14

Als das Licht des brennenden Gasthofs »Klette« im Süden von Bela verblasste, zeigte sich ein anderes, unbemerktes Leuchten beim nördlichen Rand der Äußeren Bucht.

Ein großes Schiff glitt dort durchs Wasser, lang und schmal, und seine schimmernden Segel reflektierten den Schein der Mondsichel. Nach einer Weile wurden die Segel eingeholt, und ein ganzes Stück vom Hafen entfernt verlor das Schiff an Fahrt. Es näherte sich dem Ufer so weit, wie es die Tiefe der Bucht erlaubte. Kurz darauf tanzte ein Schemen auf den Wellen und entfernte sich von dem Segler.

Die Barkasse, schmal wie das Schiff, erreichte das Ufer mit vier in Kapuzenmäntel gekleideten Gestalten an Bord – eine im Bug, zwei an den Rudern und eine weitere im Heck. Als das Boot auf den Sand lief, sprang der Passagier ganz vorn an Land.

Die Farben seines Mantels reichten von Kohlschwarz bis Waldgrün. Er trug einen Schal, der die untere Hälfte des Gesichts verhüllte, und die Kapuze war über den Kopf gezogen. Große, bernsteinfarbene und mandelförmige Augen sahen zur Barkasse zurück, und er hob die in einem Handschuh steckende Hand.

Die Gestalt im Heck des Bootes erwiderte die Geste und rief: »D’créohk.«

»Auf ein Ende«, wiederholte er in der Sprache des Landes, das er gerade betreten hatte.

»Und gute Jagd, Sgäile«, fügte der andere Mann hinzu.

Die Barkasse machte sich wieder auf den Weg zum Schiff, und Sgäile eilte in den Wald.

Ein leichtes Rascheln von Blättern und das Knistern von Kiefernnadeln begleitete seinen Weg, aber es waren weder Schritte noch das Knacken von Zweigen zu hören. Als er jenseits der brachliegenden Felder das erste der abseits von Bela gelegenen Dörfer sah, ließ er sich zwischen den Bäumen auf dem Boden nieder. Er wollte warten und die Stadt mittags betreten, wenn auf den Straßen reger Betrieb herrschte.

Sgäile saß still da und dachte nach. Die Nachricht hatte das Heimatland des Beobachters in der Stadt erreicht, und dann das Schiff, auf dem er stationiert gewesen war.

»Ein Halbelf?«, murmelte er.

Es gab nur wenige derartige Anomalien. Sgäile fragte sich, wieso es der Beobachter in diesem Fall für nötig gehalten hatte, eine Mitteilung durch die Bäume zu schicken, über den halben Kontinent. Er war noch nie einem Halbblut begegnet. Dieser Halbelf war als Verräter bezeichnet worden, und darin lag vermutlich Wahrheit. Denn jenes eine Halbblut, von dem Sgäile gehört hatte, war vor vielen Jahren von einem anderen Verräter an seinem Volk geboren … einer Verräterin.

Der überaus kluge Aoishenis-Ahâre – Ältester Vater – war mit all den alten Erinnerungen vertraut und kannte als Oberhaupt von Sgäiles Volk mehr Gründe, warum es die Menschen zu fürchten galt. Es stand Sgäile nicht zu, solche Weisheit infrage zu stellen, doch es beunruhigte ihn, dass er nicht wusste, warum seine Zielperson verurteilt worden war.

Er löste den quer über seine Brust reichenden Stoffstreifen und zog an seinem Ende, bis das kleine Bündel, das der Streifen auf dem Rücken gehalten hatte, auf Sgäiles Schoß ruhte. Er öffnete es, breitete sorgfältig seine Habseligkeiten aus und vergewisserte sich, dass alle in einem guten Zustand waren.

Er nahm eine Röhre aus silbrigem Metall und zwei geschwungene Objekte aus gelbbraunem Holz, setzte den Bogen zusammen und spannte ihn. Vor ihm auf dem Tuch lagen auch fünf Pfeile mit tränenförmigen Spitzen. Die Stilette trug er in den Hemdärmeln verborgen.

Sgäile legte sich den Bogen auf die Knie und nahm voller Ehrfurcht den letzten Gegenstand, einen schlichten, aber sehr gut gearbeiteten Kasten, etwa so lang wie sein Unterarm, breiter als die Hand und so tief wie das Handgelenk dick. Er öffnete ihn und inspizierte die Objekte darin, vom Würgedraht bis hin zur Knochen schneidenden Klinge. Anschließend nahm er sich die Stifte und Haken im Deckelfach vor.

Verräter, so hatte man das Halbblut genannt. Die einzige andere Sgäile bekannte Person, die so genannt worden war, hatte inzwischen bekommen, was sie verdiente. Und ihr Kind – wenn dieser Halbelf wirklich ihr Kind war – durfte nicht mit der Gnade rechnen, die sie von ihrem Volk erfahren hatte. Und von ihrer Art, den Anmaglâhk.

Magiere und Leesil gingen spät in der Nacht zu der alten Kaserne, in der die Weisen der Gilde wohnten. Die Laternen zu beiden Seiten des Eingangs brannten nicht mehr, aber Magiere hämmerte trotzdem an die Tür.

