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An jenem Abend saß Leesil am Pharo-Tisch, und gelegentlich huschte sein Blick zu Magiere, die hinter der Theke stand, Gläser füllte und ab und zu mit den Gästen sprach. Alles hätte sich so anfühlen sollen wie vor einigen Monaten. Der »Seelöwe« zeigte sich in neuer Pracht – Leesil hätte zufrieden sein sollen.

Nach dem Feuer waren nur die Kamine des Schankraums und der Küche übrig geblieben. Ein Tischler, der sich gut an die alte Theke erinnerte, hatte eine neue geschaffen, und sie glänzte dunkel gebeizt. Das Gebäude war länger und etwas breiter als vorher. Der Kamin des Schankraums stand jetzt fast in der Mitte und war hinten ebenso offen wie vorn. Gäste gingen darum herum oder nahmen davor Platz, um sich zu wärmen.

Über dem Kamin, der Theke zugewandt, hing ein Schwert. Caleb hatte es immer wieder geschrubbt, aber es blieb fleckig und geschwärzt. Leesil hatte in Erwägung gezogen, es schleifen und in Ordnung bringen zu lassen, es sich dann aber anders überlegt. Dies war das Schwert des untoten Kriegers Rashed, den Magiere ins Feuer gelockt hatte, als der alte »Seelöwe« in Flammen aufgegangen war. Sie hatte das Schwert aus der Asche geholt, als Erinnerung daran, was Leesil und sie für Miiska getan hatten. Es wurde nicht voller Stolz und in Triumph gezeigt, sondern als Zeichen des Respekts für jene, die gestorben waren und nicht in Vergessenheit geraten sollten, zum Beispiel der Schmied Brenden, seine Schwester und Calebs Frau Beth-rae. Die Klinge symbolisierte, wen sie zum Kampf gestellt und schließlich besiegt hatten.

Die Zimmer im Obergeschoss waren größer. Vor dem Feuer hatten Leesil und Magiere ihre eigenen Räume gehabt, doch Caleb und seine fünfjährige Enkelin Rose waren in einem untergebracht gewesen. Jetzt konnte sich Rose über ein eigenes Zimmer freuen, dessen Wände Leesil für sie gestrichen hatte. Jedes Kind sollte in seinen eigenen vier Wänden aufwachsen können, fand er.

Leesil sah sich im Schankraum um, ließ den Blick über die neuen Holzwände und die gebrauchten Tische und Stühle wandern – einige von ihnen stammten aus Spenden, andere hatten sie hier und dort in der Stadt aus zweiter Hand gekauft. Wie seltsam, dachte Leesil: Wenn Rashed den ursprünglichen »Seelöwen« nicht niedergebrannt hätte, wäre er nicht zu dem geworden, was er jetzt war. Sein Blick kehrte zum Schwert des Untoten über dem Kamin zurück.

»Vielleicht sollten wir dir dankbar sein«, murmelte er, aber es lag mehr Sarkasmus als Ironie in seiner Stimme. Erneut drehte er den Kopf und sah zu Magiere.

Der lange Kampf gegen Rashed und seine »Familie« hatte sie verändert. Vorher waren sie einander nähergekommen, und es hatte die Aussicht bestanden, dass aus reiner Kameradschaft mehr werden würde. Doch im vergangenen Monat hatte sich Magiere wieder zurückgezogen und war verschlossener geworden. Sie lächelte gelegentlich und behandelte ihn gut, als Geschäftspartner und Freund, aber die Distanz zwischen ihnen wuchs. Manchmal war ihm aufgefallen, wie sie abends hinter der Theke stand und ihn stumm aus ihren großen braunen Augen ansah. Leesil achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen, um sie nicht noch mehr zu verschrecken. Ihm blieb ein Rätsel, was sie von ihm entfernt hatte, und ebenso wenig wusste er, wie er die Entfremdung rückgängig machen konnte.

An diesem Abend, zur Feier der Wiedereröffnung, trug Magiere ihr Haar offen, und es reichte in sanften Wellen über die Schultern ihres blauen Kleids, das in der Mitte geschnürt war, aber nicht zu fest. Es geschah erst zum dritten Mal, dass Leesil sie nicht in Hose, Stiefeln und einem ledernen Hemd sah. Soweit er wusste, hatte sie nur dieses eine Kleid, und sie darin zu sehen, war auf fast schmerzhafte Weise angenehm. Er hütete sich zu gaffen, denn sonst hätte sie das Kleid vielleicht aus reiner Boshaftigkeit weggelegt und nie wieder angezogen. Normalerweise war sie ganz Kriegerin, das Falchion an der Hüfte und das schwarze Haar zu einem Zopf zusammengebunden, und auch jener Anblick hatte seinen Reiz. Leesil mochte sie auf die eine Weise ebenso wie auf die andere, doch nur selten bot sich ihm die Möglichkeit, Magiere so zu sehen wie an diesem Abend.

Niemand war an einem Spiel interessiert, und so nahm Leesil die Karten und trat durchs Gedränge im Schankraum zur Theke. Dort schenkte er Magiere ein unschuldiges Lächeln. Sie zögerte kurz und erwiderte es dann.

»Wie in alten Zeiten?«, fragte sie.

»Sie sind nicht so alt«, erwiderte Leesil. »Wir hatten die Taverne noch nicht lange, als sie jemand in einen Aschehaufen verwandelte.«

Ihr finsterer Blick entlockte ihm ein weiteres Lächeln, und diesmal kam es von ganz allein. Eine verärgerte Magiere war, zumindest für den Moment, die wahre Magiere, die mindestens einmal am Tag Grund fand, verstimmt zu sein.

»Ich weiß«, sagte sie, füllte einen Krug mit Bier und stellte ihn für Caleb auf ein Tablett. »Aber wir haben endlich wieder ein Zuhause.«

Melancholie erfasste Leesil. Er wünschte sich, dass die Welt stillstand, dass er die Ewigkeit in einem Augenblick festhalten konnte, um Magiere für immer so zu bewahren, wie sie jetzt war. Die junge Frau ahnte nichts von seiner Wehmut und zog die Brauen zusammen.

»Wir müssen miteinander reden … später. Die Umstände zwingen uns, viel Geld aufzutreiben. Und ich weiß nicht, wie.«

Leesil war sofort alarmiert. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass Magiere etwas für sich behalten hatte, bis sie es schließlich zur Sprache bringen musste. Bei der letzten Gelegenheit hatte sie ihm gebeichtet, insgeheim Geld auf die Seite gelegt zu haben, um diese Taverne zu kaufen.

»Für die Steuern«, fügte Magiere hinzu.

»Welche Steuern?« Leesil hob eine Braue.

»Bei den geschäftlichen Dingen habe ich offenbar nicht an alles gedacht«, sagte Magiere. »Karlin kam heute zu mir, und du warst nicht da … Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit dir darüber zu reden.« Sie verschränkte die Arme und atmete tief durch. »Wir müssen Steuern nachzahlen. Du hast vermutlich nichts gespart, oder?«

Leesil blinzelte und wollte lachen, begriff dann aber, dass sie es ernst meinte. Aus großen Augen sah er sie an und setzte seine beste Unschuldsmiene auf.

»Ist dir wirklich klar, an wen du diese Frage richtest?«

Magiere musterte ihn und presste die Lippen zusammen. Die zornige Magiere war noch eindrucksvoller und irgendwie realer als die verärgerte.

Die Tür schwang auf, und Seeleute kamen herein.

»Es geht los für mich«, sagte Leesil. »Bestimmt wollen sie gleich spielen. Bitte schenk mir Tee ein.«

Früher hatte er abends immer roten D’areeling-Wein getrunken, aber seit zwei Monaten verzichtete er darauf. Er musste einen klaren Kopf und alle seine Sinne beisammen haben, wenn er für Magiere nützlich sein wollte. Sie holte eine Teekanne unter der Theke hervor, wo sie auf einer mit glühenden Kohlen aus dem Kamin gefüllten Eisenschüssel stand, und füllte seinen Becher.

»Wir müssen diese Sache besprechen«, beharrte Magiere und reichte Leesil den Tee. »Dies ist eine ernste Angelegenheit, und wir müssen uns damit befassen. Andernfalls riskieren wir, dies alles zu verlieren.« Sie machte eine Geste, die dem »Seelöwen« galt.

»Die Pflicht ruft«, sagte Leesil. Bevor Magiere noch etwas hinzufügen konnte, wandte er sich von der Theke ab und durchquerte den Schankraum.

