg zum Sumanischen Reich sein. Dann erwartete sie ein Leben unter Kamelen, Nomaden und Sandflöhen. Unter solchen Umständen konnte es Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis er eine andere Gelegenheit fand, die so gute Aussichten bot wie die Dhampir.

Etwas musste unternommen werden. Aber was?

Zwar hatte Welstiel die Weisen nie besucht, aber über Lanjow im Rathaus einige von ihnen kennengelernt. Der alte Domin Tilswith war gelegentlich vorstellig geworden, um den Vorsitzenden des Rates um eine bessere Unterbringung zu bitten. Dieses Anliegen verstand Welstiel, als er die alte Kaserne sah. Das Gebäude war zwar intakt, doch es bot nicht genug Platz für eine Bibliothek und eine Handvoll Weise.

Er klopfte an die Tür. Drinnen erklang die Stimme einer Frau.

»Wer ist da?«

»Ich heiße Welstiel Massing. Einige von euch kennen mich vermutlich. Ich bin dann und wann bei Ratsmitglied Lanjow gewesen.«

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und eine junge Frau in grauem Umhang spähte nach draußen.

»Du bist Wynn, nicht wahr?«, fragte Welstiel. »Erinnerst du dich an mich? Wir sind uns im Rathaus begegnet.«

»Ja, ich erinnere mich an dich, aber es ist schon recht spät.« Sorge zeigte sich in ihrem ovalen Gesicht, und sie blickte kurz nach rechts und links über die Straße. »Bringst du eine Nachricht?«

»Nein«, erwiderte Welstiel in einem beruhigenden Tonfall. »Ich habe mit dem Vorsitzenden des Rates gesprochen und dachte mir, dass ich euch meine Hilfe anbieten sollte. Ich habe gewisse Erfahrungen mit den Dingen, die derzeit die Dhampir beschäftigen. Und soweit ich weiß, arbeitet ihr mit ihr zusammen.«

Wynn zögerte nachdenklich und wich dann zurück, damit Welstiel eintreten konnte.

»Komm herein. Bitte entschuldige, wenn ich dir übermäßig vorsichtig erscheine, aber es war ein ereignisreicher Abend für uns.«

Welstiel trat durch die Tür und verbeugte sich dankbar.

Wynn führte ihn in einen Raum, der offenbar den Zweck eines gemeinschaftlichen Arbeitszimmers erfüllte und den Gelehrten alle notwendigen Dinge zur Verfügung stellte.

»Hast du in letzter Zeit die Dhampir gesehen?«, fragte Welstiel. »Ich nehme an, sie hat eine neue Unterkunft für sich und ihren Begleiter gefunden. Ratsmitglied Lanjow ist besorgt.«

»Oh«, sagte Wynn. »Weiß er nichts davon? Ich wollte ihm Bescheid geben, aber es ist so viel geschehen. Ich dachte, Domin Tilswith hätte ihn vielleicht informiert. Bitte richte dem Vorsitzenden des Rates aus, dass Magiere und Leesil sicher bei uns untergebracht sind.«

Welstiel blieb stehen. »Sie ist hier? Jetzt?«

»Ja«, bestätigte Wynn. »Möchtest du mit ihr sprechen? Ich glaube, sie und Leesil kümmern sich in der Küche um Chap. Er hat zuvor einige Verbrennungen erlitten, aber inzwischen geht es ihm besser.«

Welstiel wollte noch nicht, dass Magiere ihn sah. Daraus hätten sich noch mehr Komplikationen ergeben.

»Ist es weit zur Küche?«, fragte er.

»Sie befindet sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes.« Wynn deutete zu einem kleineren Flur.

»Lassen wir sie ungestört. Wie kam es zu den Verbrennungen des Hunds?«

Wynn zögerte, und Welstiel vermutete: Was immer die junge Weise auch belastete, es stand mit Magiere in Verbindung. Er konzentrierte seine Willenskraft und berührte vorsichtig Wynns Selbst.

Er war ein netter älterer Mann, gleichgesinnt und gelehrt. Ein guter Zuhörer, mit dem sie offen reden konnte.