Zum Glück hatten sich ihre Hose und die Stiefel in der Truhe befunden, und deshalb musste sie nicht halb nackt durch die Stadt laufen sie hätte riskiert, von einem Wächter wegen Schamlosigkeit verhaftet zu werden. Ihr Haar war zerzaust, das weiße Hemd voller Ruß- und Blutflecken. Sie war unverletzt davongekommen, doch ihre Rippen schmerzten von dem Tritt.

Magiere wollte erneut anklopfen, als Wynn Hygeorht nach draußen sah. Sie hatte ihren grauen Umhang geschlossen und hob eine Laterne, deren Licht Magiere heller als normal erschien.

»Oh«, sagte die junge Frau. »Du bist’s.«

Sie bemerkte den spärlich bekleideten Leesil, die blutigen Kratzwunden an Hals und Schultern und Chap in seinen Armen. Magiere wusste, dass sie selbst nicht viel besser aussah.

Wynn riss besorgt die Augen auf.

»Hast du ein wenig Brot für arme Bettler?«, scherzte Leesil.

Wynn öffnete die Tür ganz. »Kommt herein.«

Vàtz kam hinter Leesil zum Vorschein. Wynns Erstaunen wuchs, aber sie winkte auch den Jungen durch die Tür.

»Was ist passiert?«, entfuhr es Wynn. »Warum trägst du Chap? Stimmt was nicht mit ihm?«

»Er lebt«, antwortete Leesil. »Aber offenbar kann er ein Vorderbein nicht belasten.«

Wynn führte sie ohne eine weitere Frage durch mehrere Flure und schließlich in die Küche, wo an dünnen Stangen unter der Decke verschiedene Kräuter zum Trocknen aufgehängt waren.

»Leg ihn auf den Tisch«, sagte Wynn. »Ich gebe Domin Tilswith Bescheid. Sein medizinisches Wissen ist größer als meins.«

Sie stellte die Laterne neben Chap auf den Tisch, zögerte kurz und schien den Hund am Kopf berühren zu wollen. Doch dann drehte sie sich um und eilte fort.

Vàtz näherte sich Chap, berührte ihn aber ebenso wenig wie Wynn. »Er stirbt doch nicht, oder?«

Sorge erklang in der Stimme des Jungen, unter dem allgemeinen Ärger. Auf dem Weg zur alten Kaserne hatte er immer wieder geflucht und zornige Fragen in Hinsicht auf das Feuer im Gasthof gestellt. Magiere hatte sich mehr als einmal auf die Zunge gebissen, um keine scharfe Antwort zu geben. Vàtz mochte ein Recht darauf haben, wütend zu sein, aber es half nicht. Sie hatten sich bereits in aller Form entschuldigt, und mehr konnten sie nicht tun.

Leesil schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, auf keinen Fall. Du wirst staunen, wie schnell er sich erholt und wieder herumläuft.«

»Gut. Ich dachte schon, der Vampir würde ihn töten.«

Als Magiere das Wort »Vampir« hörte, schloss sie kurz die Augen. Sie schätzte Vàtz auf etwa zehn Jahre, obwohl er recht klein war, vermutlich aufgrund schlechter Ernährung, doch er sprach wie selbstverständlich von Dingen, an die sie sich erst noch gewöhnen musste.

»Du hast ihn gerettet«, sagte Leesil. »Das war ein guter Schuss.«

»Ich habe auf das Auge des Mistkerls gezielt.«

Leesil strich dem Jungen übers zerzauste Haar.

»Lass das«, knurrte Vàtz. »Ich bin nicht dein Hund!« Aber er blieb an Leesils Seite.

Magiere spürte einen Anflug von Heimweh und den Wunsch, die kleine Rose im »Seelöwen« wiederzusehen. Sie hatte nie darauf geachtet, wie leicht Kinder Leesil in ihr Herz schlossen, selbst solche, die es nicht offen zeigten. Obwohl sich Vàtz eigentlich nicht wie ein Kind verhielt.

Nach der Flucht aus dem Gasthof hatte Vàtz die Nachbarn alarmiert, und sie alle halfen dabei, das Feuer zu löschen. Als die Polizei eintraf, erzählte Leesil von Räubern, die in die »Klette« eingedrungen waren. Die Wände des Erdgeschosses bestanden aus Stein, und nur eingeschossige Gebäude umgaben den Gasthof. Gemeinsam war es ihnen gelungen, eine Ausbreitung des Feuers zu verhindern, und ein Teil des Erdgeschosses konnte vielleicht gerettet werden.

Bisher hatte niemand Milous gefunden, den Inhaber der »Klette«, und Magiere fürchtete sich davor, ihm gegenüberzutreten. Sie beabsichtigte, Lanjow um Geld für den Wiederaufbau des Gasthofes zu bitten, und wenn er sich weigerte … Dann würden Leesil und sie dafür bezahlen müssen. Milous und Vàtz brauchten ein Dach über dem Kopf und mussten in der Lage sein, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Leesil ging in die Hocke und nahm Vàtz die Armbrust ab. Sie war kleiner als die meisten ihrer Art, doch ihre Länge entsprach zwei Dritteln von Vàtz’ Größe.