Die frühen Gäste waren normalerweise Stadtbewohner, die kamen, um ein Fischgericht zu essen und ein wenig Gesellschaft zu haben. Die spätere Kundschaft bestand überwiegend aus Seeleuten und Wächtern, die trinken und spielen wollten. Derzeit befand sich eine Mischung aus beiden Gruppen im »Seelöwen«, und deshalb war die Taverne recht voll. Der junge Geoffry, Karlins Sohn, half an diesem Abend aus, und Magiere hatte ein Mädchen namens Aria auf Dauer eingestellt. Mit dem alten Caleb, der ebenfalls bediente, Magiere an der Theke und Leesil am Kartentisch waren sie gut gerüstet für einen Raum voller Gäste. Alle erfreuten sich an der neuen Umgebung, wie bei der Anprobe neuer Kleidung.

Alle bis auf Chap.

Der silberblaue Hund ging zum hundertsten Mal um den Kamin, und seine Wolfsohren bewegten sich immer wieder. Vom Kamin des alten »Seelöwen« aus hatte er den ganzen Raum beobachten können, vom Eingang bis zur Küchentür. Doch das hatte sich geändert. Um Unruhe oder einer lauten Stimme auf den Grund zu gehen, musste er um den Kamin herumlaufen, denn wo er auch saß: Er sah immer nur einen Teil des Schankraums.

Es war so laut, dass Leesil nicht sicher sein konnte, aber er glaubte, dass die ganze Zeit über ein leises Grollen von dem Hund kam. Er machte einen Umweg zum Pharo-Tisch, um Chap nicht zu nahe zu kommen.

Erneut öffnete sich die Tür der Taverne, und Leesil sah, wie Karlin hereinkam – ein willkommener Anblick. Er hatte sich gefragt, warum der korpulente Bäcker nicht schon beim Aufschließen vor der Tür gestanden hatte. Karlin war ein wahrer Freund und brauchte für den Besuch des »Seelöwen« kein Geld mitzubringen. Als hinter ihm noch jemand anders hereinkam, widmete Leesil seine Aufmerksamkeit dem Neuankömmling.

Karlins Begleiter war schlank und groß, mit einem gleitenden Schritt, der Leesil an seine Mutter erinnerte, noch bevor er das Gesicht des Mannes sah. Seidenes, weizenbraunes Haar war hinter spitze Ohren zurückgekämmt. Große, mandelförmige Augen in der Farbe von Bernstein saßen schräg in einem schmalen und langen dreieckigen Gesicht. Die Haut des Mannes war dunkler als Leesils, aber ebenso perfekt und makellos wie die seiner Mutter. Kein Zweifel: Mit Karlin kam ein vollblütiger Elf in den »Seelöwen«.

Magiere hatte Loni erwähnt, und daher wusste Leesil, dass ein Angehöriger seines Volkes in Miiska lebte, aber er hatte es nie für nötig gehalten, ihn zu besuchen. Seine Mutter hatte darauf verzichtet, ihn die Sprache zu lehren oder mit anderen Elfenangelegenheiten vertraut zu machen. Die Elfen lebten zurückgezogen und vermischten sich normalerweise nicht mit anderen Völkern, was Leesil zu einer Ausnahme machte.

Loni führte die »Samtrose«, Miiskas teuersten Gasthof, und für ihn gab es kaum Anlass, eine Taverne der einfachen Leute wie den »Seelöwen« zu besuchen. Woraus sich die Frage ergab: Warum war er gekommen, noch dazu mit Karlin? Leesil blieb auf halbem Weg zum Kartentisch stehen, an dem schon einige Seeleute warteten. Er beobachtete, wie sich Karlin über das Ende der Theke beugte und versuchte, Magiere auf sich aufmerksam zu machen.

Mit einem angedeuteten Lächeln trat sie auf ihn zu. Der Bäcker sprach kurz mit ihr, vielleicht über diese lästige Sache mit den Steuern, und Leesil spürte Ärger in sich aufsteigen. Warum hielten sich so viele Leute mit solchen Dingen auf? Früher oder später kam die Sache in Ordnung.

Der Elf Loni klopfte Karlin auf die Schulter und nickte ernst in Magieres Richtung. Karlin griff in seine Weste, holte ein zusammengerolltes Pergament hervor und reichte es ihr. Magiere runzelte verwirrt die Stirn, entrollte das Schriftstück und las.

Das Lächeln verschwand aus Magieres Gesicht.

Die Falten fraßen sich tiefer in ihre Stirn, und die Augen wurden größer. Als sie den Blick zu Karlin hob, sah Leesil deutlich, wie ihre Lippen kurz einen dünnen Strich bildeten. Der Elf sprach, und Magiere warf ihm die Pergamentrolle an die Brust und richtete einige scharfe Worte an ihn. Mehrere Gäste drehten sich zu ihr um, und Leesil setzte sich wieder in Bewegung, ging zur Theke.

Er wusste nicht, was Magiere gesagt hatte, glaubte aber, »Mistkerl« und einige schlimmere strawinische Worte gehört zu haben. Chap hatte sich irgendwie durch den Schankraum geschlängelt und erreichte die Theke vor Leesil. Der Hund knurrte Karlin und Loni an, vor allem den Elf, denn Chap mochte den Bäcker. Die Hintergrundgeräusche wurden leiser, als immer mehr Leute Magieres Stimme hörten und zu ihr sahen. Leesil setzte agil über die Theke hinweg und ergriff Magiere am Arm.

»Leise, du Drachen«, flüsterte er scherzhaft. »Du erschreckst die Bauern.«

Rote Flecken hatten sich auf Magieres blassen Wangen gebildet, und der Blick, den sie ihm zuwarf, ließ ihn alle Scherze vergessen. Sie wich von Karlin und Loni zurück, kam ihm etwas näher.

»Schaff sie fort, Leesil … Oder ich mache es auf meine Weise!«

Leesil gab jeden Gedanken daran auf, die Situation mit Humor zu entschärfen. Er schob sich an Magiere vorbei.

»In die Küche«, sagte er leise und warf dann einen Blick über die Schulter. »Komm mit, Karlin.«

Leesil zog Magiere an der Theke entlang zum Vorhang, der die Küche vom Schankraum trennte. Er war dankbar dafür, dass sie sich nicht widersetzte. Allerdings schüttelte sie seine Hand ab, und der Vorhang löste sich fast von der Stange, als sie ihn zur Seite riss und durch die Türöffnung stapfte. Leesil folgte ihr rasch.

»Was ist los?«, fragte er, zog einen Stuhl zum Küchentisch und drückte Magiere darauf hinab. Dabei fühlte er, wie ihre Schultern bebten. »Es kann doch nicht um die Steuern gehen, oder?«

Der Vorhang wurde beiseitegeschoben, und Karlin kam herein, gefolgt von Loni. Der sonst so fröhliche Bäcker wirkte betroffen und verlegen. Der Elf sah sie alle an, und sein Gesicht zeigte nur Wachsamkeit.

»Du hättest einfach Nein sagen können, Magiere«, ließ sich Loni vernehmen. »Diese Aufregung ist unnötig.«

»Hinaus«, erwiderte sie mit solchem Zorn, dass der Elf unwillkürlich zusammenzuckte.

»Und dann was? Sollen wir das Angebot zurückweisen?« Loni warf die Schriftrolle auf den Tisch. »Du weißt, dass wir mit diesem Geld das alte Lagerhaus neu errichten und gemeinschaftlich betreiben könnten. Mehr an der Küste entlangsegelnde Handelsschiffe würden unseren Hafen anlaufen. Die Geschäfte würden wieder besser gehen. Hafenarbeiter könnten anständiges Geld verdienen, und Meister Pojesk und seinesgleichen wären gezwungen, gut zu bezahlen oder zu schließen. Bauern und Handwerker könnten ihre Waren wieder en gros verkaufen.«

»Wie bitte?«, fragte Leesil, der gar nichts mehr verstand.

Karlin stand in hilflosem Schweigen da.

»Ich fasse es nicht, dass du so etwas an mich herangetragen hast«, hauchte Magiere.

Ihr Blick galt Loni. Sie schloss eine Hand um die Tischkante, als bereitete sie sich auf einen Sprung vor. Der ganze Körper war angespannt.

Leesil trat vor sie, was nicht unbedingt der beste Ort war, wenn sie einen plötzlichen Dhampir-Anfall erlitt. Dann wäre sie in der Lage gewesen, es sogar mit einem untoten Krieger aufzunehmen.

»Zeig es ihm«, sagte Loni und deutete auf Leesil. »Er hat das Lagerhaus in Brand gesetzt, nicht wahr? Vielleicht erkennt er die guten Möglichkeiten in dem Angebot, von dem du nichts wissen willst.«

Leesil verzog andeutungsweise das Gesicht, als er hörte, wie Loni ihm die Schuld am Lagerhausbrand gab, und dann spürte er Magieres Finger. Die Berührung weckte seine Aufmerksamkeit, und als er den Blick senkte, sah er, dass sie ihm das Pergament in die Hand drückte.

»Lies«, sagte sie.

Er nahm das Schriftstück und stellte fest, dass vom Wachssiegel genug übrig geblieben war, um den Abdruck darin zu erkennen. In der Mitte zeigte sich das belaskische königliche Wappen unter dem Banner der königlichen Stadt Bela. Wieder regte sich Melancholie in Leesil. Er entrollte das Pergament.

