11
An jenem Abend stieg Chane die Treppe zu Saphirs Zimmer hoch, kurz nachdem die Nachricht für Toret eingetroffen war. Er spürte eine gewisse Beklommenheit, als er an die Tür klopfte.
»Was ist?«, erklang Torets Stimme aus dem Zimmer.
Chane öffnete vorsichtig die Tür, blieb aber im Flur stehen. Toret saß neben seiner Geliebten am Bett, auf dem nicht nur eine Satindecke lag, sondern auch ein Haufen von mindestens sechs schimmernden Nachthemden. Saphir lehnte an einem Berg aus Kissen, gekleidet in ein algengrünes Gewand.
»In diesem Zustand kann ich mich nicht selbst um mein Haar kümmern«, klagte sie. »Ich brauche ein Dienstmädchen.«
»Das ist nicht sicher, Teuerste«, erwiderte Toret und sprach wie zu einem Kind.
»Aber meine Locken! Sieh dir nur meine Locken an!«
Chane beobachtete ohne Anteilnahme, dass Saphirs dunkelblonde Locken eine wilde, zerzauste Masse bildeten.
»Man hat eine Nachricht für dich gebracht«, sagte Chane. »Soll ich sie dir vorlesen?«
Toret drehte den Kopf. »Nein. Gib sie mir.«
Chane sah sich gezwungen, das Zimmer zu betreten.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Saphir.
Toret öffnete den Umschlag, las die Nachricht und faltete sie dann wieder zusammen.
»Chane, du bleibst hier und unterhältst Saphir eine Zeit lang.«
»Hier drin?«, fragte Chane.
»Natürlich hier drin. Später verlassen wir beide das Haus, und ich möchte nicht, dass sie die ganze Nacht allein ist. Sei ihr zu Diensten, aber halte dich vom Salon fern. Ich möchte ungestört sein.«
Toret ging und schloss die Tür hinter sich. Chane rang mit seinem Abscheu, als er Saphir ansah. Man missbrauchte ihn als eine Art Hausdiener!
Saphir lächelte, und ihre großen Augen glänzten wie die einer Katze, die eine Maus erspähte. »Wie gedenkst du mich zu unterhalten?«, fragte sie.
Chane fragte sich, ob sie es als unterhaltsam empfinden würde, wenn er ihr das Genick brach.
»Ich langweile mich«, sagte sie. »Und meine Rippen tun weh. Und Toret hat mir ein hübsches Mädchen versprochen. Sorg dafür, dass er das nicht vergisst.«
»Ja, die Tochter eines Adligen. Eine Kleinigkeit, nicht wahr? Wo sollen wir nach einem solchen Leckerbissen Ausschau halten, Gnädigste?« Chane versuchte, seine Worte nicht zu sarkastisch klingen zu lassen. »Die anständigen Söhne und Töchter vornehmer Familien sind des Nachts zu Hause.«
»Toret und ich, wir haben dich gefunden, nicht wahr?« Saphirs Lächeln wuchs in die Breite. »Warst gar nicht so anständig, wie?«
Ihr Blick glitt zu seinem halb offenen Hemd. Als die Nachricht gebracht worden war, hatte sich Chane allein in seinem Kellerraum aufgehalten und sich für den von Toret geplanten Ausflug umziehen wollen.
»Und heute Abend bist du auch nicht anständig«, fügte Saphir hinzu.
Dem Abscheu gesellte sich vage Furcht hinzu. Wenn er das Zimmer einfach verließ, würde sie kreischen. Dann kehrte Toret zurück und befahl ihm zu bleiben. Vielleicht vermutete Toret sogar, dass er Saphir zu nahe getreten war. Was auch immer der Fall sein mochte: Er würde in eine schwierige Situation geraten.
»Wie wär’s mit einem Kartenspiel?«, fragte Chane rasch.
Saphir blinzelte, und aufrichtige Überraschung zeigte sich in ihrem runden Gesicht.
»Du würdest Karten mit mir spielen? Im Ernst? Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal Karten gespielt habe …« Saphir deutete in die Ecke. »Wir können das weiße Tablett benutzen, wenn du es aufs Bett legst.«
»Zuerst muss ich uns ein Kartenspiel beschaffen«, sagte Chane. »Es sei denn, du hast hier eins.«
Damit ging er ein Risiko ein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Saphir ein Kartenspiel in ihrem Zimmer hatte, war minimal.