»Wie hast du sie geladen?«, fragte Leesil.

»Das habe ich gar nicht«, erwiderte Vàtz. »Mein Onkel lädt sie immer für mich, wenn er abends weggeht.«

»Hier sind wir sicher«, sagte Magiere. »Du brauchst die Armbrust jetzt nicht mehr.«

»Und ob ich sie brauche«, widersprach der Junge. »Ich helfe euch beim Kampf gegen die Vampire.«

Leesil sah Magiere an.

»Nein«, sagte sie und beendete damit das Thema.

»Wahrscheinlich verdient man damit mehr Geld als mit Fegen oder dem Tragen von Gepäck«, fügte Vàtz hinzu.

Leesil runzelte die Stirn, setzte sich neben dem Jungen auf den Boden und zeigte ihm, wie man die Füße an den Bogen setzte und die Knie benutzte, um die Sehne zu spannen.

Das Geräusch hastiger Schritte kam aus dem Flur. Wynn kehrte zurück, gefolgt von einem älteren, mittelgroßen Mann mit kurzem, grauen Haar und einem Bart, der einmal schwarz gewesen war. Seine hellgrünen Augen musterten die Anwesenden. Wie Wynn trug er einen einfachen grauen Umhang, und er schaffte es, gleichzeitig ruhig und besorgt zu wirken. Magiere vermutete, dass es sich um das Oberhaupt von Wynns Orden handelte, um Domin Tilswith.

Er ging zu Chap und richtete einige Worte an Wynn, die Magiere nicht verstand. Wynn nahm ein Glas aus dem Regal hinterm Tisch und reichte es dem Domin, ohne den Blick von Chap abzuwenden.

»Kannst du ihn gesund machen?«, fragte Vàtz in einem herausfordernden Ton.

Der ältere Mann sah den Jungen an und lächelte. »Ja, aber nicht weiß, ob er mich braucht.« Er sprach mit einem noch stärkeren Akzent als Wynn und wandte sich Magiere zu. »Ich Domin Tilswith, Oberhaupt neue Gildenniederlassung. Eurer Hund heilt jetzt.«

Magiere blickte dorthin, wo Tilswiths Finger Chap vorsichtig berührten. Ein kleiner Riss in der rechten Schulter des Hunds blutete nicht mehr und hatte sich geschlossen. Wynn betrachtete die Wunde ebenfalls und war sprachlos.

»Was ist mit dem Vorderbein?«, fragte Magiere. »Ist es gebrochen?«

Tilswith betastete das Bein vorsichtig, und Chap jaulte leise.

»Der Knochen in Ordnung scheint, aber …« Er zögerte und richtete erneut einige seltsam kehlig klingende Worte an Wynn.

»Es könnten sich Risse darin gebildet haben«, sagte die junge Weise.

Rasch füllte sie einen großen Holzlöffel mit Flüssigkeit in der Farbe von Tee aus dem Glas. Damit wandte sie sich dem Hund zu, zögerte dann aber und sah Magiere an.

»Dies hilft gegen die Schmerzen und erlaubt ihm zu schlafen. Vielleicht solltest du es versuchen. Er scheint vor allem auf dich zu hören.«

»In letzter Zeit nicht mehr«, erwiderte Magiere, nahm den Löffel aber entgegen.

Sie schob eine Hand unter Chaps Schnauze und hob seinen Kopf. Leesil schlang die Arme um die Schultern des Hunds, um ihn ruhig zu halten. Erstaunlicherweise widersetzte sich Chap nicht und leckte die Flüssigkeit aus dem Löffel.

»Braver Junge«, lobte Leesil.

Chap schmatzte leise und ließ den Kopf sinken.

Domin Tilswiths Blick glitt über Magiere, Leesil und Vàtz, und dann lachte er leise.

»Wir nicht oft haben Besucher des Nachts. Ich haben … Salbe? Ja, Salbe, für Wunden.« Er unterbrach sich und sah sich Leesils Kratzer an. »Klauen?«

»Fingernägel«, erwiderte Leesil.

Der Domin wölbte eine Braue und nahm ein anderes Glas. Wynn holte eine Schüssel, füllte sie mit Wasser aus einer tönernen Kanne und begann, Leesils Hals und Schulter mit einem sauberen Tuch zu waschen. Sie ging vorsichtig zu Werke, aber Leesil zuckte trotzdem zusammen, und Magiere versuchte zu erkennen, wie tief die Wunden waren.

»Es ist nicht sehr schlimm«, versicherte sie ihm.

Als Wynn fertig war, strich der Domin weiße Salbe auf Leesils Wunden.

»Gutes Zeug«, kommentierte Leesil und lächelte schief. Er bewegte die verletzte Schulter ein wenig, ohne dabei eine Grimasse zu schneiden.

»Kann ich das mitnehmen?«, fragte Magiere und deutete aufs Glas. »Ich könnte selbst etwas davon gebrauchen … später, wenn ich allein bin.«

Der Domin nickte und reichte ihr die Salbe.