An den Rat der freien Stadt Miiska im Königreich seiner Majestät Belaski:

Durch den Ehrenwerten Vidor Chàsnitz, Reeder und Mitglied Eures Stadtrats, haben wir von Euren jüngsten wirtschaftlichen Problemen erfahren, die auf den Verlust des größten Lagerhauses zurückgehen. Wir schicken unsere und die Hoffnung Seiner Majestät, dass sich Eure Situation bald verbessern möge. Auch in diesem Zusammenhang treten wir mit einer Bitte an Euch heran, die am besten von einem Bürger Eurer Stadt erfüllt werden und zur Lösung Eurer Probleme beitragen könnte.

Aus unseren Quellen haben wir erfahren, dass in Eurer respektablen Stadt eine gewisse Magiere wohnt, eine Person, die sich durch besondere Fähigkeiten auszeichnet und mit der wir in Kontakt treten möchten. Mit großem Interesse haben wir gehört, auf welche Weise besagte Person ihre speziellen Talente in den Dienst der Stadt gestellt hat, und genau um solche Fähigkeiten und Dienste geht es uns. Wir fürchten, dass unsere große Stadt Bela die gleiche Heimsuchung erfährt, wie es vor einigen Monaten bei Miiska der Fall war. Das Muster der diesbezüglichen Verbrechen ist erst kürzlich zur Aufmerksamkeit des Rates gelangt, und zwar auf die schlimmste denkbare Weise. Die Tochter des Ratsvorsitzenden wurde vor der Treppe seines Hauses getötet. Die Umstände lassen kaum Zweifel daran, dass es sich um einen übernatürlichen Täter handelt, der es immer wieder schafft, Polizei und Wächtern zu entwischen.

Wir bitten Euren Stadtrat oder seine Beauftragten, dies Fräulein Magiere zur Kenntnis zu bringen. Wenn sie bereit ist, so möge sie sich so schnell wie möglich auf den Weg zur Hauptstadt machen. Zu diesem Zweck fügen wir Dokumente bei, die ihr und ihrem Gefährten, mit dem sie zusammenarbeitet, kostenlose Passage an Bord eines jeden nach Bela segelnden Schiffes des Königreichs garantiert.

Als Gegenleistung für ihre Dienste ist der Rat ermächtigt, ihr fünfzig königliche Goldtaler anzubieten, und hinzu kommen von Privatleuten ausgesetzte Belohnungen. Wir erwarten Eure baldige Antwort und hoffen, dass unser Angebot auf Verständnis, Anteilnahme und Pflichtbewusstsein trifft.

In aller Aufrichtigkeit

Crias Doviak, Sekretär

Im Auftrag des Stadtrats von Bela

Leesil ließ das Pergament sinken, lehnte sich an den Tisch und blickte zu Boden. Loni wartete nur einige wenige Sekunden, bevor er das Schweigen beendete.

»Du scheinst nicht überrascht zu sein«, sagte er.

»Nein«, antwortete Leesil.

»Aber … wieso?« Karlins verwirrter Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. »Darien hat uns den Brief erst heute Nachmittag gebracht. Und du wusstest bereits davon?«

»Nein«, sagte Leesil. »Ich wusste nichts von dem Brief und seinem Inhalt. Aber ich wusste, dass so etwas geschehen würde … Es ist nur schneller gegangen, als ich dachte.«

»Was sagst du da?«, fragte Magiere scharf, wenn auch nicht besonders laut.

Leesil hob den Kopf und begegnete ihrem Blick. Verwunderung lag in ihren Augen, doch die sonst so blassen Wangen waren noch immer gerötet.

»Was hast du erwartet?«, fragte er bitterer als beabsichtigt. »Wenn du dabei nur an deinen Ruf in der Provinz denkst, solltest du dir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wir haben einen offenen Kampf gegen drei Untote geführt, vor den Augen einer ganzen Stadt … einer Hafenstadt mit Seeleuten, Händlern und anderen, die während der vergangenen beiden Monate hierherkamen und weitergereist sind, obwohl es um den Handel schlechter bestellt ist. Schlimmer noch, wir haben gewonnen. Es geht nicht mehr um den Aberglauben von Bauern und Gerüchten auf dem Land.«

Der Zorn wich aus Magieres Gesicht, und ihre großen braunen Augen füllten sich mit an Panik grenzender Sorge.

Der Brief war nur der Anfang, und es würde nie zu Ende gehen.

Magiere sackte auf dem Stuhl in sich zusammen und schloss die Augen. Leesil sah Karlin an.

»Sie wissen es«, sagte er. »Sie wissen, dass Magiere und ich für den Brand des Lagerhauses verantwortlich sind, und sie setzen den Hebel bei unserer Schuld an. Andernfalls hätten sie ihr das Geld direkt angeboten. Sie wussten, dass sie ablehnen würde, nicht wahr?«

Karlin dachte kurz darüber nach und nickte dann. Trauer zeigte sich in seinem runden Gesicht.

»Ihr seid verantwortlich«, sagte Loni mit einem strengen Blick auf Leesil, bevor er wieder Magiere ansah. »Wäre es so schrecklich, jene Untoten zu vernichten und anderen so zu helfen, wie ihr uns geholfen habt? Niemand leugnet das Gute, das ihr getan habt, doch die Folgen dürfen nicht ignoriert werden. Jetzt habt ihr Gelegenheit, alles wiedergutzumachen. Seid ihr Miiska das nicht schuldig? Mit der Jagd auf Untote habt ihr euch den Lebensunterhalt verdient.«

Bei den letzten Worten schauderte Leesil unwillkürlich. Wie sollten Magiere oder er erklären, dass ihr Ruf vor dem Eintreffen in Miiska auf Scharlatanerie und Betrug basiert hatte? Magiere schlug die Hände vors Gesicht.

»Geh heim, Loni«, sagte sie. »Was auch immer du sagst … Nichts kann mich dazu bewegen, nach Bela zu reisen. Nichts.«

Der Träumende bewegte sich im Schlaf. Um ihn herum, oben und unten, erstreckte sich grenzenlose Dunkelheit. Er schwebte in ihrer stillen Mitte und wartete.

Bis die Dunkelheit zu wogen begann.

Sie rollte wie Wüstendünen unter einem sternenlosen Himmel. Doch als die Sterne zum Vorschein kamen, leuchteten sie nicht am Firmament, sondern von den Kuppen all jener Dünen. Die Bewegung wurde deutlicher, gewann Klarheit, und aus den Sternen wurde das Glitzern von verborgenem Licht auf schwarzen Reptilienschuppen. Dünen aus jenen Schuppen verwandelten sich in den Leib einer gewaltigen Schlange, höher als ein Mensch. Sie umgab ihn auf allen Seiten, auch oben und unten, und ihr gewaltiger Leib wand sich ohne Ende, schien das ganze Universum auszufüllen und sich in der Zeit bis hin zum Vergessenen zu erstrecken, zur verlorenen Geschichte der Welt.

»Wo?«, fragte er erneut. »Wo ist es? So viele Jahre sind vergangen … Jahrzehnte. Bin ich ihm näher gekommen?«

Die gleiche Frage wie immer, und nach und nach schwebten ihm kleine, rätselhafte Bilder und Worte entgegen.

Hoch … in Kälte … und Eis. Das Gewicht der geflüsterten Worte kroch ins Bewusstsein des Schlafenden und drängte seine eigenen Gedanken beiseite. Gehütet von den Alten … den Ältesten der Vorgänger.

»Wie kann ich es finden?«

Der Träumende versuchte, über den schwarzen Schlangenleib hinauszublicken und sich vorzustellen, was er suchte, aber er wusste noch nicht, wie es aussah – er wusste nur, was es zu leisten vermochte, denn davon hatte ihm die Schlange, Herrin seiner Träume, erzählt. Wenn er es in seinen Besitz brachte, würde es für immer die Natur seiner Existenz verändern. Dann brauchte er nichts mehr von außen; alles würde aus dem Innern kommen.

Der Schlangenleib wand sich enger um ihn, und er spürte Furcht und Erschöpfung. Diese Träume mit seinem namenlosen Wohltäter gaben ihm Wissen, immer ein kleines Stück nach dem anderen, doch sie erschöpften ihn. Er wäre gern geblieben, um weitere Fragen zu stellen, aber er konnte nicht.

Welstiel Massing öffnete die Augen und fand sich allein auf dem großen Bett in seinem gemieteten Zimmer wieder. Der schwarze Schlangenleib wich aus seinen Gedanken.

Es war wie jeder andere Traum: scharfe Bilder im Schlaf, doch nach dem Schlaf schnell verblassend. Er erinnerte sich an den Glanz der schwarzen Schuppen, doch nicht an das Gefühl der Stimme. Und mit jedem Traum gab ihm die Stimme weniger neue Antworten. Wenn er schließlich das versprochene Objekt bekam, würde sie ihn freigeben. Daran erinnerte er sich, und daran glaubte er.