»Nein, ich … ich glaube nicht«, erwiderte sie.
»Ich habe eins unten in meinem Zimmer – ich benutze die Karten fürs Wahrsagen. Das Spiel ist alt, dürfte aber seinen Zweck erfüllen. Wenn du mich kurz entschuldigst …«
»Wie lange bleibst du weg?«, fragte Saphir und wurde ein wenig misstrauisch.
»Nicht lange, aber ich muss das Kartenspiel erst suchen.« Chane reichte Saphir einen Zinnkamm und nahm den kleinen, neben ihr liegenden Spiegel. »Du solltest dein Haar kämmen und es hochstecken. Es ist völlig durcheinander.«
Als Saphir diese Worte hörte, griff sie rasch nach dem Spiegel und blickte mit großer Sorge hinein. »Meine Güte. Geh und hol die Karten.«
Chane verließ das Zimmer, während Saphir versuchte, ihr Haar in Ordnung zu bringen.
Die Haupttreppe konnte er nicht benutzen, denn es hätte die Gefahr bestanden, dass Toret ihn hörte. Deshalb ging er lautlos bis zum Ende des Flurs und drückte dort die Stiefelspitze an die Ecke, woraufhin sich die Wand vor ihm öffnete. Chane griff nach der Kante der Geheimtür, zog sie etwas weiter auf und schlüpfte durch die Öffnung. Manchmal fragte er sich, zu welchem Zweck der frühere Eigentümer des Hauses solche Geheimgänge angelegt hatte. Er schloss die Tür hinter sich und schlich durch die Dunkelheit – in dem Gang gab es nicht einmal genug Licht für seine Augen. Als er die steile Treppe hinter sich gebracht hatte, presste er sich an die Wand, bis sie sich mit einem dumpfen Knirschen öffnete, und dann betrat er den Keller.
Er mochte die Spärlichkeit dieses Raums. An der gegenüberliegenden Wand hingen lange, schmale Schwerter, kleine Schilde und ein Kurzschwert. Hier hatte er versucht, Toret den Schwertkampf beizubringen, und an diesem Ort trainierte er, wenn er Zeit dazu fand. Ein scharfer Verstand in einem schwachen Körper nützte kaum etwas.
Chane eilte zu seinem Zimmer.
Spärlich eingerichtet war dieser Raum gewiss nicht. Zahlreiche Bücher ruhten in alten Regalen, und das schmale Eisenbett mit der dünnen Matratze wirkte wie später hinzugefügt. Den Mittelpunkt des Zimmers bildete der Schreibtisch mit den Federkielen, gefalteten Pergamenten, Kristallkugeln, kleinen Holzschachteln und dem großen aufgeschlagenen Buch, das er gerade las. Weiter hinten stand ein Käfig mit einer Ratte.
Chane öffnete den Käfig und hoffte, dass Saphir noch immer mit ihren Locken beschäftigt war. Rasch nahm er die Ratte, trug sie zur Treppe und konzentrierte seine Gedanken auf das Tier, berührte dabei die kleine Kapsel an seinem Hals.
Er spürte die vagen Empfindungen der Ratte am Rand seines Bewusstseins. Er musste sie lenken, aber es konnte gewiss nicht schaden, ihr zuerst eine Vorstellung zu vermitteln. Die Schnurrhaare der Ratte zitterten, und sie streckte sich. Chane brachte sie zum oberen Ende der Kellertreppe, öffnete die Tür einen Spaltbreit und setzte das Tier auf den Boden. Es lief sofort los.
Chane konzentrierte sich ganz auf die Sinne der Ratte und verbannte alles andere aus seinem Selbst. Sie trippelte an Küche und Esszimmer vorbei, dann durch den kurzen Flur zum Salon. Dort sah die Ratte zwei Stiefelpaare und eilte zum Diwan.
»Sie hat meiner Gefährtin einen Pflock ins Herz gestoßen! Ich werde diesen Kampf zu ihr tragen.«
Torets Stimme war die erste, die Chane durch die Ohren der Ratte hörte. Aber mit wem sprach er?
Chane richtete die Aufmerksamkeit des kleinen Tiers nach oben.
Ein Fremder stand vor Toret: in mittleren Jahren, wie ein vornehmer Herr gekleidet. Der Mann wirkte würdevoll, doch seine hohen Stiefel waren zerkratzt und abgenutzt. Das dunkelbraune Haar trug er sorgfältig nach hinten gekämmt, und an den Schläfen zeigten sich weiße Flecken.