Traurig senkte sie den Blick.

»Ich habe einen Freund«, flüsterte sie. »Und er ist auch ein Freund von Domin Tilswith. Viele Stunden haben wir hier im Arbeitszimmer mit ihm verbracht. Wir haben ihm vertraut und … Sein Name lautet Chane. Als er heute Abend kam, entlarvte ihn der Hund der Dhampir als einen Edlen Toten.«

Es überraschte Welstiel nicht zu hören, dass Torets Beschwörer die Weisen der Gilde besucht hatte. Allerdings erstaunte es ihn ein wenig, wieso diese Angelegenheit Wynn so naheging.

»Er ergriff die Flucht«, fuhr sie fort, »und Chap verfolgte ihn. Aber er wehrte ihn mit Feuer ab und verschwand in der Kanalisation.«

Welstiel wartete geduldig und beobachtete das Wechselspiel der Gefühle in Wynns zartem Gesicht.

»Er ist höflich, gebildet, rücksichtsvoll …« Sie unterbrach sich. »Wenn du ihn kennen würdest, hieltest du seine wahre Identität nicht für möglich. Ich kann es selbst kaum glauben.«

Faszinierend, dachte Welstiel. Er hätte gern noch mehr gehört, aber wenn Magiere in der Nähe war, durfte er nicht länger bleiben.

»Es tut mir leid, meine Liebe«, sagte er. »Aber wenn ein Fehler gemacht worden ist, wird die Wahrheit ans Licht kommen. Wir sollten uns darauf besinnen, der Dhampir dabei zu helfen, die Wahrheit herauszufinden.«

Wynn straffte die Gestalt, und die eigene Beredsamkeit machte sie verlegen.

»Natürlich. Du bist sehr freundlich.«

Sie ging zu einem Tisch und zeigte ihm einige zusammengerollte Dokumente.

»Leesil glaubt, dass mindestens einer der Edlen Toten ein zweistöckiges Gebäude gekauft hat. Aber es geht auch um eine Frau, und ich habe keine Eigentumsurkunde gefunden, die in letzter Zeit auf den Namen einer Frau ausgestellt worden ist. Was allerdings nicht viel bedeuten muss, denn Leesil meinte, dass die Untoten dazu neigen, sich in Gruppen zusammenzuschließen.«

Welstiel wölbte die Brauen. »Wie kommt er darauf?«

»Erfahrung, nehme ich an.«

Welstiel nahm sich die Dokumente nacheinander vor. Beim fünften schob er den Finger in den Stapel darüber und blätterte gleichmäßig weiter. In jener Urkunde ging es um ein zweistöckiges Haus unweit der Innenmauer, dessen Eigentümer vor zwei Monden gewechselt hatte. Die Unterschrift lautete Toret min’Sharrêf.

Wie nahe diese junge Weise dem Ziel ihrer Suche war.

»Ich nehme an, du willst dir die wahrscheinlichsten Gebäude mit eigenen Augen ansehen«, sagte er.

Welstiel blätterte erneut durch die Unterlagen, diesmal in der anderen Richtung, und zog einzelne Dokumente hervor. Als er etwa ein Dutzend in der Hand hielt, schob er die Urkunde, die er zuvor ausgewählt hatte, unter den Stapel. Seine Auswahl reichte er Wynn.

»Dies scheinen mir die besten Möglichkeiten zu sein«, sagte er.

Wynn nahm die Pergamente entgegen. »Auf welcher Grundlage hast du deine Auswahl getroffen?«

»Sieh sie dir an …«, sagte Welstiel mit einer besonderen Intensität.

Er sprach mit tieferer Stimme, konzentrierte sich auf das Geräusch und die Vibration. Die Worte wurden zu einem Brummen in den Ohren der jungen Weisen und krochen in ihr Bewusstsein.