Welstiel stand auf, nahm am Schreibtisch Platz, griff nach dem Federkiel, nahm das oberste dünne Buch von einem Stapel aus Tagebüchern und öffnete es. Er hatte sich im besten Gasthof von Miiska einquartiert, um die Privatsphäre zu finden, die er brauchte. Ohne nachzudenken, schrieb er die wenigen Dinge auf, an die er sich vom Traum erinnerte. Seine Hand zitterte ein wenig, und ihm fehlte die geistige Klarheit, die ihn normalerweise begleitete, aber es gab noch einige zusätzliche Dinge, die er hinzufügen wollte, auch wenn sie nicht gut zusammenpassten.

Das Objekt befand sich in großer Höhe, wo es kalt genug war für Schnee und Eis im ganzen Jahr. Und »Vorgänger« bewachten es. Das waren keine neuen Informationen, aber sie weckten Unbehagen in Welstiel, denn diese Details waren immer wieder genannt worden. Wie alt waren sie? So alt wie das Objekt, dem seine Suche galt? Kamen sie vielleicht aus der Zeit der vergessenen Geschichte? Stammten sie möglicherweise aus der Ära vor dem Großen Krieg?

Allein konnte er jene Vorgänger nicht finden. Das schloss er aus den Andeutungen der Schlange über die Jahre hinweg, aber er hatte Vorkehrungen getroffen, dieses Hindernis zu überwinden. Sorgfältig ausgearbeitete Pläne konnten nun zur Ausführung kommen.

Welstiel machte das Bett und zog sich an, achtete dabei auf jede Falte in Hemd, Hose und Weste. Er kämmte das dunkle Haar, und an den Schläfen zeigten sich zwei gleich große weiße Stellen. Er benutzte die rechte Hand, denn an der linken fehlte das vorderste Glied des kleinen Fingers. Er streifte einen teuren schwarzen Mantel über und zog die Kapuze über den Kopf.

Schließlich öffnete er einen kleinen Jadekasten und holte daraus einen Messingring hervor, der an der Innenseite kleine Symbole aufwies. Er schob ihn auf den Zeigefinger der rechten Hand und sammelte seine Kraft.

Wie immer sah alles um ihn herum ebenso aus wie zuvor, fühlte sich aber so an, als hätte sich die Welt von ihm getrennt und wäre sich nicht mehr seiner Präsenz bewusst. Es war viele Jahre her, seit er den Ring angefertigt hatte, und nur selten erlag er der Versuchung der Selbstbeschau, wenn er ihn trug. Er sah in den kleinen Spiegel auf dem Schreibtisch.

Das Glas zeigte ihm den eigenen vertrauten Anblick, doch es fühlte sich an, als sähe er kein Spiegelbild, sondern ein sorgfältig gemaltes Bild. Rein äußerlich gab es keine Unterschiede, doch seine Innenwelt – Gedanken, Gefühle und Präsenz – ließ sich nicht wahrnehmen.

Bevor Welstiel das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal um und kontrollierte alles. Um die Tagebücher machte er sich keine Sorgen, denn sie waren in der Sprache seines Heimatlands geschrieben, das weit jenseits des Meeres lag, in den nördlichen numanischen Gebieten. Was die anderen Bücher unter dem Schreibtisch betraf … Die verschlossenen Gurte mochten faszinierend auf jemanden wirken, der dumm genug war, den Raum zu durchsuchen, aber kein Dieb konnte sie öffnen. Und wenn er es doch versuchte, so waren die Folgen sehr unangenehm.

Auf dem Boden neben dem Bett ruhte eine Mattglaskugel auf einem schlichten eisernen Ständer. Drei Funken tanzten in dem Glas, und es ging genug Licht von ihnen aus, das kleine Zimmer matt zu erhellen. Die Kugel war Welstiels ältester Besitz, das erste Objekt, das er während seiner langen Studien geschaffen hatte. Er öffnete die Tür und sprach mit scharfer Stimme ein Wort, ohne sich umzudrehen.

»Dunkelheit.« Die Funken in der Kugel erloschen.

Nachdem Karlin und Loni gegangen waren, schaffte es Magiere, den Gästen gegenüber einigermaßen freundlich zu sein, bis der letzte von ihnen den »Seelöwen« gegen Mitternacht verließ. Sie dankte ihnen und lud sie ein, am nächsten Abend wiederzukommen. Auf der anderen Seite des Raums folgte Leesil dem gleichen Ritual, als die letzten Spieler ihre Gewinne einstrichen oder Verluste beklagten. Caleb räumte die Tische ab, stellte Geschirr und Gläser auf Tabletts, und Aria trug sie in die Küche, um dort mit dem Abwasch zu beginnen. Magiere fuhr stumpfsinnig damit fort, alles wegzuräumen. Nachdem Leesil den letzten Spieler fast hinausgeschoben hatte, ging er zur Küche.

»Lass nur, Aria«, sagte er. »Ich kümmere mich morgen früh darum.«

»Herr?«, erwiderte sie. »Dann stinkt es hier wie in der Nähe eines zerbrochenen Bierfasses.«

»Spielt keine Rolle. Lass die Sachen liegen.« Leesil sah zu Caleb zurück, der die Stühle zurechtrückte. »Könntest du bitte Aria und Geoffry nach Hause bringen?«

Normalerweise hätte Leesil die Eskorte für ihre jungen Helfer gespielt, die ihnen auch bei den Vorbereitungen für die große Wiedereröffnung zur Hand gegangen waren. Wenn Caleb diese Pflicht übernahm … Es war Magiere klar, dass ihr Partner mit ihr allein sein wollte.

»Es ist nicht nötig, dass Caleb mich nach Hause bringt«, sagte Geoffry empört. Er legte einen Stapel Feuerholz neben den Kamin und sah den Halbelf finster an. Das Gesicht unter dem braunen Wuschelhaar zeigte von Herzen kommende Entrüstung. »Um Himmels willen, Leesil, ich habe euch geholfen, gegen Wölfe und Vampire zu kämpfen. Ich kann Aria allein nach Hause begleiten.«

»Komm schon«, sagte Caleb und nahm seinen Mantel vom Haken an der Tür. »Es ist spät, aber bestimmt sind deine Eltern noch auf und warten auf dich. Zu mehreren sind wir sicherer.«

»Wenn du mitkommst, musst du allein zurückkehren«, antwortete Geoffry, der nicht so einfach klein beigeben wollte.

Caleb war über sechzig, ging ein wenig gebückt und hatte dichtes, silbergraues Haar. Er sprach nur wenig, aber seine Ausstrahlung veranlasste andere Leute zu schweigen, wenn er etwas sagte. Er richtete einen Blick auf Geoffry, der sanftes Missfallen zum Ausdruck brachte.

Der Junge seufzte, ging zur Tür und zog seine Jacke vom Haken. Er nahm auch die von Aria, als sie aus der Küche kam. Leesil entließ alle drei in die Nacht.

Magiere nahm auf der Kante des Kamins Platz, streckte die Hand nach dem in der Nähe liegenden Chap aus und kraulte ihn zwischen den Ohren. Der Hund drehte den Kopf und leckte ihre Hand. Sein silberblaues Fell war weich, und die hellen Augen schienen Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, als verstünde er ihr Leid. Ein dummer Gedanke, fand Magiere und schob ihn beiseite.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Leesil und kam auf sie zu. Er löste das Tuch von seinem Kopf und schüttelte das lange, weißblonde Haar.

Eine dumme Frage. Magiere antwortete nicht.

»Es musste schließlich passieren«, sagte er. »Ich habe es erwartet, aber bis heute nicht richtig darüber nachgedacht. Und es wird nicht das letzte Mal sein. Es spricht sich herum. Manche Leute brauchen vielleicht Hilfe, und einige von ihnen …« Leesil zögerte, als widerstrebte es ihm, die nächsten Worte auszusprechen. »Nun, einige von ihnen bieten vielleicht viel Geld an.«

»Wir brauchen ihr Geld nicht!«, entgegnete Magiere scharf.

Es war eine Lüge. Sie wusste es ebenso gut wie er.

»O nein, natürlich nicht«, erwiderte Leesil spöttisch. »Aber derzeit spreche ich nicht von uns, wie dir sehr wohl klar sein dürfte.«

Er ging in die Hocke, brachte sein Gesicht dadurch auf eine Höhe mit ihrem.

Bernsteinfarbene Augen, leicht mandelförmig und nicht so schräg wie Lonis, sahen sie unter weißblonden Brauen hinweg an. Magiere wollte den Blick abwenden, brachte es aber nicht fertig. Wie schwer es war, ihm in die Augen zu sehen, ohne dass Erinnerungen auf sie einströmten – beängstigende, blutige Erinnerungen. Sie wollte keinen Schmerz mehr in Leesils Gesicht sehen, keine Narben mehr an seinem Körper. Magieres Blick glitt zu seinem Handgelenk und dann wieder nach oben.