»Natürlich«, erwiderte der Fremde. »Deshalb bin ich gekommen, um dich zu warnen.«
»Warum sollte dir etwas daran gelegen sein?«, fragte Toret.
»Es ist ein Glück für dich, dass unsere Ziele übereinstimmen. Welchen Verlauf nähme diese Angelegenheit, wenn du nicht einmal von ihrer Präsenz wüsstest?«
Toret trat näher, und daraufhin sah Chane beide Männer durch die Augen seines Helfers. Wie lächerlich Toret neben dem Besucher wirkte. Er war klein und von niedriger Geburt. Sein violetter Kasack und die schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefel ließen ihn wie einen Hausjungen aussehen, der sich verkleidet hatte.
»Na schön, was schlägst du vor?«, fragte Toret schließlich.
»Die Dhampir und ihr Partner wohnen in der ›Klette‹ im Süden der Stadt. Du weißt, dass sie gegen einen Schwertkämpfer bestehen kann. Rashed war geschickt und stark, doch das nützte ihm nichts. Sie hat es nie mit Magie zu tun bekommen, und Rashed trat allein gegen sie an. Zwing sie, deinem arkanen Diener gegenüberzutreten, dem Beschwörer. Vergrößere deine Streitmacht. Sorg dafür, dass sie gegen mehr Gegner antreten muss.«
Toret nickte. »Ich habe bereits Vorbereitungen getroffen.«
Chane wusste nicht, was er von mehr Personen im Haus halten sollte. Er wollte frei sein von Toret, aber ihm war auch klar: Nachdem er ihn, Chane, in einen Untoten verwandelt hatte, war Toret zunächst sehr schwach gewesen. Die Erschaffung von mehr als einem neuen Diener schwächte und desorientierte ihn vielleicht so sehr, dass Chane einen Weg fand, sich von ihm zu befreien.
Das Gespräch steuerte offenbar dem Ende entgegen. Chane hätte gern alles gehört, doch er brauchte Zeit, um in den zweiten Stock zurückzukehren, bevor Toret dort eintraf. Er zog seine Wahrnehmung zurück und rief die Ratte zu sich. Als sie den Keller erreichte, nahm er das Tier, eilte zu seinem Zimmer und brachte es dort wieder im Käfig unter.
Er kramte in seinen Sachen, öffnete Schachteln und Beutel, bis er schließlich ein Kartenspiel fand. Damit kehrte er zur Öffnung in der Kellerwand zurück und eilte erneut durch den Geheimgang.
Warum hatte Toret keine weiteren Fragen in Hinsicht auf die Hilfsbereitschaft des Besuchers gestellt? Die Worte des Mannes deuteten auf eigene Pläne hin. Chane wäre erst dann bereit gewesen, den Rat des Fremden zu beherzigen, wenn er nicht den geringsten Zweifel an seiner Zuverlässigkeit gehabt hätte. Toret verhielt sich wie jemand, der mehr daran gewöhnt war, Anweisungen entgegenzunehmen als sie zu erteilen.
Im zweiten Stock verließ Chane den Geheimgang und ging durch den Flur zu Saphirs Zimmer. Als er eintrat, kämmte sie noch immer ihr Haar und sah ihn erwartungsvoll an.
»Hast du ein Kartenspiel gefunden?«
Er hob es, und Saphir klatschte in die Hände.
»Was sollen wir spielen?«, fragte sie.
»Zwei Könige. Und ich gebe.«
Eine schnelle Kutsche brachte Welstiel von Torets Haus zu einem bescheidenen, aber ordentlichen Gasthof namens »Bei Calabar« im zweiten Kreis der Stadt. Lanjow hatte nach ihm geschickt, und er wollte ihn nicht warten lassen. Als er eintraf, saß der Vorsitzende des Stadtrats an dem gewohnten Tisch, doch in den letzten Wochen hatte sich Lanjows Gesicht verändert. Falten rings um die Augen ließen ihn müde wirken.
An diesem Abend schien noch mehr auf ihm zu lasten, und Welstiel spürte eine sonderbare Furcht bei ihm. Er rutschte unruhig hin und her und sah sich immer wieder um, als wollte er nicht erkannt werden. Dann bemerkte er Welstiel.