»Was ist mit euch passiert?«, fragte Wynn. Sie streichelte Chaps Rücken und sah auf.

»Feuer und Blutsauger, das ist passiert«, brummte Vàtz.

Bevor Leesil etwas hinzufügen konnte, gab Magiere einen weniger bunten Bericht und beschrieb die Ereignisse der Nacht mit knappen Worten. Als sie fertig war, sprach der Domin mit Wynn. Der Alte hatte seine Probleme mit der belaskischen Sprache, und Magiere ärgerte sich darüber, nicht zu verstehen, was er sagte.

Schließlich nickte Wynn Tilswith zu und wandte sich an Magiere.

»Ihr seid bestimmt müde, und wir haben ein Zimmer für euch.«

»Ein Zimmer?«, wiederholte Magiere überrascht. »Wir wollten nur nicht auf der Straße bleiben, und außer euch kennen wir niemanden in der Stadt. Wir bleiben bis Sonnenaufgang in der Küche und suchen uns dann einen Gasthof.«

»Wir kennen Lanjow«, sagte Leesil trocken. »Vielleicht könnte er uns bei sich aufnehmen.«

Tilswith lachte leise. Wynn versuchte, einen missbilligenden Blick auf ihn zu richten, konnte ihre Erheiterung jedoch nicht verbergen. Die beiden Weisen kannten den Vorsitzenden des Stadtrats.

»Domin Tilswith meint, ihr solltet hier bleiben«, sagte Wynn. »Hier bei uns, für eure restliche Zeit in Bela. Wir haben Unterkünfte für Schriftgelehrte und Besucher. Hier seid ihr sicher und könnt euer Geld für wichtigere Dinge sparen.«

Magiere wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, aber sie entspannte sich zusehends. Diese Weisen erinnerten sie an Karlin in Miiska, der seine Großzügigkeit noch immer für völlig normal hielt. Sie sah Leesil an, um festzustellen, ob er einverstanden war.

»Danke«, sagte er zu Wynn. »Wir brauchen Ruhe.«

Er hob Chap hoch, und Wynn nahm die Laterne und führte sie durch einen Flur in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Dann half sie Magiere dabei, die Truhe zu holen. Sie brachten sie zu einem einfachen Zimmer ohne Tür und mit Etagenbetten aus Holz. Es lagen schon Decken bereit, und auf dem Tisch weiter hinten stand eine der hell leuchtenden Laternen.

»Genügt euch das?«, fragte Wynn.

»Es ist perfekt«, antwortete Magiere.

Leesil ging zum Etagenbett auf der linken Seite, legte Chap auf die untere Pritsche und deutete nach oben.

»Hinauf mit dir, Vàtz. Morgen suchen wir deinen Onkel.«

Vàtz stand noch vor der Tür. Als er Leesils Worte hörte, war er ganz offensichtlich erleichtert und kletterte zum Bett über Chap hoch.

Leesil deckte den Jungen zu. »Jäger der Untoten bleiben nachts zusammen«, sagte er.

Vàtz brummte zustimmend, zog die Decke zum Kinn hoch und schloss die Augen. Magiere fragte sich, wie oft der Junge allein zurechtkommen musste und was mit seinen Eltern geschehen war.

Wynn half Magiere, die Truhe zur Wand zu tragen, stellte dann ihre Laterne auf den Tisch und zog jene näher, die dort bereits stand. Sie nahm ihren Aufsatz aus Blech und Mattglas ab, und als sie sich zum offenen Licht vorbeugte, wollte Magiere ihr eine Warnung zurufen. Die dünnen Finger der jungen Weisen schlossen sich um das Licht. Als sie die Hand hob, folgte das Licht ihr – es steckte zwischen den Fingerkuppen.

»Was … was ist das?«, fragte Leesil und trat näher.

Wynn lächelte. »Eine kalte Lampe.«

Sie öffnete die Hand, und das Licht rollte von den Fingerkuppen auf die Handfläche. Es strahlte noch immer hell, und Magiere erkannte die schimmernden Konturen eines klaren Kristalls, nicht länger oder dicker als eins von Wynns Fingergelenken.

»Bei all dem, was wir hier aufbewahren – Schriftrollen, Bücher und andere kostbare Unterlagen –, wäre offenes Feuer ein viel zu großes Risiko«, erklärte Wynn. »Einige Mitglieder unserer Gilde sind thaumaturgische Handwerker; sie stellen die Kristalle her, die wir in unseren Lampen benutzen.« Sie streckte die Hand aus. »Hier, nimm ihn.«

Magiere stellte das Glas mit der Salbe auf die Truhe, zögerte kurz und berührte dann den Kristall. Er fühlte sich kalt an.

»Reibe ihn zwischen den Händen«, sagte Wynn.

Magiere kam der Aufforderung nach, und als sie die Hände öffnete, war das Licht so hell, dass sie den Blick davon abwandte.

»Mehr ist nicht nötig, wenn das Licht schwächer wird«, erklärte Wynn. Sie nahm den Kristall zurück, legte ihn in die Laterne und schloss sie wieder mit dem Aufsatz. »Schlaft, so lange ihr wollt, und kommt in die Küche, wenn ihr wach seid.«

Sie verließ das Zimmer und ging durch den Flur.