»Die betreffenden Gebäude sind nicht allzu weit von den Stellen entfernt, wo in letzter Zeit Menschen getötet wurden oder verschwanden. Es wird den ganzen Tag dauern, sie zu überprüfen, und das letzte Haus nehmt ihr euch kurz vor Sonnenuntergang vor. Morgen gehst du mit der Dhampir los und siehst sie dir alle an. Sie braucht deinen Rat, wie sehr sie auch widerspricht.«

Wynns starrer Blick blieb auf die Pergamente gerichtet. Sie atmete ruhig und gleichmäßig, verloren in Welstiels Worten und seiner Stimme. Wenn ihre Augen nicht geöffnet gewesen wären, hätte man meinen können, dass sie im Stehen schlief.

»Sieh mich an, Wynn«, sagte Welstiel, ohne seine Stimme zu verändern.

Die junge Frau hob den Blick.

»Vergiss, was du jetzt siehst«, sagte er gleichmäßig in der Stille des Raums. »Vergiss, dass ich hier war. Denk nur daran, was du in Händen hältst und tun musst. Besuch das letzte Haus kurz vor Sonnenuntergang.«

Er verließ das Arbeitszimmer und die alte Kaserne, hatte die Situation wieder unter Kontrolle gebracht.

»Zum Glück bin ich rechtzeitig gekommen«, teilte Leesil dem Hund mit. »Sonst hätte es dir das ganze Fell weggebrannt und du wärst so nackt gewesen wie eine gerupfte Gans.«

Magiere stand im Eingang der Küche und beobachtete, wie ihr Partner erneut den Hund untersuchte. Der Schwanz und einige andere Stellen waren angesengt, aber ansonsten war Chap in Ordnung. Sie wusste jetzt, dass der Hund gesprochene Worte verstand, und sie hätte ihm gern gesagt, was sie davon hielt, dass er hinter einem Untoten hergerannt war, ohne auf Hilfe zu warten. Und mit Leesil stand es kaum besser: Er war bereit gewesen, einfach so in die Kanalisation hinabzuklettern. Sie bildeten ein tolles Paar.

»Was grinst du so?«, fragte Leesil.

Magiere hatte ihren Gesichtsausdruck gar nicht bemerkt. Er sah lächerlich aus in dem zerrissenen Waffenrock, der es ihr erleichtert hatte, ihm durch die Dunkelheit der Nacht zu folgen.

»Morgen müssen wir dir ein Hemd besorgen. Und vielleicht auch noch andere Sachen.«

»Oh, nicht schon wieder die Kleidung«, erwiderte er. »Dies ist so weit in Ordnung. Allerdings könnte ich Stiefel gebrauchen, und hoffentlich ist inzwischen die zweite Klinge fertig.«

Ja, er hatte seine Stiefel in der brennenden »Klette« zurückgelassen, aber daran gedacht, ihr zu helfen, die Truhe – mit seinem Werkzeugkasten – nach draußen zu tragen. Magiere nahm seine Prioritäten zur Kenntnis.

»Abgesehen von so aufregenden Dingen …«, sagte Leesil. »Wie sieht unser Plan für morgen aus?«

»Wynn hat Eigentumsurkunden von Häusern, die wir uns ansehen sollten. Hoffentlich ist eins davon das gesuchte.«

Chap winselte, als er von weiteren Häusern hörte.

»In diesem Fall sind die Eigentümer keine Mitglieder des Stadtrats«, fügte Magiere hinzu.

Chap bellte und zappelte in Leesils Armen. Er klang erregt und voller Eifer.

»Es dauert nicht mehr lange bis zum Kampf«, sagte Magiere. »Wir gehen auf die gleiche Weise vor wie in Miiska. Wir betreten das Gebäude am Tag und erledigen die Untoten, bevor sie begreifen, was geschieht – und ohne alles niederzubrennen.«

Leesil warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich bin nicht derjenige, der in Bela Dinge in Flammen aufgehen lässt.«

»Das grenzt an ein Wunder«, antwortete sie und ging neben ihm und Chap in die Hocke.

Leesil blieb ernst.