»Deine Nachricht hat dringend geklungen«, sagte Welstiel ruhig.
Lanjow lächelte schief und wirkte erleichtert. »Ja, mein Freund. Bitte setz dich zur mir.«
Welstiel nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. »Was besorgt dich?«, fragte er.
Lanjow bedeutete dem Wirt, ihnen zwei Becher Wein zu bringen.
»Morgen schicke ich die Dhampir fort. Das sollst du als Erster wissen. Du hast mir dabei geholfen, sie zu finden, und deshalb wollte ich keinen Zweifel an meiner Dankbarkeit aufkommen lassen.«
»Du willst sie wegschicken?« Welstiel lehnte sich überrascht zurück. »Gibst du die Suche nach Chesnas Mörder auf?«
»Nein, natürlich nicht. Aber die Dhampir hat die verrückte Vorstellung, dass der Mörder ein Adliger ist, den … den Chesna kannte. Es ist doch lächerlich, dass sich ein solches Geschöpf für einen von uns ausgeben könnte.«
Welstiel faltete die Hände auf dem Tisch. »Wie kommt sie zu ihrer Annahme?«
»Sie scheint eine Art Vision gehabt zu haben, als sie und das Halbblut mich zu Hause besuchten.« Lanjow schauderte bei diesen Worten. »Die Sache ist: Sie irrt sich, und obendrein verletzt sie die Privatsphäre unserer besten Bürger. Erst gestern Abend kam es zu einer abscheulichen Szene im ›Eschenwald‹, und jetzt muss der Stadtrat für den Schaden zahlen. Heute kam sie zu mir in die Bank, stand im Foyer und verlangte, mich zu sprechen. Glücklicherweise waren zu jenem Zeitpunkt keine wichtigen Kunden da. Lord Au’shiyn leistete mir Gesellschaft, und es blieb uns nichts anderes übrig, als die Dhampir in mein Büro einzuladen. Sie hat vor, alle Ratsmitglieder zu befragen, die Kontakt mit Chesna hatten. Sie hat die Namen verlangt! Lord Au’shiyn unterstützt mich bei dieser Angelegenheit, und ich hoffe, du verstehst die Notwendigkeit, diesen Unsinn zu beenden.« Lanjow hatte sich inzwischen fast in Rage geredet. »So etwas darf nicht geschehen. Ich würde meinen Sitz im Rat verlieren.«
Eine Kellnerin brachte die Becher und stellte sie auf den Tisch. Lanjow bezahlte sie schnell und winkte sie fort.
»Wenn du die Dhampir wegschickst, wer soll dann das Geschöpf unschädlich machen, das deine Tochter getötet hat?«, fragte Welstiel.
»Ich bitte dich«, sagte Lanjow. »Wir können doch nicht zulassen, dass in diesem Zusammenhang Mitglieder des Stadtrates verhört werden. Das nützt nichts und führt nur zu Unruhe und Durcheinander. Hauptmann Schetnick weiß, wie man bei diesen Dingen vorgeht. Er ist kein Dhampir, aber wenigstens sucht er an den richtigen Stellen.«
»Und was passiert, wenn er das Geschöpf findet?«, fragte Welstiel. »Kann er gegen einen Untoten kämpfen? Ist irgendein Angehöriger der Stadtwache dazu imstande? Wenn du die Dhampir fortschickst … Vielleicht bringst du Belas Bürger dadurch in größere Gefahr.«
Lanjow strich sich mit der Hand übers Gesicht und presste sie dann auf den Mund. Er beugte sich vor.
»Ratsmitglied Batak ist unser Rechtsberater«, flüsterte er durch die Finger. »Seine Frau ist die Nichte der Königin, aber Batak hat eine Mätresse. Wenn er am Abend von Chesnas Tod bei ihr war … Wie sollte er ein Alibi nachweisen? Ratsmitglied Amrogowitz ist in der sechsten Generation Lord einer südlichen Provinz, doch er hat einen großen Teil seines Vermögens in Spielzimmern verloren, und außer mir weiß kaum jemand davon. Es hat keinen Einfluss auf seine Stimme im Rat, aber wir wollen nicht, dass seine … Freizeitbeschäftigung allgemein bekannt wird.«
Welstiel sah ihn an, und Lanjow rutschte erneut unruhig hin und her.