Als Magiere sicher sein konnte, dass die junge Weise fort war, flüsterte sie: »Vàtz?«

Der Junge brummte und drehte sich auf die Seite, schien bereits zu schlafen. Magiere wandte sich an Leesil.

»Es war der Mann aus meiner Vision. Er befand sich in meinem Zimmer.«

Für einen Moment schien Leesil nicht zu wissen, was sie meinte. Dann verstand er, aber anstatt sich darüber zu freuen, dass sie den Mörder gefunden hatten, schloss er die Augen und sank Chap gegenüber auf den Rand seines Bettes.

Magiere sah ihn verwirrt an.

»Bist du sicher?«, fragte Leesil.

»Er war wie ein Adliger in einen gut gearbeiteten schwarzen Umhang gekleidet«, antwortete Magiere. »Am Tag unserer Ankunft befand er sich nicht im Versammlungssaal des Stadtrats.« Ihre Stimme bekam einen festen Klang. »Aber er trug schwarze, gut sitzende Handschuhe. Wie viele andere Untote, die so aussehen, können wir wohl finden?«

»Oh, diese Sache ist so verworren, dass es mir schwerfällt, den Überblick zu bewahren«, brummte Leesil.

»Wie meinst du das? Ich habe ihn gesehen. Er ist der Mann, den wir suchen.«

»Glaubst du?«, erwiderte Leesil leise.

Magiere ging nicht ohne Mühe in die Hocke – Schmerz stach in ihrer Seite. Sie sah Leesil in die Augen, und er erwiderte ihren Blick, ohne zu blinzeln.

»In meinem Zimmer …«, sagte er. »Es war Rattenjunge.«

Seine Worte verbannten alles andere aus Magiere. »Rattenjunge?«

»Er sah anders aus … trug teure Kleidung«, fuhr Leesil fort. »Und diesmal schwang er ein Schwert und schien sich für einen Krieger zu halten. Aber er war’s, kein Zweifel.«

Damit hatte Magiere gewiss nicht gerechnet. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Bitte sag nicht, dass er ebenfalls schwarze Handschuhe trug.«

Auch Leesil schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

Verwunderung und Müdigkeit lösten den Rest des Zorns auf, der in Magiere entstanden war, als sie die Handschuhe des Adligen gesehen hatte. Rattenjunge, Rashed und Teesha hatten sich inmitten von gewöhnlichen Sterblichen versteckt, aber in einem kleinen, abgelegenen Ort, nicht in der Stadt des Königs. Warum sollte Rattenjunge jetzt einem irren untoten Adligen Gesellschaft leisten, der Angehörige der Oberschicht tötete und es dabei nicht einmal auf ihr Blut abgesehen hatte?

Magiere versuchte, sich wieder aufzurichten, aber auf halbem Wege krümmte sie sich zusammen, als der Schmerz in ihrer Seite sehr heftig wurde.

Leesil griff nach ihrem Hemd und hob es an. Aus einem Reflex heraus schlug sie nach seiner Hand.

»Was machst du da?«

»Ach, sei nicht prüde«, brummte er. »Du bist nicht so ungeschoren davongekommen, wie es den Anschein hat. Setz dich.«

Magiere war so müde, dass sie nicht widersprach. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass sie sich gegenseitig um ihre Verletzungen kümmerten. Sie sank ebenfalls auf den Rand des Bettes, und Leesil hob erneut ihr Hemd.

»Ah, wie ich sehe, bekommst du endlich ein wenig Farbe«, sagte er und runzelte die Stirn.

Magiere zog das Hemd so weit nach oben, dass sie selbst einen Blick auf die schmerzenden Bereiche werfen konnte. An einer Stelle ihres bleichen Oberkörpers zeigten sich gelbe Flecken. Unter der Haut ließen sich vage Schatten erkennen, Überbleibsel von blauen und schwarzen Verfärbungen. Die Blutergüsse schienen Tage alt zu sein und nicht wenige Stunden.

»Du und der Hund.« Leesil seufzte, langte an Magiere vorbei und schob die Decke zur Wand. »Nun, die Salbe sollte dir einen Teil des Schmerzes nehmen. Lehn dich zurück.«

Magiere lehnte sich zurück, und auch wenn es ihr gegen den Strich ging, wie eine Invalidin behandelt zu werden, so ließ der Schmerz kein Widerstreben aufkommen.

Leesil knöpfte das Hemd bis zum Brustbein auf, und Magiere musste sich zwingen, seine Hand nicht wegzustoßen. Er hob die Seite des Hemds, bis die Rippen sichtbar wurden, steckte die Finger dann ins Glas mit der Salbe. Magiere verzog das Gesicht, als Leesil die Salbe auftrug. Ihre Gedanken kehrten zu den Ereignissen in der Nacht zurück, die immer rätselhafter wurden.