»In Miiska hatte ich keine Wahl. Du warst dem Tode nahe, und ich musste die Verfolger aufhalten.« Er streckte die Hand aus und berührte das Knochenamulett an Magieres Hals. »Nach dem Einsturz der Höhle wäre ich gestorben, wenn du mir nicht Luft in die Lungen gepustet hättest. Und draußen wärst du gestorben, wenn ich dir nicht mein Blut gegeben hätte.«

Diesmal beunruhigten seine Worte Magiere nicht so sehr wie sonst. Die Umstände hatten von ihnen beiden extreme Maßnahmen verlangt, um am Leben zu bleiben. Sie wusste, wie Leesil es meinte, aber sie war auch sicher, dass er weder die volle Bedeutung seiner Worte verstand noch die Konsequenzen seines Handelns.

Magiere wich nicht zurück und verzichtete auch darauf, das Amulett aus Leesils Hand zu ziehen. Es besorgte sie, dass er in extremen Aktionen richtig aufzuleben schien, während sie darin ein notwendiges Übel sah.

»Was hast du vor, wenn dies vorbei ist, Leesil?«, fragte sie.

»Dann kehre ich heim. Was ist das für eine Frage?«

Das Feuer im Herd der Küche brannte gut, und dem Geruch von Rauch gesellte sich der Duft von getrockneten Kräutern hinzu, die neben Töpfen und Kochgeschirr hingen. Abgesehen davon roch Magiere auch Leesil. Er brauchte ein Bad, aber sie ebenfalls, und der von ihm ausgehende modrige Geruch war eigentlich gar nicht so unangenehm.

»Und wirst du dann zufrieden sein? In Miiska zu leben und in einer Taverne zu arbeiten? Genügt dir das?«

Magiere spürte, wie er das Knochenamulett losließ. Leesil nahm mit überkreuzten Beinen auf dem Boden Platz.

»Machst du dir deshalb Sorgen? Befürchtest du, dass ich ruhelos werde?«

»Unter anderem«, erwiderte Magiere vorsichtig.

»Hör zu«, sagte er ebenso vorsichtig. »Wir sitzen in der sonderbaren Küche eines Gildenhauses, das früher eine Kaserne war. Dies wird unser Leben sein. Vielleicht können wir in Miiska im ›Seelöwen‹ ruhige Monate oder auch Jahre verbringen, aber bestimmt ruft man uns erneut.«

Magiere wusste nicht genau, was er meinte.

»Ich bin an dich gebunden«, fuhr er fort. »So wie du an diesen Weg gebunden bist. Wenn wir versuchen, das zu leugnen oder einen anderen Weg zu beschreiten, schlägt das Schicksal zu und überrascht uns. Warum habe ich wohl jeden Morgen außerhalb von Miiska verbracht? Um in Form zu bleiben. Natürlich möchte ich ein ruhiges Leben im ›Seelöwen‹ führen, aber so einfach wird es nicht sein.«

Magiere dachte über die Worte nach und stellte sich widerstrebend der Erkenntnis, dass er recht hatte.

Sie hatte ihre Hoffnung auf ein beschauliches Leben nach und nach aufgeben müssen. Ihre Aktionen in Miiska waren der Grund, warum man sie in diese Stadt gerufen hatte – wie viel von dem Leben, das sie sich wünschte, würde sie nach Bela verlieren?

Mit Verlegenheit erinnerte sich Magiere daran, wie sie über Leesil geurteilt hatte. Er war bereit gewesen, sich mit ihr auf ein Leben in der Taverne einzulassen, in dem Wissen, dass es auf Dauer nicht gut gehen konnte – sie konnten den Konsequenzen ihrer bisherigen Existenz nicht entkommen. Als sie in Miiska den Brief aus Bela bekommen hatten, war sie so dumm gewesen zu versuchen, die Augen davor zu verschließen, im Gegensatz zu ihm. Er hatte bereits gewusst, was auf sie zukam, und trotzdem war er noch immer bei ihr.

»Der Weg, den ich beschreite, scheint mit jedem verstreichenden Tag schmaler zu werden«, flüsterte sie. »Und ohne dich wäre mir alles gleichgültig.«

»Ich empfinde ebenso«, sagte Leesil.

Magiere spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Aber wenn die Jagd beginnt … Dann fürchte ich die Dinge, die dir zustoßen könnten.«

Durch meine Schuld, oder durch deine eigene, dachte sie.