»Wenn du die Dhampir fortschickst, bist du ein Narr, und dann werden weitere Menschen sterben«, sagte Welstiel. »Welche Rolle spielt es im Vergleich mit der Sicherheit von Bela, wenn einige wenige Männer in Verlegenheit geraten?«
Lanjows Züge verhärteten sich, und seine Stimme klang schärfer, als er erwiderte: »Ich habe dir meine Gründe aus Respekt deinen freundlichen Bemühungen gegenüber erklärt. Ich halte es für richtig, Lord Au’shiyns Rat zu beherzigen und der Dhampir den Ermittlungsauftrag zu entziehen, ob du damit einverstanden bist oder nicht.«
Welstiel sah ihn noch immer an, ohne zu blinzeln, und für einen Moment kehrte die Furcht in Lanjows Gesicht zurück. Er stand auf.
»Ich bedauere, dich verärgert zu haben«, sagte er. »Aber meine Entscheidung steht fest. Die Dhampir wird Bela morgen verlassen.«
Welstiel begriff, dass er zu weit gegangen war. Er hob die Hand.
»Verzeih« sagte er. »Setz dich und trink mit mir. Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen.«
»Es ist spät, und der Tag war lang«, erwiderte Lanjow. »Ein anderes Mal. Genieß deinen Wein, und danke dafür, dass du dich zu so später Stunde mit mir getroffen hast.«
Lanjow eilte in die Nacht hinaus, und Welstiel blieb allein zurück.
Bei allem, was Toret unternahm, ging es in erster Linie darum, Saphir zu schützen. Doch als er mit Chane durch die dunklen Gassen des Hafenviertels von Bela schlich, schob er alle Gedanken an sie beiseite.
Er hungerte, seit der Fremde zu ihm gekommen war und von der Jägerin berichtet hatte. So fähig Rashed und Teesha auch gewesen sein mochten: Ihm war etwas gelungen, was sie nicht einmal versucht hatten: das Erschaffen von Dienern. Saphir stellte er sich nicht als Dienerin vor, aber sie war an ihn gebunden. Chane war zweifellos ein Bediensteter, und ein sehr nützlicher obendrein. Toret fand Gefallen an der Ironie, dass er sich einen reichen Adligen als Sklaven hielt. Jetzt brauchte er weitere Diener, um sie gegen die Dhampir in den Kampf zu schicken.
Toret beabsichtigte, über sich selbst hinauszuwachsen und in einer Nacht gleich zwei zu verwandeln.
»Du weißt, worauf es ankommt?«, fragte er Chane, als sie eine schmutzige Straße erreichten und sich einer schäbigen Taverne näherten. Prostituierte, die bessere Zeiten erlebt hatten, standen vor dem Eingang und boten dort für wenige Groschen ihre Dienste an.
»Ja, aber du musst deine Wahl mit Sorgfalt treffen«, erwiderte Chane. »Mit Schwertern oder wenigstens Messern bewaffnete Männer bieten die besten Aussichten. Wähle solche, die getrunken haben, aber nicht betrunken sind. Ein wahrer Kämpfer schaut kaum zu tief ins Glas.«
Wenn Rashed ihm vor einigen Monaten in Miiska einen solchen Vortrag gehalten hätte, wäre Toret zornig geworden. Seit damals war es zu Veränderungen gekommen, die nicht nur seinen Status betrafen. Jetzt hörte er Chane aufmerksam zu.
»Hast du deinem Vater jemals bei der Auswahl von Wächtern geholfen?«, fragte er.
Chanes Wangenmuskeln zuckten. »Ja.«
Toret verzichtete auf weitere Fragen und sah zur Straße zurück. Sie waren beide wie arme Händler gekleidet, um auf den Straßen oder in einer Taverne nicht aufzufallen. Toret trug einen verblassten blauen Kasack und eine Art Mütze: einen zusammengerollten Schal, die beiden Enden miteinander verknotet. Er mochte den offenen Kasack, und es gefiel ihm auch, das unbändige Haar zu verbergen.
Er gierte nach Leben, nach Blut, und spürte prickelnde Erregung, als Chane nach möglichen Kandidaten Ausschau hielt.
»Siehst du jemanden?«, fragte er.
»Noch nicht. Möchtest du, dass ich beide Männer finde und sie handlungsunfähig mache, bevor du beginnst?«
Toret zögerte und fragte sich, was besser war. Sollte er beide Opfer gleichzeitig verwandeln oder sich eins nach dem anderen vornehmen?