»Was macht Rattenjunge hier in Bela?«, fragte sie. »Er war wilder als Rashed und Teesha, aber weshalb bringt er Leute um, ohne ihr Blut zu trinken. So etwas sieht ihm gar nicht ähnlich.«

»Ich habe es dir gesagt, als wir Au’shiyn verließen … Jemand treibt hier ein Spiel.« Ein Hauch Zorn lag in Leesils Stimme. »Mir war nur nicht klar, dass der kleine Mistkerl dahintersteckt.«

»Ich verstehe nicht …«, erwiderte Magiere müde.

»Überleg mal«, sagte Leesil. »Der Mörder ließ Chesna tot auf Lanjows Veranda zurück, setzte sich aber nie mit Lanjow oder dem Stadtrat in Verbindung. Warum? Einschüchterung? Vielleicht, aber aus welchem Grund? Und was haben Lanjow und der Rat unternommen?«

»Sie haben uns gebeten hierherzukommen«, antwortete Magiere.

»All die Vermissten, einige Leichen und dann Chesna … als hätte jemand geglaubt, nicht genug Aufmerksamkeit zu bekommen und deutlicher werden zu müssen.«

Magiere zögerte und konnte kaum glauben, in welche Richtung Leesils Worte zielten.

»Köder«, flüsterte sie.

Leesil nickte.

»Ja, und wir haben ihn geschluckt, so wie die Bauern, die wir jahrelang zum Narren gehalten haben. Heute Nacht hat Rattenjunge auf seine Weise eine Willkommensparty für uns veranstaltet und seine neue Familie vorgestellt.«

»Aber warum Au’shiyn?«, fragte Magiere. »Das passt nicht ins Bild, wenn die Ermordung von Adligen nur dazu diente, uns hierherzulocken. Er starb nach unserer Ankunft in der Stadt.«

»Ich weiß nicht.« Leesil schüttelte erneut den Kopf. »Die Stadt ist groß. Vielleicht konnten sie uns nicht finden und wollten, dass wir uns zeigten. Selbst am Tag, als wir uns auf den Weg zu Au’shiyn machten … Rattenjunge konnte bestimmt eine Möglichkeit finden, uns zu verfolgen.«

Leesil ließ die Hand sinken und berührte Magieres Hüfte – neuer Schmerz ließ sie zusammenzucken. Leesil zog die Hand fort, und wieder bildeten sich Falten in seiner Stirn.

»Offenbar hat auch deine Hüfte etwas abbekommen.«

»Nein, es ist alles in Ordnung«, behauptete Magiere und wollte sich aufsetzen.

»Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen«, sagte Leesil scharf und drückte sie an der Schulter zurück. »Morgen gehen wir auf die Jagd nach den Untoten, und selbst deine Selbstheilungskräfte brauchen jede Hilfe, die sie bekommen können.«

Magiere wusste, dass er recht hatte; auf die Ellenbogen gestützt lehnte sie sich zurück. Leesil öffnete ihren Gürtel und zog vorsichtig eine Seite der Hose herunter, bis die Hüfte zum Vorschein kam. Der Stiefel des Adligen hatte auch dort die Flecken von Blutergüssen hinterlassen, und ein Teil der Haut war abgeschürft.

Als Leesil die Salbe auftrug, zuckte sie nicht noch einmal zusammen – er sollte keinen Vorwand für eine weitere Bemerkung bekommen. Es dauerte nicht lange, bis sich Taubheit an der Hüfte ausbreitete und Erleichterung brachte.

Sie sah Leesil an, der noch immer bis zur Taille nackt war, und für den Moment schob sie die anderen Dinge beiseite.

»Wir brauchen ein neues Hemd für dich«, sagte Magiere ruhig.

»Du bist selbst nicht gerade bestens gekleidet«, erwiderte er. »Es sei denn, die schwarzen Flecken sind die neuen Ehrenzeichen eines Dhampirs.«

Jähe Anspannung erfasste Magiere. Sie stand auf und schloss mit etwas Mühe den Gürtel.

»Danke … jetzt ist es besser«, sagte sie.

Leesil saß da, als hätte sie ihn gerade beleidigt.

»Du solltest besser das untere Bett nehmen, für den Fall, dass du in der Nacht aufstehen musst«, sagte er.

Er kletterte nach oben, legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

Magiere streckte sich auf dem unteren Bett aus. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich Leesil neben sich wünschte, denn je näher er kam, desto größer wurde die Gefahr für ihn. Sie war noch immer ein Dhampir, und daran würde sich nichts ändern.

»Leesil?«, sagte sie leise und fragte sich, ob er noch wach war.

»Was ist?«, erwiderte er von oben.

»Wenn es eine Falle ist … warum spielen wir dann mit?« Eigentlich rechnete sie nicht mit einer Antwort und wollte nur seine Stimme hören. »Sollten wir nicht warten?«

»Nein, auf keinen Fall«, sagte er sofort.

Es folgte eine lange Pause, und Magiere wollte etwas sagen, als Leesil plötzlich hinzufügte:

»Er gehört mir. Der kleine, dreckige Mistkerl gehört mir. Ich werde zu Ende bringen, was ich in jener Nacht in Miiska nicht zu Ende gebracht habe.«

Dies war nicht die richtige Zeit für Rache, und Magiere setzte zu einer tadelnden Antwort an. Dann erinnerte sie sich an ihren Zorn, als sie den Adligen mit seinen schwarzen Handschuhen gesehen hatte.