Zuerst schwieg Leesil. Magiere fühlte alte, eisige Furcht in der Erinnerung an sein Blut in ihrem Mund, an sein Fleisch zwischen ihren Zähnen, an sein Leben, das durch ihre Kehle strömte.

»Mir passiert schon nichts«, entgegnete er schließlich. »Ich bin nicht so leicht umzubringen.«

Eine ganze Weile saßen sie schweigend am Feuer. Chap leckte über die angesengten Stellen an seinen Seiten.

»Ich glaube, die Verbrennungen betreffen nicht nur das Fell«, sagte Leesil.

Der Themawechsel brachte keine Erleichterung. »Haben wir noch was von Tilswiths Salbe?«

Leesil stand auf. »Ich sollte ohnehin nach Vàtz sehen. Als ich ihn zu Bett gebracht habe, war er noch immer fuchsteufelswild, weil du ihn zurückgeschickt hast.«

»Macht sich sein Onkel keine Sorgen um ihn?«, fragte Magiere. »Hast du ihn nach seiner Familie gefragt?«

»Ich glaube, Milous schert sich nicht darum, wo sich der Junge aufhält. Ich vermute, dass seine Eltern tot oder seit langem fort sind. Aber Vàtz ist stark. Er kann auf sich selbst aufpassen.«

Wenn das stimmte …, überlegte Magiere. Warum hielt es Leesil dann für nötig, nach ihm zu sehen?

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er und ging zur Küchentür.

Magiere mochte sein neues fürsorgliches Wesen, das seltsam erschien, wenn man es mit der kaltblütigen Natur seiner Vergangenheit verglich. Sie tätschelte Chaps Kopf und merkte plötzlich, dass der Hund sie aufmerksam beobachtete.

Er hatte jedes Wort gehört und jaulte leise, bevor er den Kopf an Magieres Seite drückte.

Leesil ging zu ihrem Zimmer zurück und überlegte, was gerade geschehen war, und was nicht. Magiere vermutete, dass ihn ihr Leben in Miiska nicht befriedigte. Es stimmte schon, er war gern unterwegs, aber vor allem deshalb, weil er sie nicht alleinlassen wollte. Wenn sie beide zusammen waren, verstand er die Konsequenzen ihres Handelns besser und sah deutlicher, was die Zukunft für sie brachte. Zumindest in dieser Hinsicht war Magiere jetzt vielleicht entspannter, doch hinter ihrer Reserviertheit steckte mehr als nur die Furcht, dass er irgendwann ging. Zu wissen, dass er in Miiska bleiben wollte, schien sie ebenso zu beunruhigen wie die Alternative. Die ganze Sache war schlimmer als ein Katzenjammer, fand Leesil.

Weiter vorn fiel Licht durch den offenen Zugang ihres Zimmers in den Flur. Bevor er weggegangen war, hatte er dafür gesorgt, dass die kalte Lampe etwas heller strahlte. Vàtz mochte stark sein, aber er war doch nur ein Kind, wenn es um Albträume mitten in der Nacht ging.

Matteres Licht kam aus einem anderen Zimmer. Leesil ging langsamer, neugierig darauf, wer sich in jenem Raum befand. Er vermutete einen Gildenlehrling und blickte durch den Zugang.

Das Zimmer war ähnlich beschaffen wie ihre Unterkunft: zwei Etagenbetten an gegenüberliegenden Wänden, ein kleiner Tisch und Stühle an der Rückwand, aber weder Laken noch Decken. Statt einer kalten Lampe stand der brennende Rest einer Kerze am Rand des Tisches.

Leesil trat ein. Und dann erinnerte er sich.

Die Weisen fürchteten offenes Feuer im Gebäude. Keiner von ihnen hätte eine Kerze angezündet, noch dazu ohne Halter.

Eine glitzernde Linie sauste an Leesils Augen vorbei, und etwas prallte gegen seine Schultern.

Ein Knie bohrte sich ihm ins Kreuz, und Tritte trafen seine Kniebeugen. Leesil fiel mit dem Gesicht nach vorn auf den hölzernen Boden, und ein Draht legte sich ihm um den Hals. Er schaffte es nicht, eine Hand darunterzuschieben.