»Ja, beide«, antwortete er und stützte sich an einer kalten Backsteinmauer ab. Er fühlte ein seltsames Wohlbehagen. »Ich bin nie in diesem Teil der Stadt gewesen, und du?«
»Nein.« Manchmal sprach Chane so wenig wie möglich. Er hatte seine Qualitäten, doch Konversation zählte nicht dazu.
Mehrere Männer betraten die Taverne oder verließen sie, doch Chane zeigte kein Interesse an ihnen. Nach einer Weile sagte er plötzlich: »Saphir möchte das Blut eines hübschen jungen Mädchens. Hat sie mit dir darüber gesprochen?«
»Oh, sie hat es erwähnt, ja.« Toret seufzte. »Ich habe keine Ahnung, wo ich eins auftreiben soll, und derzeit müssen wir uns um andere Dinge kümmern.«
»Wenn wir fertig sind, werde ich mich im zweiten Kreis auf die Suche machen. Die hübsche, gut gekleidete Tochter eines reichen Händlers sollte genügen.«
Toret sah ihn an. Normalerweise bot sich Chane nicht an, irgendetwas für Saphir zu tun.
»Ja«, antwortete er noch immer verwirrt. »Mach das.«
»Dort.« Chane nickte zur Straße. »Sieh nur.«
Zwei hochgewachsene Matrosen mit wettergegerbter Haut kamen aus der Taverne. Einer trug ein Schwert am Gürtel, und der andere zwei große Dolche, am Rücken festgeschnallt. Sie waren nüchtern genug, um an einer dicken, aufdringlichen Hure vorbeizugehen, ohne eine Szene zu machen.
»Sie sind zusammen«, sagte Chane. »Das erleichtert die Sache. Und ich bezweifle, dass wir hier jemand finden, der besser geeignet ist.«
Toret nickte. »Bleib zurück.«
Aus Toret wurde wieder das Schmuddelkind Rattenjunge, der es verstand, zu überleben, zu verschwinden und vergessen zu bleiben. Diesen Teil von sich hatte er immer verachtet, doch jetzt schlüpfte er ohne Schwierigkeiten in sein altes Selbst. Er legte Mütze und Umhang ab, brachte dann sein Haar durcheinander. Chane wich in den Schatten der Gasse zurück. Als die Matrosen vorbeikamen, trat Toret vor und ließ den Geldbeutel hinter ihnen fallen.
»Ihr Herren!« Er senkte die Schultern und beugte die Knie, wirkte dadurch kleiner. »Einer von euch hat seinen Geldbeutel fallen lassen.«
Die beiden Männer drehten sich um und wirkten sofort wachsam. Beim Anblick des kleinen, schmutzigen Gassenjungen entspannten sie sich.
Toret hob den Beutel auf und trat vor, aber nur bis zur Ecke der Gasse.
»Ich glaube, es ist deiner«, sagte er.
»Nein, Kumpel«, antwortete der Mann mit dem Schwert. »Meiner ist es nicht.«
»Bist du sicher? Ich habe gesehen, wie er fiel, als ihr vorbeigekommen seid.«
Die beiden Männer wurden neugierig und kamen näher. Wie eingeschüchtert wich Toret ein wenig zurück und zwang die Matrosen dadurch, vor die Öffnung der Gasse zu treten. Der Mann mit dem Schwert sah auf den Beutel hinab.
»Nein, Junge, du bist ein ehrlicher Bursche, aber das ist nicht unser …«
Toret sprang, presste dem Mann die eine Hand auf den Mund und schlang ihm den anderen Arm um den Hals. Bevor der Matrose sein Schwert ziehen konnte, riss Toret ihn zur Seite und zerrte ihn in die Gasse.
Als Toret sprang, huschte Chane aus der Dunkelheit heran, packte den zweiten Mann und hielt ihm ebenfalls den Mund zu, damit er nicht um Hilfe schreien konnte. Ein Satz brachte ihn in die Gasse zurück, und dort stieß er den Mann so heftig an die Wand, dass er erschlaffte.
»Chane!«, rief Toret und hielt sein zappelndes Opfer fest.
Chane holte aus, und seine Faust trat den Mann mit voller Wucht am Kinn. Er verlor sofort das Bewusstsein.