»Vier Untote haben uns angegriffen«, sagte sie. »Bestimmt haben sie Spuren hinterlassen. Allerdings kann Chap in seinem derzeitigen Zustand keiner Fährte folgen.«

»Vielleicht brauchen wir gar nicht mehr zu suchen«, flüsterte Leesil. »Sie kommen jetzt zu uns. Und das ist mir nur recht.«

»Wir müssen ihr Versteck finden«, beharrte Magiere. »Dies ist erst vorbei, wenn wir sie alle erwischt haben.«

Leesil antwortete nicht, und kurze Zeit später deutete sein gleichmäßiges Atmen darauf hin, dass er eingeschlafen war.

Die kalte Lampe leuchtete hell auf dem Tisch. Magiere war nicht sicher, ob sie schlafen konnte. Sie lag da, hörte Leesils tiefe Atemzüge und ein gelegentliches Knarren, wenn er sich bewegte. Nach einer Weile schloss Magiere die Augen, um das Licht auszusperren.

Das eine Auge zerstochen und zitternd vor Erschöpfung öffnete Toret die Eingangstür seines Hauses. Zusammen mit Chane und Tibor wankte er ins Foyer.

Saphir saß in ihrem senffarbenen Seidengewand im Salon und riss die Augen auf. Toret wusste, dass sie einen schrecklichen Anblick boten.

Tibor hatte lange Schnittwunden an den Armen und im Gesicht. In der Mitte seines Halses zeigte sich ein geschwärztes Loch, und seine schmutzige Kleidung war zerfetzt. Chane trug nicht mehr seinen schwarzen Umhang. Etwas Scharfes hatte an der Schulter durchs Hemd geschnitten, und schwarzes Blut war über den Ärmel gelaufen. Die Wunde wollte sich nicht schließen.

Torets Zustand war am schlimmsten. Wo sich sein rechtes Auge befunden hatte, klaffte jetzt ein tiefes Loch. Die Brust war aufgeschnitten, und in der großen Wunde zeigten sich Rippen und Brustbein. Seine zerrissene Kleidung hatte sich vorn ebenso voll Blut gesaugt wie Chanes Ärmel. Aber jetzt war er zu Hause, und Saphir wartete auf ihn. Toret taumelte auf sie zu.

»Teuerste …«, brachte er hervor.

Saphirs Entsetzen wuchs, als er näher kam und ihr die Hände auf die Schultern legte, um sich abzustützen. Sie wich zurück und stieß ihn fort.

»Toret! Dies ist echte Seide.«

Verwirrt lehnte er sich ans Sofa, was dazu führte, dass noch mehr Blut über seinen Arm rann. Warum schenkte sie ihm keinen Trost?

»Das ist ein Samtsofa!«, entfuhr es Saphir. »Chane, tu etwas. Und wag es nicht, den Matrosen hereinzulassen.«

Toret starrte sie mit seinem unverletzten Auge an. »Saphir … Liebste. Wir sind verletzt und brauchen deine Hilfe.«

Sie runzelte die Stirn, als wäre dies zu viel für sie, wirbelte herum und rauschte wortlos hinaus.

Toret sah ihr fassungslos hinterher. Er hätte ihr befehlen können, zu bleiben und ihm zu helfen, aber er verzichtete darauf. Sie hätte Anteil nehmen und sich um ihn kümmern sollen, wie Teesha um Rashed, aber stattdessen floh sie voller Abscheu, weil er blutete.

Es mangelte Chane an seiner üblichen Eleganz, als er heranwankte, um ihm zu helfen.

»Du brauchst Ruhe«, sagte er. »Ebenso Tibor.«

»Ich brauche Blut«, erwiderte Toret. »Kannst du mir Nahrung beschaffen?«

Chane ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite und blickte nach draußen.

»Der Tag ist zu nahe, aber Ruhe wird dir helfen, und ich breche sofort auf, wenn die Sonne untergegangen ist.« Er sah sich die eigene offene Wunde an. »Sie schließt sich nicht. Was weißt du vom Schwert der Dhampir?«

Toret sank aufs Sofa und lehnte sich zurück. »Es ist verzaubert oder verflucht. Ich habe es selbst zu spüren bekommen.«

Chane deutete auf den im Foyer stehenden Tibor. »Was ist mit seinem Hals? So sollte sich ein Armbrustbolzen nicht bei uns auswirken.«

»Ein einfacher Trick. Er war in Knoblauchwasser getaucht … Gift für uns.« Toret schloss das Auge. »Zeig Tibor, wo er ruhen kann, und hilf mir dann.«

Es sollte eigentlich nicht Chane sein, der ihm half, sondern Saphir. Während des langen Wegs nach Hause und dem Bemühen, von niemandem gesehen zu werden, hatte Toret immer wieder daran gedacht, wie Saphir ihm die gleiche fürsorgliche Aufmerksamkeit schenken würde, die er ihr entgegengebracht hatte.

Starke Hände zogen ihn hoch, doch er stieß sie beiseite.