Als er die linke Hand bewegte, um das Stilett aus der Unterarmscheide zu lösen, schlug etwas gegen seinen Ellenbogen, und die Hand wurde taub. Bevor er es mit der anderen Hand versuchen konnte, bekam er auch dort einen Schlag an den Ellenbogen, und er verlor das Gefühl aus beiden Händen.

Der Draht schloss sich fest um Leesils Hals, behinderte aber noch nicht das Atmen.

Ein Würgedraht.

»Câtasij tú äiche so aovar!«

Die über ihm erklingende Stimme war gedämpft. Leesil hatte diesen Rhythmus schon einmal gehört und glaubte, die Worte zu erkennen, obgleich ihm ihre Bedeutung verborgen blieb.

»Ich verstehe nicht«, antwortete er. »Ich spreche deine Sprache nicht.«

Der Fremde zog den Draht noch etwas fester, und es folgte langes Schweigen.

»Sag mir, warum du hier bist … in Bela«, ertönte die Stimme des Mannes erneut.

Leesil spürte, wie zwei Knie dicht über den Ellenbogen Druck auf seine Oberarme ausübten und sie an seinen Seiten festhielten. Die Füße waren unter seine Oberschenkel gehakt der Mann hatte das Gewicht gleichmäßig verteilt. Es war eine sehr vertraute Anordnung, obwohl sich Leesil zum ersten Mal in der Position des Opfers wiederfand: Auf diese Weise hatte er andere Personen unter Kontrolle gehalten. Ein besonderer Geruch ging von dem Angreifer aus, eine seltsame Mischung aus wildem Gras, Fichtennadeln und Meeressalz. Plötzlich wusste er, wer sein Gegner war.

Ein Elf – ein Assassine, ebenso ausgebildet wie er.

Das Gefühl kehrte in die Hände zurück. Auch wenn Leesil glaubte, den Mann von sich herunterstoßen zu können – es gab keine Möglichkeit für ihn, dem Würgedraht zu entkommen. Selbst wenn er die Wahrheit sagte, würde ihm dieser Elf glauben?

»Ich jage Untote«, antwortete er.

Die Drahtschlinge wurde noch enger.

»Du lügst!«, zischte der Mann. »Und was macht der Majay-hì in der Gesellschaft eines Verräters?«

»Wovon … redest du da?«, brachte Leesil hervor. Verräter? Und was hatte Chap damit zu tun? »Frag den Hund selbst. Mir verrät er nicht viel.«

Ein bekanntes Summen kam von dem Draht, als er vom Hals fortzuckte und eine heiße, brennende Linie hinterließ. Von einem Augenblick zum anderen verschwand das Gewicht von Leesils Rücken.

Er rollte sich herum und griff nach dem Stilett, das er verloren hatte, doch es lag nicht mehr auf dem Boden. Als er auf die Beine kam, stand eine dunkle Gestalt im Flur.

Vom Kapuzenmantel über das Kettenhemd und die Hose bis zu den Stiefeln: Die Farben reichten von Kohlschwarz bis Waldgrün. Die Zipfel des Mantels waren an der Taille zusammengebunden, und ein Tuch bedeckte die untere Hälfte des Gesichts. Die Augen unter den weit geschwungenen blonden Brauen waren bernsteinfarben und groß, standen auffallend schräg und sahen Leesil an.

Der Elf hielt Leesils Stilett in der einen Hand und in der anderen die Griffe des Würgedrahts. Als Leesil das zweite Stilett aus der Unterarmscheide löste, blinzelte der Elf nicht einmal.

»Wer hat dich unsere Methoden gelehrt?«, fragte der Elf.

»Sag mir zuerst, was du meinst«, erwiderte Leesil. »Wessen Methoden? Die der Elfen?«

Die Antwort bestand aus einer kurzen Handbewegung, und das Stilett flog durch die Luft.

Leesil wich zur Seite und fing das Messer im Flug. Bevor er es drehen konnte, sprang die dunkle Gestalt im Flur auf ihn zu. Leesil schwang beide Klingen, um den Angreifer abzuwehren, doch der Elf duckte sich sofort, kam dicht vor ihm wieder in die Höhe und schlug zu.