Sein dünnlippiger Mund schien fast immer ein schiefes Lächeln anzudeuten, aber diesmal wirkte Leesil traurig, fast bitter.

»Loni ist zu direkt«, fuhr er fort. »Doch einige seiner Worte sind wahr. Ich habe das Lagerhaus niedergebrannt … und ich würde es wieder tun, wenn es notwendig wäre, ohne zu zögern.«

Magiere entsann sich ihrer Flucht aus dem Gebäude, als Leesil es in Brand gesetzt hatte, um die Untoten aufzuhalten. Später hatte sie erfahren, dass er dabei mit großem Eifer vorgegangen war. Sie hatten versucht, die Familie der Untoten in den Tunneln unter dem Lagerhaus zu erwischen – viel zu deutlich erinnerte sich Magiere an den Kampf gegen Rashed, an ihre Verwandlung in einen Dhampir, an ihren Hass und den Blutrausch. Sein Langschwert hatte ihr den Hals aufgeschlitzt, und sie war bewusstlos geworden.

Es gab keine Erinnerungen daran, wie Leesil sie nach draußen gebracht hatte. Sie wusste nur, dass sie bei ihm zu sich gekommen war und Blut von seinem Handgelenk getrunken hatte – Blut, das sie heilte. Sie hatte sich dabei gewünscht, immer mehr zu trinken, nie damit aufzuhören …

Magiere spürte, wie ihr kalter Schweiß ausbrach, und Übelkeit schuf ein flaues Gefühl in ihrer Magengrube. Sie schluckte hart und wollte nicht, dass Leesil etwas davon bemerkte.

»Miiska leidet an den Folgen meiner Tat«, fuhr er fort und zuckte mit den Schultern. »Wir haben jetzt Gelegenheit, es wiedergutzumachen. Und noch etwas für uns zu verdienen. Die Zahlung erfolgt an dich, nicht an die Stadt. Und ein neu errichtetes, von der Stadt geführtes Lagerhaus bedeutet nicht, dass wir keinen Nutzen davon haben, weil wir es finanziert haben.«

Magiere konnte kaum glauben, solche Worte von ihm zu hören. Und dann verstand sie plötzlich.

»Du bist bereit. Du möchtest dich auf den Weg machen.«

Leesil ließ den Kopf sinken, und sein langes Haar schwang nach vorn, über die spitzen Ohren hinweg.

»Nein. Es geht nicht darum, was wir möchten. So wie ich es sehe, können wir kaum ablehnen.«

»Es ist ganz einfach. Ich habe es eben getan. Oder hast du in der Küche nicht zugehört?«

Leesil rieb sich mit einer Hand die Schläfe, strich das Haar zurück und ließ es dann wie einen Vorhang wieder nach vorn fallen.

»Willst du hier bleiben und in alle Ewigkeit die Taverne führen? Gut. Und wenn sich die wirtschaftliche Lage dieser Stadt nicht bessert? Wie sollen wir Geld verdienen, wenn die Leute mittellos sind? Was passiert mit Karlin und Geoffry? Mit Aria und ihrer Familie? Wie sollen wir Caleb genug bezahlen, damit er sich richtig um Rose kümmern kann?«

Hinter dem Vorhang aus Haaren konnte Magiere sein Gesicht nicht erkennen, und ein taubes Gefühl breitete sich in ihr aus. Hinter den Worten steckte mehr als nur die Sorge um Miiskas Wohlergehen. Leesil hatte den »Seelöwen« nie gewollt. Es war Magieres alleinige Entscheidung gewesen, ihn zu kaufen, und Leesil hatte sich erst damit abgefunden, als ihm klar wurde, dass sich seine Partnerin nicht umstimmen ließ. Jetzt schien er zu seiner alten Ablehnung zurückzukehren.

Magiere lehnte sich an die Kaminwand. »Wenn du dies machen möchtest, so sei ehrlich damit und versteck dich nicht hinter angeblichen Sorgen um das Wohl der Stadt.«

Leesil hob ruckartig den Kopf, und sein Gesicht zeigte Ärger.

»So ist das nicht, und das weißt du!« Er sank auf ein Knie, beugte sich ein wenig vor und stützte die Hände rechts und links von Magieres Beinen auf die Kante des Kamins. »Du versuchst, die ganze Sache einfach genug zu machen, um ihr keine Beachtung zu schenken, aber sie ist komplizierter.«

Magiere war erneut gezwungen, ihm in die Augen zu sehen.

Leesil beugte sich noch weiter vor, und Magiere versteifte sich.

Er drehte sich, schob seinen Körper dabei zwischen Magieres Beine, kehrte ihr den Rücken zu und lehnte sich langsam zurück. So nahe war er ihr schon lange nicht mehr gekommen, und Magiere begriff plötzlich, dass sie den Atem anhielt. Langsam holte sie Luft und versuchte, sich zu entspannen.

Zuerst belastete er sie nicht mit seinem Gewicht, berührte sie nur. Dann neigte er den Kopf nach hinten und lehnte ihn an Magieres Brustbein.

»Nichts ist einfach für uns«, sagte er leise.

Sein Körper war schlank, warm und fest. Nach dem Kampf hatte sich Magiere hingebungsvoll um ihn gekümmert und ihn gepflegt, um sein Überleben zu gewährleisten. Sie hatte ihn ausgezogen und gewaschen, ihm Verbände angelegt und vieles andere getan, damit er sich erholte. Aber auf diese Weise waren sie sich nie zuvor nahe gewesen, und das wussten sie beide.

Sie nahm den Duft seines Haars wahr, roch den Wald darin, Lavendelseife vom Bad am Nachmittag und Reste von Bier, Pfeifenrauch und anderen Tavernengerüchen. Leesil regte sich nicht und war still, blieb mit dem Rücken an Magiere gelehnt. Ihr Blick wanderte über sein flachsblondes Haar, das vorn über seine Schultern reichte. Instinktiv hob sie die Hände und legte sie ihm auf die Schultern, und dann fiel ihr Blick auf Leesils linken Arm an ihrem Oberschenkel.

Unter dem weiten, lockeren Ärmel zeigte sich die Scheide am Unterarm, darin das eine silberne Stilett, das ihm geblieben war. Dicht unter der Spitze bemerkte Magiere die Narben am Handgelenk.

Erinnerungen brodelten in ihr, und sie dachte an ihr Erwachen nach der Flucht aus dem brennenden Lagerhaus. Noch einmal fühlte sie das Blut im Mund, das ihr über die Zunge geronnen war und Leben in ihren Leib gebracht hatte, als sie es schluckte.

Leesils Blut.

Sie erinnerte sich daran, an dem Handgelenk gesaugt zu haben, das sich Leesil aufgeschnitten hatte, um ihr sein Blut anzubieten. Er hatte ihr das Handgelenk an den Mund gepresst, bis das Blut sie erwachen ließ. Während der ersten Tage in Miiska hatte sie bereits begonnen, an jedem Tag mehr an ihn zu denken, und das vermischte sich mit ihrer Gier. Er war direkt über ihr gewesen, und sie hatte ihm die Zähne ins Handgelenk gebohrt und ihn zu sich herabgezogen.

Er war so warm gewesen, so nahe, und sie hatte versucht, ihn ganz aufzunehmen, sein ganzes Leben. Wenn Brenden nicht gewesen wäre und sie fortgezogen hätte … Vielleicht hätte sie ihn getötet.

Von jenem Augenblick an verband sich ein Teil von ihr mit der Welt der Untoten, die sie besiegt und vernichtet hatte. Sie war eine Gefahr für jene, an denen ihr etwas lag, und tödlich für den Mann, der ihr am nächsten stand. Leesil merkte von alldem nichts und hätte es sogar abgestritten. Magiere wusste nicht, was sie mehr entsetzte: was sie war, oder was sie ihm antun konnte, wenn sie wieder ganz zum Dhampir wurde.

Die von ihren Zähnen stammenden Narben an seinem Handgelenk würden nie verschwinden.

Magiere stand hinter Leesil auf und war am Eingang der Küche, bevor er auf die Beine kam. Sie schloss die Hand so fest um den Rand des Vorhangs, dass ihr Unterarm schmerzte, zwang sich dann zur Ruhe, bevor sie zurücksah. Leesil musterte sie verwirrt. Selbst Chap hob den Kopf.

Zumindest was Miiska betraf, hatte Leesil recht. Wenn es der Stadt weiter so schlecht ging, würde der »Seelöwe« bald wenige Gäste haben. Dann konnten sie die Hoffnung auf ein neues Leben an diesem Ort begraben. Wenn Miiska starb, so fand auch ihre Existenz in der Stadt ein Ende.