»Geh nach unten und ruh dich aus.«

»Ja … Herr.«

Toret ging zur Treppe und griff nach dem Geländer. Als er eine Stufe nach der anderen hinter sich brachte, hoffte er, dass ihm ein neues Auge wuchs, wenn er am kommenden Abend Blut trank. Der Halbelf hatte gewöhnliche Waffen verwendet, keine magische Klinge wie die Dhampir; Zeit und Lebenskraft sollten seine Wunden also vollkommen heilen. Doch als er Saphirs geschlossene Tür sah, fragte er sich, ob wirklich alle Wunden heilen würden.

Er zog sich allein in sein Zimmer zurück.

Welstiel saß an einem kleinen Tisch in seinem Raum und dachte nach. Auf dem Nachttischchen tanzten die drei Funken in der Mattglaskugel und erhellten das Zimmer. Sie war das älteste Objekt in seinem Besitz: der erste Gegenstand, den er im Verlauf seiner langen Studien geschaffen hatte. Es schien sehr, sehr lange her zu sein.

Er faltete die Hände und betastete dabei geistesabwesend den Stummel des kleinen Fingers. Sein Plan kam nicht reibungslos voran, und das besorgte ihn. Lanjow war bereit, die Dhampir fortzuschicken, und diese Möglichkeit hatte Welstiel nicht berücksichtigt. Magiere war eine ausgezeichnete Jägerin. Allein das sollte ihre gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten ausgleichen, selbst in Lanjows Welt. Davon war er ausgegangen.

Hinzu kam: Der armselige Rattenjunge – beziehungsweise Toret – war nicht die Herausforderung, die sich Welstiel erhofft hatte. Magiere brauchte Übung und Erfahrung. Sie musste lernen, mit mehreren Gegnern fertig zu werden und zu erwarten, dass ältere Kontrahenten über zusätzliche Fähigkeiten verfügten, die über das allgemeine Geschick der Edlen Toten hinausgingen. Rattenjunges Diener, Chane, war ein Beschwörer, und vielleicht noch mehr, doch er wurstelte herum wie ein Idiot.

Welstiel lehnte sich erschöpft zurück. Er hatte von seinen eigenen Methoden Gebrauch gemacht, um den Träumen für einige Tage zu entkommen – um die Herrin der Träume von sich fernzuhalten. Aber er musste ausruhen, zumindest ein wenig, bevor er sich anderen Dingen zuwenden konnte. Er stand auf, vergewisserte sich, dass die Tür abgeschlossen war, und sank aufs Bett.

Dem Raum schenkte er kaum Beachtung. Es war ein typisches Gasthofzimmer, angemessen für jemanden, der das »Haus des Ritters« besuchte, aber Welstiel hatte zu viele Gasthöfe von innen gesehen. Seit einiger Zeit schienen sie alle gleich zu sein. Er griff in sein Gepäck unterm Bett, holte ein Zinnfläschchen hervor, trank den Inhalt und murmelte einen Singsang. Mit der Absicht, nicht in Träume zu sinken und einfach nur eine Zeit lang zu liegen, schloss er die Augen.

Aber es war lange her, seit er zum letzten Mal geruht hatte.

Die Welt um ihn herum veränderte sich. Hohe Dünen bildeten sich, und die zahllosen Sandkörner drohten, ihn unter sich zu begraben. Aber es gab gar keinen Sand. Die Dünen waren schwarz. Bewegungen gewannen an Klarheit, und die vermeintlichen Sandkörner stellten sich als schwarze Schlangenschuppen heraus. Die Dünen wurden zum Leib einer riesigen Schlange, der ihn auf allen Seiten umgab. Langsam krümmte und wand sich dieser Leib, ohne Anfang oder Ende, ohne Zwischenräume.

»Wo?«, fragte Welstiel. »Wo befindet es sich? Es ist so viele Jahre her. Bin ich ihm näher gekommen?«

Es waren die gleichen Fragen, die er immer stellte.

Hoch … in Kälte und Eis, lautete die geflüsterte Antwort, die Welstiels Gedanken erreichte. Gehütet von den alten … den Ältesten der Vorgänger.

»Wie kann ich es finden?«

Wie immer versuchte er, hinter den schwarzen Leib zu blicken, um zu sehen, was er suchte, aber er wusste noch immer nicht, wie es aussah. Er wusste nur, was ihm die riesige Schlange versprach.

Ein Kristall oder Edelstein – etwas Einzigartiges, das die Welt lange vergessen hatte. Ausgestattet mit einer göttlichen Essenz, die ihn aus seiner derzeitigen Existenz befreien konnte.

Die Alten …

Ihm fehlte Gewissheit, aber er vermutete zumindest, was ihm die Schlange zu sagen versuchte. Für den Kampf gegen jene Wächter brauchte er Magiere, und er musste sie darauf vorbereiten. Sie würde das wichtigste Werkzeug dafür sein.

Die ständigen wogenden Bewegungen der Traumherrin erschöpften ihn. Worte huschten durch sein Bewusstsein. Er wusste nicht, ob sie von seinen eigenen Gedanken kamen oder von der gesichtslosen Schlange.

Die Schwester der Toten wird dich führen.