Seine Hände trafen Leesil im Gesicht, und er fiel zu Boden. Noch im Fallen streckte er das rechte Bein, hob die Arme und blockierte die herabkommende Faust des Elfen, stieß dann erneut mit den Stiletten zu. Etwas strich ihm über die rechte Hand, wickelte sich um die Klinge und riss sie ihm aus der Hand. Leesil hakte den rechten Fuß hinter den des Elfen, hob das andere Bein und trat zu.

Der Fuß streifte den Gegner nur.

Der Elf fiel nicht, sprang zurück, landete im Flur und beobachtete Leesil. Der Würgedraht war jetzt um das Stilett geschlungen, das er eben noch geworfen hatte.

»Wer hat dich Map am’a Fiar gelehrt?«, fragte er.

Leesil behielt ihn wachsam im Auge. »Was?«

»Katze-im-Gras«, sagte er. »Der Bodenkampf.«

»Meine Mutter«, erwiderte Leesil vorsichtig. »Und mein Vater. Aber ich weiß nicht, wovon du redest.«

Langsam löste der Elf das Stilett vom Würgedraht.

»Deine Mutter ist eine Verräterin. Man macht einen Außenstehenden nicht mit den Methoden eines Anmaglâhk vertraut.«

Leesil versteifte sich, als er dieses Wort hörte.

»Was bedeutet das?«, fragte er. »Was bedeutet Anmaglâhk

Die Augen des Elfen schienen noch größer zu werden, und Leesil erkannte Verwirrung und Argwohn in dem Blick. Dann entspannte er sich, als er begriff, dass Leesil wirklich nicht wusste, was es mit dem Wort auf sich hatte.

»Du bist nicht mehr als ein Renegat, der nicht einmal seine eigene Sprache beherrscht. Beende deine Aufgabe und verlass diesen Ort.«

»Leesil?«

Magieres Stimme kam durch den Flur, begleitet von Chaps Knurren. Leesil war zu lange fortgeblieben, und sie wollten nach dem Rechten sehen. Vorsichtig näherte er sich der dunklen Gestalt.

»Wenn du ihnen etwas antust, schneide ich dich in Stücke«, warnte er. »Was auch immer dazu nötig ist.«

Der Elf blickte zur Seite und huschte durch den Flur. Leesil sprang durch die Tür.

Metall blitzte und flog seinen Beinen entgegen.

Leesil warf sich zur gegenüberliegenden Wand des Flurs, als sein eigenes Stilett, vom Würgedraht aus seiner Hand gerissen, an ihm vorbeisauste und sich in den Türpfosten bohrte. Chap lief knurrend los, aber der Elf setzte einfach über ihn hinweg und erreichte die Wand auf der rechten Seite.

Für einen Moment hockte er dort wie eine Spinne, Hände und Füße flach an der Wand und den Kopf dicht unter der Decke. Er stieß sich ab, flog und landete hinter Magiere, die zu ihm herumwirbelte.

Chap versuchte, sich noch im Laufen umzudrehen, aber Leesil schlang ihm die Arme um die Brust und hielt ihn fest.

»Ruhig«, sagte er. »Ganz ruhig.«

Chap hörte auf zu zappeln, knurrte aber weiterhin. Weiter hinten im Flur zeigte sich nichts mehr von dem »Besucher«. Magiere sah sich verwundert um und ging dann neben Leesil in die Hocke.

»Was ist los?«, fragte sie. »War das ein Elf? Dein Hals … Hat er dich angegriffen?«

Instinktiv tastete Leesil nach seinem Hals, der noch immer brannte.

»Der Draht in seiner Hand …«, fügte Magiere ruhiger hinzu. Sie sah zum Messer im Türpfosten und stellte fest, dass es sich um eine von Leesils Klingen handelte. »Und er hat sich wie du bewegt.«

Leesil senkte den Blick.

»Er ist ein gedungener Mörder, wie du früher, nicht wahr?«, sagte Magiere leise.