Wenn es bei Leesils Bereitschaft, auf das Angebot in dem Brief einzugehen, allein darum gegangen wäre, ihre derzeitigen Probleme zu lösen, so hätte Magiere ihm vielleicht zugestimmt. Aber er wollte wieder losziehen und Neues erleben; er gab sich nicht mit dem zufrieden, was sie in Miiska hatten.

»Geh morgen früh zu Karlin und teil ihm mit, dass wir das Angebot annehmen«, sagte Magiere. »Wir reisen mit dem nächsten nach Norden segelnden Schiff nach Bela und nehmen dort den Kampf gegen die Untoten auf. Wenn wir … wenn die Zahlung erfolgt, kann die Stadt ein neues großes Lagerhaus errichten.«

»Magiere …« Unsicherheit vibrierte in Leesils Stimme.

»Schon gut.« Eigentlich war dies nicht seine Schuld. »Wir sollten besser mit dem Packen beginnen.«

Magiere wandte sich ab und ging durch die Küche zur hinteren Treppe. Sie war dankbar, dass er ihr nicht folgte.

Im Obergeschoss blieb sie stehen. Leesils Zimmer war das erste auf der linken Seite. Er hatte es selbst gewählt, weil er die erste Verteidigungslinie sein wollte, für den Fall, dass es zu einem neuen Angriff kam. Er war sicher, dass er es merken würde, wenn irgendjemand, der nicht hierhergehörte, die Treppe heraufkam oder durchs Fenster kletterte. Vielleicht stimmte das. Leesil hörte sehr gut.

Das nächste Zimmer war ihrs. Da sich der neue Kamin des Schankraums fast in seiner Mitte befand, führte der Rauchabzug zwischen Magieres und Leesils Zimmer nach oben und wärmte beide Räume. Calebs Zimmer lag am Ende des Flurs, und darin führte eine Tür auf der linken Seite zum vierten und letzten Raum, in dem seine Enkelin Rose schlief.

Die Einrichtung von Magieres Zimmer bestand aus einem schmalen Bett mit einer Gänsedaunendecke – ein Geschenk von Arias Mutter –, einem kleinen Tisch und einer Truhe. Sie öffnete die Truhe, um ihr altes Bündel aus der Zeit hervorzuholen, als sie mit Leesil durch das Hinterland von Strawinien gezogen war. Aber natürlich war es zusammen mit allem anderen verbrannt.

So viel war verloren gegangen. Das blaue Kleid existierte nur deshalb noch, weil sie sich in der Nacht des Brandes in der »Samtrose« umgezogen und es bei Loni zurückgelassen hatte. Leesil waren praktisch nur seine Waffen geblieben, aber er schien kaum etwas anderes zu brauchen. Er reiste immer mit wenig Gepäck.

Magiere hob die Hand zu den beiden Amuletten an ihrem Hals. Handwerkszeug. Der Topas glühte, wenn ein Edler Toter in der Nähe weilte, gab aber keine Wärme ab – sie musste ihn sehen, wenn seine Warnungen sie erreichen sollten. Das andere Amulett war seltsamer: ein halbes Oval aus Knochen auf Zinnblech. Sie hatte es nur einmal benutzt. Besser gesagt: Leesil hatte davon Gebrauch gemacht.

Ein Fremder namens Welstiel Massing hatte ihm seine Funktion erklärt und ihnen beiden Hinweise in Bezug auf die Edlen Toten gegeben. Einem Dhampir, der so schwer verletzt war, dass er Blut brauchte, musste man das Amulett auf die nackte Haut legen, damit die Lebenskraft richtig aufgenommen werden konnte. Leesil hatte diesen Rat des Fremden beherzigt, bevor er ihr sein Blut zu trinken gab. Manchmal hatte Magiere den Wunsch verspürt, die beiden Amulette einfach wegzuwerfen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie und das Falchion waren die einzigen Dinge, die ihr von ihrem Vater geblieben waren.

Sie war in Dröwinka geboren und hatte ihren Vater nie kennengelernt, während ihrer Kindheit aber das eine oder andere über ihn erfahren. Als reisender adliger Vasall hatte er zu den Leuten gehört, die für die hohen Herren die Bauern beaufsichtigten und Abgaben für das gepachtete Land sammelten. Manchmal blieb er Monate oder gar Jahre an einem Ort, aber schließlich zog er im Auftrag seiner Gebieter weiter. Man hatte ihn immer nur am frühen Abend gesehen, wenn das Licht des Tages der Dunkelheit wich und er alle Leute nach der Arbeit in ihren Häusern und Hütten antreffen konnte. Magieres Mutter war eine junge Frau aus einem Dorf unweit des Anwesens des Barons. Der Adlige nahm sie als seine Mätresse, und fast ein Jahr lang sah man sie nur noch sehr selten.

Sie hieß Magelia und starb bei der Geburt von Magiere. Ihr Vater erhielt die Anweisung, ein anderes Lehensgut aufzusuchen, und er ließ seine kleine Tochter bei der Schwester ihrer Mutter zurück, Bieja. Magelia war schön gewesen, mit langem, schwarzem Haar, ohne den rötlichen Glanz darin, der sich gelegentlich in Magieres Haar zeigte. Man sagte ihr auch ein ruhiges und sanftes Wesen nach. Magiere sah zwar wie ihre Mutter aus, hatte jedoch ein ungestümes Temperament. Während ihrer Kindheit kamen ihr immer wieder Gerüchte zu Ohren, nach denen ihr Vater ein übernatürliches Ungeheuer war, das den Tag fürchtete. Die Dorfbewohner hassten und mieden sie, mit Ausnahme ihrer Tante. Als sie sechzehn wurde, gab Bieja ihr etwas, das von ihrem Vater stammte: zwei Amulette, eine Lederrüstung und ein Falchion mit sonderbaren Symbolen am Heft. Magiere nahm das Erbe ihres Vaters entgegen und kehrte dem Dorf schließlich den Rücken, um allein in der Welt zurechtzukommen – bis sie Leesil traf.

Inzwischen wusste Magiere, dass ihr Vater ein Edler Toter gewesen war. Aus irgendeinem Grund hatte er ihr Waffen hinterlassen, mit denen sie gegen seine eigene Art kämpfen konnte. Der Grund dafür war ihr noch immer ein Rätsel.

Die Zeit mit Tante Bieja lag inzwischen lange zurück. Magiere saß in ihrem neuen Zimmer und lehnte den Kopf an den Rand der offenen Truhe. Es gab nur wenige Dinge, die sie packen musste. Die Einnahmen dieses Abends würden bei Caleb bleiben, damit er den »Seelöwen« bis zu ihrer Rückkehr führen konnte.

Sie glaubte, draußen im Flur leise Schritte zu hören, und Leesils Tür öffnete und schloss sich.

Toret lag auf einem malvenfarbenen Samtdiwan in seinem luxuriös eingerichteten Wohnzimmer und war recht zufrieden mit dem Stand der Dinge. Er richtete den Blick auf seine herrliche Geliebte. Die schöne Saphir posierte in ihrem neuen senfgelben Satingewand vor dem großen, ovalen Spiegel. Dunkelblonde Locken säumten ihr rundes, sinnliches Gesicht.

Chane, sein neuer Diener und Leibwächter, stand neben dem Kamin, lehnte sich ans Mauerwerk und wirkte wie so oft gelangweilt. So nützlich er auch sein mochte: Chane hatte wenig Phantasie, sprach selten und trug die meiste Zeit eine verdrießliche Miene zur Schau. Er war …

Wie sollte man ihn nennen? Er war nervtötend. Ja, das war er wirklich.

Aber Toret scherte sich nicht darum. In nur zwei Monden hatte er es weit gebracht. Waren tatsächlich nur zwei Monate vergangen, seit er Rashed und Teesha in Miiska zurückgelassen hatte? Es erschien ihm viel länger, und er wunderte sich darüber, wieso er all die Jahre unter Rasheds Joch gelebt hatte, obwohl er durchaus fähig war, sich eine eigene perfekte Welt zu schaffen.

Bei der Reise die Küste hinauf war er auf die große Stadt Bela gestoßen. Er hatte ganz nach Belieben getötet und Blut getrunken, seinen Opfern das Geld gestohlen und sich selbst erneuert. Er kleidete sich wie Rashed, wie ein Edelmann – sogar noch besser. Eines Nachts, während der Jagd in der Nähe eines Bordells, sah er die perfekteste Frau auf der ganzen Welt, mit strahlenden Augen, die ihn an den hellen Tageshimmel erinnerten, den er seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Er konnte sie nicht einfach töten und ihre Lebenskraft in sich aufnehmen. Sie musste ihm gehören. Seine Saphir.

Er sah eine Göttin in ihr.