»Vorsicht«, sagte Toret scharf. »Du könntest ihn töten.«
Der Matrose stöhnte, und Chane schüttelte den Kopf. »Er lebt noch.«
Toret kniete auf dem Mann und zögerte. Die Gier nach Blut wurde fast überwältigend, aber er konnte es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen. Was er jetzt tat, basierte auf dem, was er von seinem alten Herren Lord Corische gehört hatte. Er war nie Zeuge davon geworden, wie Corische einen Untoten erschaffen hatte, doch im Lauf der Jahre hatte er genug gehört, um eine klare Vorstellung von dem Vorgang zu gewinnen.
Eine Hand am Hinterkopf des Matrosen, biss er ihm in die Kehle, trank sein Blut und fühlte, wie Lebenskraft einer Flutwelle gleich in ihn strömte. Er hatte gefastet, und jetzt nahm er, was er bekommen konnte. Dies war das gierige Fressen des halb Verhungerten, ohne Freude am Geschmack, und Toret glaubte fast, innerlich zu zerreißen, als ihn so viel Blut füllte.
Er trank etwas langsamer, als er hörte, dass das Herz des Matrosen langsamer schlug. Sein Opfer musste rasch sterben und seine Lebenskraft so schnell verlieren, dass der Tod abrupt kam. Toret erinnerte sich daran, wie er bei Saphir und Chane vorgegangen war. Bei ihnen hatte es funktioniert …
Er löste den Mund von der Kehle des Mannes, riss mit den Fingernägeln das eigene Handgelenk auf und presste seinem Opfer die Wunde auf den Mund. Der Matrose keuchte mit seinem letzten Atem und schluckte Torets dunkle Flüssigkeit.
Das Herz des Mannes hörte auf zu schlagen.
Toret sank zu Boden und wand sich voller Schmerz hin und her.
Vor seinen Augen wurde die Gasse noch dunkler, und die von ihm selbst verursachten Geräusche wurden immer leiser. Vielleicht war dies der Grund, warum es nur so wenige von seiner Art gab.
Das Bewusstsein verließ Toret, als er den Tod des Matrosen wie den eigenen erlebte. In diesem Moment waren er und sein Opfer miteinander verbunden.
Das erste Mal mit Saphir war schrecklich gewesen – er hatte den Tod praktisch ein zweites Mal erlebt. Was wäre geschehen, wenn er jener Finsternis ganz nachgegeben hätte? Wäre er dann wirklich gestorben, für immer?
Sein Körper fühlte sich an, als könnte er jeden Augenblick innerlich zerreißen. Er zwang seine Sinne, sich zu öffnen und zu erweitern, schlug mit der Faust an die Wand. Schmerz zuckte durch seinen Arm, aber er verdrängte ihn nicht einfach, wie es Untote normalerweise machten. Stattdessen konzentrierte er sich auf ihn. Erneut schmetterte er die Hand an die Mauer, und noch einmal. Schließlich rollte er auf den Rücken.
Er spürte das harte Kopfsteinpflaster an den Schultern und hielt das Empfinden fest. Was auch immer ihn vom endgültigen Tod trennte, es war willkommen.
Nach einer Weile konnte er wieder sehen und stellte fest, dass Chane neugierig auf ihn herabblickte.
Toret versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor und hob nur die Hand. Chane verstand und zog ihn auf die Beine. Toret wankte einige Schritte durch die Gasse und übergab sich.
Er hatte nicht das ganze Blut des Matrosen getrunken, denn das war unmöglich. Er hatte genug aufgenommen, um ihn schnell zu töten, doch wie sollte er das Blut des zweiten Mannes trinken, wenn er bereits satt war? Sein Magen krampfte sich zusammen, als er würgte, und dunkle Flüssigkeit strömte aus dem Mund, bildete eine große Lache zu seinen Füßen.
Vor Torets Augen tanzte alles, als er durch die Gasse torkelte und sich dabei mit einer Hand an der Mauer abstützte. Der erste Matrose lag reglos auf dem Boden, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Chanes Gesicht zeigte noch immer Neugier.
»Ist er tot?«, fragte Chane.
»Ja«, brachte Toret hervor. Er ließ einige Sekunden verstreichen und versuchte, Kraft zu schöpfen. »Vielleicht wird er am Ende dieser Nacht von den Toten auferstehen, aber zunächst muss er ruhen. Morgen Abend wird er bereit sein, unserer Familie zu dienen.«
Chane musterte Toret. »Du siehst nicht aus, als könntest du dies wiederholen.«
Toret schenkte ihm keine Beachtung, setzte sich auf den zweiten Mann, hob seinen Kopf und biss ihm in die Kehle. Wieder strömte Leben in ihn, in einen bereits gesättigten Leib, und er musste sich zwingen, ebenso schnell zu trinken wie vorher. Als er hörte, wie das Herz des Matrosen versagte, wich er zurück, und um ihn herum drehte sich alles.