Leesil zögerte. »Anmaglâhk«, flüsterte er Chap zu.

Der Hund blickte durch den Flur, und aus seinem Knurren wurde ein tiefes Grollen. Dann sah er wieder Leesil an und kläffte einmal.

»Das ist ein ›Ja‹«, sagte Magiere mit Nachdruck. »Wieso reagiert ein angeblicher Elfenhund so aggressiv auf einen Elfen, wenn es doch eine Verbindung zwischen ihnen geben soll? Und was bedeutet das Wort?«

Leesil fühlte ihren Blick auf sich ruhen.

»Das Wort, Leesil«, wiederholte sie. »Assassine?«

Als Leesil das Wort nicht verstanden hatte, war der Elf sehr überrascht gewesen. Er hatte ihn einen Verräter genannt, und seine Mutter ebenfalls. Zum Verräter konnte man nur an einer Sache, Nation oder Personen gegenüber werden. Nation oder Personen konnten ausgeschlossen werden, wenn er die Worte des Elfen richtig deutete. Es ging um die Dinge, die ihn seine Mutter gelehrt hatte – galt sie deshalb als Verräterin? Das Geschick eines Assassinen und Spions … Und nur ein Anmaglâhk durfte damit vertraut gemacht werden.

»Ich glaube, es handelt sich um eine Kaste«, sagte Leesil langsam. »Die Anmaglâhk sind eine Kaste der Elfen. Und meine Mutter gehörte dazu.«

Magiere sah ihn an. Ihr Gesicht deutete darauf hin, dass sie die einzelnen Mosaiksteine zusammensetzte, und wie alles in ihrem Leben brachte die Erkenntnis mehr Fragen als Antworten.

»Warum sollte es bei Elfen eine Kaste von Assassinen geben?«, fragte sie. »Und selbst wenn das der Fall ist: Warum hatte es einer von ihnen auf dich abgesehen? Wir haben nichts mit ihnen zu tun.«

Darauf wusste Leesil keine Antwort.

Seine Mutter hatte ihn die Methoden der Assassinen gelehrt, aber nicht ihre Art. Sie hatte ihn zu einem Anmaglâhk gemacht und ihn gleichzeitig isoliert. Alle anderen Aspekte ihres Volkes hatte sie vor ihm geheim gehalten, bis hin zu ihrer Sprache. Der Elf hatte sie für alle Zeiten verdammt, obwohl sie längst tot war.

Doch der Anmaglâhk hatte gesagt: »Deine Mutter ist eine Verräterin.« Ist, nicht war. Leesil fragte sich plötzlich, ob seine Mutter vielleicht noch lebte.

Auf der anderen Straßenseite hockte Sgäile auf einem Dach und beobachtete die alte Kaserne. Er hatte die Weisheit der Ältesten und des Aoishenis-Ahâre, des Ältesten Vaters, infrage gestellt. Es war verboten, einen der ihren zu töten, und ein Halbblut mochte beschmutzt sein, gehörte aber trotzdem zu ihnen. Dieses Gesetz zu brechen … Es bedeutete, dass es um eine sehr ernste Angelegenheit ging.

Dieses Halbblut war tatsächlich mit den Methoden der Anmaglâhk vertraut, wenn auch nicht so gut wie die meisten. Andererseits wusste er nichts von seiner Art und beherrschte nicht einmal die Sprache des Volkes seiner Mutter. Welche Erklärung gab es dafür?

Aoishenis-Ahâre sah viel voraus – warum hatte er nicht den Majay-hì erwähnt? Wusste er nichts davon? Elfenhunde erschienen nur noch selten, und das galt selbst für Sgäiles Volk – warum also ausgerechnet hier, bei dem scheußlichen Verräter? Das magische Geschöpf hatte eine der Gestalten angenommen, wie man sie seit der alten Zeit nicht mehr gesehen hatte; das wusste Sgäile aus den Geschichten seiner Großmutter.

Die Präsenz des Majay-hì beunruhigte ihn ebenso sehr wie sein Versagen, und er saß lange auf dem Dach und blickte nachdenklich in die Nacht.