Sie fachte seinen Wunsch an, jemand anders zu werden als Rattenjunge. Er änderte seinen Namen – der alte war eine Beleidigung, ihm von seinem untoten Schöpfer aufgezwungen – und nannte sich Toret. Diesen Namen hatte er als Sterblicher getragen, vor langer Zeit.

Doch Saphir konfrontierte ihn mit Bedürfnissen und Wünschen, die er nicht erfüllen konnte. Als er dem arroganten jungen Adligen Chane begegnete und ihn verwandelte, änderte sich die Situation. Chane hatte geerbt, und das Geld genügte, um ihnen Wohlstand zu garantieren. Toret verwendete einen Teil des Vermögens für den Kauf eines zweistöckigen Steinhauses am Rand eines vornehmen Viertels von Bela, im Innern des zweiten Kreises. Er fragte sich, warum er nicht schon früher versucht hatte, auf eigenen Beinen zu stehen. Warum hatte er all die Jahre unter Rasheds Kommando ertragen? Jetzt war Rashed tot – das hatte Toret zumindest gehört –, und damit gehörte dieses Problem endgültig der Vergangenheit an.

»Ist es nicht wunderschön?«, fragte Saphir und sah glücklich auf die Falten ihres neuen Kleids hinab. Es war so fest geschnürt, dass eine sterbliche Frau gar nicht mehr hätte atmen können, doch dadurch kamen ihre Brüste noch besser zur Geltung.

»Ja«, antwortete Toret. »Aber du siehst in allem hinreißend aus … und auch ohne alles.«

Chane gab ein seltsames, halb ersticktes Geräusch von sich.

Toret richtete einen leicht besorgten Blick auf Chane, als dieser sich räusperte. Jenes Geräusch kam so oft von ihm, dass sich Toret fragte, ob er ein körperliches Problem hatte, das aus seiner Existenz als Lebender stammte. Aber da es ohne Einfluss auf seine Fähigkeit blieb, ihm zu dienen, fragte er nie danach.

Dieser Raum gefiel Toret mehr als alle anderen, mit Ausnahme des Schlafzimmers, das er mit Saphir teilte. Natürlich hatte sie außerdem ihr eigenes Zimmer, für Schmuck, Kleidung und andere persönliche Dinge, aber er bestand darauf, dass sie tagsüber bei ihm ruhte.

Chane hatte die Einrichtung des Salons bestellt, und Toret wusste seine Auswahl zu schätzen. Beim Kauf des Hauses hatten der graue Kamin und der Parkettboden aus Hartholz bereits erstklassige Handwerkskunst gezeigt. Chane hatte dicke sumanische Teppiche liefern lassen, bernsteinbraun und rotgelb, und dröwinkanische Landschaftsmalereien schmückten die Wände des Treppenhauses. Tische aus hellem Eichenholz bildeten einen angenehmen Kontrast zu den anderen, dunkleren Möbeln.

Wenn Toret es nicht besser gewusst hätte, wäre er sicher gewesen, dass Chane ein wenig stolz auf das erzielte Ergebnis war. Es hatte einen Moment der Anspannung gegeben, als Toret ein lebensgroßes Porträt von Saphir in einem verzierten Bronzerahmen an der Westwand des Wohnzimmers aufgehängt hatte. Gab es etwas Schöneres als Saphir, um den Dingen den letzten Schliff zu geben?

Das Haus hatte einem reichen, aber einsiedlerischen Kaufmann gehört, der an Tuberkulose gestorben war. Das Eigentum war auf die Stadt übergegangen, und das Gebäude stand seit fast einem Jahr zum Verkauf, als Toret es erwarb. Eins seiner Vorzüge bestand aus einem Geheimgang hinter der Wand der Treppe gegenüber, woraus sich die Frage ergab, welchen Zweck er für den Kaufmann erfüllt hatte. Wie auch immer die Antwort lauten mochte, eins hatte Toret bei Rashed gelernt: die absolute Notwendigkeit alternativer Fluchtwege. In jeder Etage gab es beim Treppenabsatz einen verborgenen Zugang zu dem Geheimgang, und alle drei Bewohner des Hauses wussten davon.

Torets und Saphirs Zimmer befanden sich im zweiten Stock, und somit stand der erste Stock leer. Das Erdgeschoss enthielt den luxuriösen Salon, das Esszimmer und die Küche. Der Hauptbereich des Kellers diente ihnen als Übungsraum für den Schwertkampf, und in einem kleineren Zimmer dahinter bewahrte Chane seine Dinge auf.

Saphir wandte sich vom Spiegel ab, sah Toret an und strahlte.

»Gehen wir heute Abend aus? Ich möchte mich in diesem Kleid zeigen.«

»Wir sind gestern Abend auf die Jagd gegangen. Niemand von uns braucht Nahrung.«

Saphirs Lächeln verblasste. »Ich habe nicht von Nahrung gesprochen, oder? Ich habe gesagt, dass ich mich in meinem neuen Kleid zeigen möchte.«

Einfach nur »ausgehen« fand Toret langweilig, doch er wusste: Wenn er ablehnte, würde sie die ganze Nacht schmollen und vielleicht irgendwelche Dinge an die Wand werfen. Aber er wollte lieber zu Hause bleiben.

»Was ist mit dir, Chane?«

Sein Diener schien in Gedanken versunken zu sein, doch die letzten Worte weckten plötzlich seine Aufmerksamkeit. Für einen Moment huschte so etwas wie Furcht über sein Gesicht.

Toret starrte ihn an. Vermutlich fand Chane ebenso wenig Gefallen daran wie er, Saphir auszuführen, damit sie sich vergnügen konnte. Aber sein Gesicht zeigte kaum etwas anderes als Langeweile. Es sei denn, er jagte, und dann gab es Augenblicke, in denen er sogar Toret überraschte.

Chane straffte seine Gestalt und verschränkte die muskulösen Arme.

»Ich wollte in dieser Nacht einige Studien zu Ende führen, Herr.« Chanes Finger tasteten über eine kleine Messingkapsel an seiner Halskette.

Saphirs Schmollen steuerte auf einen Wutausbruch zu.

»Ja, ja«, sagte Toret schnell. »Aber das kann warten. Deine Herrin möchte unterhalten werden, und du möchtest doch nicht, dass sie unglücklich ist, oder?«

Eigentlich brauchte er nur einen direkten Befehl zu geben, doch Toret hatte es immer verabscheut, herumkommandiert zu werden, und deshalb versuchte er, so etwas zu vermeiden.

Chane blinzelte, und sein Blick wanderte zwischen Toret und Saphir hin und her. Er wollte etwas sagen, als es plötzlich an der Tür klopfte.

Toret runzelte die Stirn. Sie gaben sich als landlose Adlige aus und hatten einige Kontakte geknüpft, die dieser Rolle gerecht wurden – einige von ihnen sogar im Stadtrat –, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass eine der betreffenden Personen hierherkam. Wahrscheinlich handelte es sich um eine weitere Lieferung für Saphir. Toret hatte versucht, ihr Einhalt zu gebieten, aber je mehr Geld sie in die Finger bekam, desto mehr Schmuck und Kleidung kaufte sie.

»Würdest du dich bitte darum kümmern, Chane?«, sagte Toret.

»Ich wollte mich gerade in mein Zimmer zurückziehen, um die Studien fortzusetzen«, antwortete der große Diener.

Chanes mürrisches Wesen war zurückgekehrt, und Toret gab seinem Ärger nach.

»Geh zur Tür«, sagte er langsam.

In Chanes Gesicht zuckte es kurz, und Toret beobachtete, wie er sich sofort wieder fasste und ins Foyer ging. Kurze Zeit später kehrte Chane zurück und reichte ihm ein zusammengefaltetes, mit Wachs versiegeltes Papier.

»Dies wurde für dich abgegeben, Herr.«

Eine Nachricht? Toret war versucht, sie von Chane vorlesen zu lassen, aber er fürchtete, dass ihn so etwas schwach aussehen ließ. Er brach das Siegel, entfaltete das Papier und bemühte sich, die wenigen Worte zu entziffern.

Ich komme mitten in der Nacht und bringe Informationen über deine Vergangenheit in Miiska. Sei allein.

Eine Unterschrift fehlte.

»Was ist?«, fragte Saphir. »Eine Einladung? Findet eine Party statt?«

Toret konnte nicht besonders gut lesen und sah sich die Worte noch einmal an, um alles richtig zu verstehen. Unruhe erfasste ihn.

In den Gasthöfen und Tavernen am Hafen erzählte man sich, dass eine »Jägerin« in Miiska alle Untoten der Stadt vernichtet hatte, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Toret hatte überlebt. Inzwischen waren ihm so viele Versionen der Geschichte zu Ohren gekommen, dass seine Erheiterung nachgelassen hatte und er sie nicht mehr hören konnte. In letzter Zeit wurde sie nur noch selten wiederholt. Doch als Toret jetzt auf die Nachricht starrte, überlegte er fieberhaft. Niemand wusste von seiner Zeit in Miiska. War vielleicht noch jemand anders die Flucht gelungen?