»Hilf mir«, ächzte er.
Chane ergriff sein Handgelenk und zog es zum Mund des Mannes.
Finsternis dehnte sich in Torets Kopf aus und verschlang ihn.
Erinnerungsbilder zerrannen wie Blut in fließendem Wasser.
Er sah die Wände eines schäbigen Schuppens im Bettlerviertel von Il’När’Sähkil. Seine Mutter lag dort krank, während er auf den Märkten Lebensmittel stahl und sich oft fragte, wer sein Vater war.
Er sah Teeshas Augen, die sanft und auch tadelnd blickten, während sie sich um seine Wunden kümmerte.
Er fühlte Saphirs kühlen Leib an seiner Seite, während die Sonne über dem Dach ihres Hauses brannte.
Kalte Panik erfasste ihn, und er versuchte, die sich auflösenden Erinnerungen festzuhalten.
Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der Gasse lag, die Wange auf den Pflastersteinen. Wieder verkrampfte sich sein Unterleib, und Blut spritzte ihm aus dem Mund. Er stemmte sich auf die Ellenbogen und würgte weiter, obwohl sein Magen nichts mehr enthielt.
Toret war so schwach, dass Chane ihn hochhob und an die Wand lehnte. Dann richtete er den Blick auf die blutigen Pflastersteine.
»Jetzt verstehe ich, warum du sie nicht erst zu uns nach Hause bringen wolltest«, kommentierte Chane.
Toret achtete nicht auf ihn. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und stützte sich mit beiden Händen an der Mauer ab.
»Sieh dich in der Gasse um«, sagte er mühsam. »Such Fässer, Kisten, Planen, was immer geeignet ist, die Leichen zu verbergen. Ruf anschließend eine Kutsche. Ich muss sie zum Haus bringen.«
»In Ordnung«, erwiderte Chane. »Ich bereite alles vor. Während du sie nach Hause bringst, beschaffe ich der Herrin ein junges Mädchen, vielleicht in einem der vornehmen Viertel. Glaubst du, stark genug zu sein, sie allein ins Haus zu tragen?«
Toret nickte, und Chane huschte durch die Gasse.
Ein Besucher wartete geduldig vor Lord Au’shiyns Haus im inneren Kreis. Er blieb im Schatten, und niemand in diesem Reichenviertel hatte ihn kommen sehen. Nach kurzer Zeit wurde seine Geduld belohnt: Eine Kutsche näherte sich dem Außentor.
Lord Au’shiyn stieg aus und ging zur Treppe, während die Kutsche hinters Haus rollte. In einer Stadt, deren Bevölkerung immer mehr wuchs, war Platz für eine persönliche Kutsche samt Kutscher selbst bei den Wohlhabenden ein Luxus. Lord Au’shiyn lebte gut, kein Zweifel.
Als er den Eingang erreichte, trat der Besucher aus den Schatten und schritt über den Weg. »Wenn Ihr gestattet …«
Au’shiyn drehte sich verärgert um. Er wirkte müde und nicht an einem Gespräch interessiert, doch dann erkannte er den Besucher.
»Oh, guten Abend. Was bringt Euch so spät hierher?«
Der Besucher ging die Stufen zur Veranda hoch, als wollte er eine wichtige Nachricht überbringen. Plötzlich packte seine in einem Handschuh steckende Hand Au’shiyn am Nacken.
Bevor der Sumaner um Hilfe rufen konnte, biss ihm der Besucher mit spitzen Eckzähnen in den Hals, doch es ging ihm nicht darum, Blut zu trinken. Er riss Kehle und Luftröhre auf.
Lord Au’shiyn starb schnell, Panik in den Augen.
Der Besucher schüttelte den Leichnam, damit Blut auf das weiße Hemd und den rostroten Umhang strömte. Der Turban löste sich von Au’shiyns Kopf und fiel auf die Veranda. Der Besucher zerriss seinem Opfer das Hemd, damit alles noch dramatischer aussah, ließ die Leiche dann auf die Verandastufen sinken.