Und wenn der Wüstenkrieger Rashed überlebt hatte und seinen Spuren nach Bela gefolgt war, um ihn erneut unter seinen Befehl zu zwingen?

Dieser aufgeblasene, arrogante, im Sand geborene Sohn einer … Bilder des großen, perfekten sumanischen Untoten verdrängten alle Gedanken und wischten Torets Verachtung fort. Rashed mit seinen kristallblauen Augen, so ungewöhnlich für das Volk der Sterblichen, aus dem er stammte. Sein lächerlicher Ehrenkodex und seine Fähigkeit, das Kommando zu führen … Die Vorstellung, dass Saphir unter den Einfluss eines solchen Mannes geriet, schuf tiefes Unbehagen in Toret.

Wie lange dauerte es noch bis zum höchsten Stand des Mondes?

»Chane«, sagte er schnell, »hol den Mantel deiner Herrin und bring sie zu dem Lokal ihrer Wahl.«

Saphir runzelte kurz die Stirn, doch dann erhellte sich ihre Miene. Toret wusste, dass sie von Chanes Gesellschaft nicht viel hielt, aber wenigstens konnte sie ihr neues Gewand in der Stadt tragen. Chane zögerte.

»Sofort!«, fügte Toret scharf hinzu.

Wieder zuckte es in Chanes Gesicht, und er warf seinem Gebieter einen finsteren Blick zu, ging dann aber in Richtung Foyer.

»Ich will keinen Mantel«, nörgelte Saphir. »Er zerknittert mir das Kleid.«

»Ohne würdest du seltsam aussehen«, sagte Chane. »Damen tragen Mäntel.«

»Wenn ich einen modischen Rat von dir möchte, frage ich dich«, erwiderte Saphir schnippisch.

»Er hat recht«, sagte Toret. »Zieh den Mantel an.«

Saphir gehorchte und nahm den Mantel von Chane entgegen.

»Beeilt euch«, drängte Toret. »Die Nacht ist halb vorbei. Es dauert nicht mehr lange, bis die Tavernen schließen.«

Chane warf einen argwöhnischen Blick auf ihn und das gefaltete Papier. Toret steckte es in die Hemdtasche, nahm Saphirs blasse Hand und hauchte einen Kuss darauf.

»Bring interessante Geschichten mit, mein Schatz.«

Saphirs Antwort bestand nur aus einem unsicheren Lächeln. Sie wusste nicht recht, ob sie Toret böse sein sollte, weil er sie mit Chane wegschickte, oder zufrieden darüber, dass sie ihren Willen durchgesetzt hatte.

»Ich muss ein teures Lokal besuchen, damit man dieses Gewand richtig zu schätzen weiß. Etwas mehr Geld wäre hilfreich.«

Torets Unruhe wuchs und verwandelte sich in Furcht. Rasch nahm er den Beutel von seinem Gürtel und drückte ihn Saphir in die Hand. »Hier. Das sollte mehr als genug sein.«

Sie quiekte entzückt und stolzierte hinaus. Chane folgte ihr.

»Gib gut auf sie acht!«, rief Toret ihm nach, und dann war er allein.

Ihm blieb kaum Zeit zum Nachdenken. Vielleicht hatte er absurde Schlüsse gezogen. Die Gerüchte über das Ende der Untoten von Miiska stimmten in den Einzelheiten meistens überein. Alles deutete darauf hin, dass Rasheds rußgeschwärzte Knochen in der Asche der Taverne lagen, die der verdammten Jägerin gehört hatte. Aber wenn Rashed wirklich tot war – von wem stammte dann die Nachricht? In dieser Stadt wusste niemand, dass er aus Miiska kam.

Es klopfte an der Eingangstür. Toret zögerte.

Trotz seiner Überlegungen rechnete er halb damit, dass die Tür aufschwang und Rashed hereinkam. Rattenjunge wäre zur Hintertür gelaufen, aber Toret ließ sich nicht aus seinem eigenen Revier vertreiben, Rashed zum Trotz! Er ging zur Tür, schloss die Hand fest um den Knauf und öffnete.

Ein Fremder stand vor ihm. Der Mann war größer als Toret, aber nicht annähernd so groß wie Rashed. Er schien in mittleren Jahren zu sein, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und weiße Flecken an den Schläfen. Ein teurer, schwarzer Mantel umhüllte ihn.

»Guten Abend«, sagte er mit kultiviert klingender Stimme. »Danke dafür, dass du deine Begleiter weggeschickt hast. Ich bringe Neuigkeiten in Bezug auf deine Vergangenheit, die sie sicher nicht hören sollen.« Er zögerte und musterte Toret. »Du hast dich sehr verändert. Darf ich hereinkommen?«

Offenbar kannte ihn der Fremde, was Toret überraschte. Unschlüssig stand er in der Tür, aber schließlich setzte sich die Neugier durch. Woher kannte ihn dieser Mann? Wenn ihm die Sache zu bunt wurde, konnte er ihn jederzeit töten und damit einen Schlussstrich ziehen. Er trat zurück.

»Natürlich. Komm herein.«

Der Fremde trat über die Schwelle, ging zum Salon und sah sich um.

Toret schnupperte mit der Absicht, das Blut des Mannes zu riechen. Er atmete tief ein, öffnete gleichzeitig die Augen noch ein wenig weiter, um alle Details zu sehen. Er konzentrierte seine ganze Wahrnehmung auf den Fremden …

Und fühlte nichts.

Es gab keinen Geruch, kein Prickeln in der Luft. Das Pochen eines schlagenden Herzens fehlte ebenso wie das Rauschen von Blut in den Adern. Das genügte, um Toret misstrauisch werden zu lassen, aber hinzu kam: Auch sonst nahm er nichts wahr, nicht einmal einen Hauch von Wärme. Selbst Edle Tote hatten eine gewisse Präsenz, doch dieser seltsame Besucher schien überhaupt nicht da zu sein, sah man einmal von seinem Erscheinungsbild und der raschelnden Kleidung ab.

»Wer bist du?«, fragte Toret.

Der Mann trat zum Kamin, betrachtete das Mauerwerk, drehte sich dann um und richtete den Blick auf das lebensgroße Porträt von Saphir. Er wölbte eine Braue.

»Ein Freund«, antwortete er. »Ich bin dir von Miiska gefolgt. Ich habe gesehen, was dort geschah, was die Jägerin und ihr Halbblut-Freund mit deinem Zuhause und deinen Gefährten gemacht haben.« Der Mann deutete ein Lächeln an. »Ich bin hier, um dich zu warnen. Die Jägerin kommt nach Bela, und du musst dich vorbereiten.«

Es schien Toret den Hals zuzudrücken – eine alte Reaktion aus seiner Existenz als Sterblicher, obwohl er gar nicht mehr atmen musste. Auf der ganzen Welt fürchtete er nur eine Person mehr als Rashed: die Jägerin.

»Woher … woher weißt du das?«

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Bescheid zu wissen.«

Der Mann wirkte ruhig und ernst und schien gleichzeitig sehr fern zu sein. Seine Haltung ähnelte der Chanes: gerader Rücken, der Kopf so hoch erhoben, dass der Nacken den Kragen berührte. Der Besucher war ein Adliger oder hatte einst unter Adligen gelebt. Aber Toret ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Wie kannst du davon wissen? Und warum sagst du mir dies alles?«

Der Mann zögerte und wählte seine Worte mit Bedacht.

»Belas Stadtrat hat der Jägerin ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen kann. Sie kommt hierher, um die Geschöpfe der Nacht zu vernichten, von denen der Rat die Stadt heimgesucht glaubt. Du musst für den Kampf bereit sein. Dein Diener, der verdrießliche Mann, ist mit gewissen arkanen Künsten vertraut, nicht wahr?«

Toret nickte langsam.

»Greif auf ihn zurück. Die Dhampir hat es noch nicht mit Magie zu tun bekommen, echter Magie. Und dieses Mal wird es viel schwerer sein. Sie macht die gleichen Fehler nicht zweimal, und ihr Begleiter ebenso wenig. Wiederhole deine früheren Taktiken nicht – du müsstest einen hohen Preis dafür bezahlen.«

Im Anschluss an diese Worte ging der Mann an Toret vorbei zur Tür.

»Warte!«, entfuhr es Toret, und er lief Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. »Warum erzählst du mir dies? Was hast du davon?«

Der Mann blieb kurz stehen.

»Bereite dich vor«, sagte er nur. Dann schritt er durch die Tür und schloss sie hinter sich.

Toret eilte ihm nach, riss die Tür auf und trat in die Nacht. Auf der obersten Treppenstufe blieb er stehen und sah die Straße hinauf und hinunter, die visuelle Wahrnehmung so erweitert, dass er die unterschiedlichen Arten von Schwarz in den tiefsten Schatten der Nacht sah.

Die Straße war leer.