5

In schwarzer Hose und abgetragenem Lederhemd, das Falchion an der Hüfte, stand Magiere am Bug des Schoners und beobachtete, wie der Sonnenschein auf dem Wasser glitzerte. An diesem Morgen würden sie Bela erreichen. Im Herbstwind hatten sich einige Strähnen ihres Haars gelöst, und Magiere band es wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. Der Druck des Riemens erinnerte sie an die Kopfschmerzen; sie hatten im Lauf der Nacht nachgelassen, während sich ihr Körper schnell erholte.

Alle wussten von dem Angriff auf Magiere, und sie merkte, wie Besatzungsmitglieder in ihrer Arbeit innehielten und sie anstarrten. Als sie übers Deck zum Kapitän sah, der neben dem Ruder stand, stellte sie fest, dass er sie ebenfalls beobachtete.

Sie gab sich so gleichgültig wie möglich und blickte über den Bug. So sonderbar Leesil anderen Leuten auch erscheinen mochte – sie selbst war ebenfalls ein Kuriosum. Während ihrer Reisen durch die strawinische Provinz war Magieres Erscheinungsbild nicht so sehr aufgefallen. In den dichten Wäldern filterten die Baumwipfel den Sonnenschein an klaren Tagen, aber unter einem wolkenlosen Himmel auf dem Meer konnte man das blutrote Schimmern in ihrem Haar deutlich sehen. Und nicht nur das.

Magiere schob den linken Ärmel zurück und sah auf ihren Unterarm. Seit einiger Zeit hatte sie ein seltsames Gefühl, weder angenehm noch unangenehm, und es stellte sich nur dann ein, wenn sie für längere Zeit der Sonne ausgesetzt war. Ein leichtes Prickeln lief ihr über die helle Haut. Sie hatte immer vermutet, dass ihre Blässe in dem nur matten Licht der Wälder von Strawinien begründet lag, oder darin, dass sie oft des Nachts unterwegs gewesen waren. Als Leesil und sie auf dem Weg nach Miiska die offene Küste erreicht hatten, war ihr nichts aufgefallen. Aber nach Monaten in der Stadt und Tagen auf See unter der Herbstsonne konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass ihre Haut nicht bräunte. Wenn sie neben dem dunkelhäutigen Leesil stand, musste sie so bleich wirken wie eine Untote. Ein weiterer Hinweis auf ihre spezielle Abstammung.

Schwarzes Haar mit blutroten Strähnen, die Blässe einer Leiche, und jetzt auch noch nächtliche Angreifer, von denen einem die Kehle durchgeschnitten wurde. Wer starrte ein solches Geschöpf nicht aus sicherer Entfernung an? Magiere hätte dem Kapitän am liebsten die Anweisung gegeben, kehrtzumachen und nach Miiska zurückzusegeln, wo sie nicht gezwungen war, sich erneut in das Wesen zu verwandeln, das in ihr auf der Lauer lag.

Leichte Schritte näherten sich von hinten. Niemand sonst hätte ein so leises Geräusch bemerkt, aber Magiere war daran gewöhnt. Sie warf einen kühlen Blick über die Schulter.

Leesil stand da und rieb sich in der kühlen Luft Arme und Hände. Er trug wieder das grüne Kopftuch und hatte das Haar darunter zusammengesteckt. Seine Kleidung war ebenso zerknittert wie die von Magiere – sie hatte darin geschlafen. Nach dem Kampf hatte er sie auf die Koje gelegt, mit einem kalten Lappen am Hinterkopf. Sie hatte sich von ihm abgewandt, während er auf dem Boden hockte, gelegentlich den Lappen nahm und ihn in kaltes Wasser tauchte. Niemand von ihnen sprach. Als sie am Morgen erwacht war, hatte Leesil auf der oberen Koje gelegen und wie ein Betrunkener geschnarcht.

Das Schiff neigte sich in der Dünung zur Seite. Leesil hielt sich an der Reling fest und kniff die Augen zusammen, bis die schlingernden Bewegungen aufhörten. Der grüngelbe Ton in seinem Gesicht wies darauf hin, dass er noch immer an der Seekrankheit litt, und seit mehr als einem Tag hatte er nichts gegessen. Außerdem waren seine Augen jetzt blutunterlaufen, und selbst in der frischen Morgenluft nahm Magiere den Geruch von Alkohol wahr.

»Wie … wie weit ist es noch?«, fragte Leesil. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht übertrieben geklungen, aber ihm fehlte ganz offensichtlich die Kraft für seine übliche Theatralik.

»Nicht mehr weit«, antwortete Magiere. »Wir sind bald da.« Sie sah wieder zur Küstenlinie.

»Magiere …«, begann Leesil. »Hör mal, ich …«

»Ich möchte nichts davon hören. Wenn Chap nicht bei mir gewesen wäre …«

»Ich weiß …«

»Nein, du hast keine Ahnung.« Magiere drehte den Kopf lange genug, um den Blick über ihn streichen zu lassen. »Du weißt nichts.«

Es gab keine Entschuldigung für sein Verhalten. Drei Assassinen hatten ihr nach dem Leben getrachtet, und Leesil war oben auf dem Deck gewesen und hatte getrunken. Wenn Chap nicht gewesen wäre …

Magiere fragte sich plötzlich, wo der Hund war. Sie bemerkte ihn mittschiffs, auf einem Kistenstapel, der in einem Frachtnetz steckte. Der Wind spielte mit seinem Fell, als er die Matrosen beobachtete, die einen weiten Bogen um ihn machten. Es hatte sich herumgesprochen, dass ein großer, bewaffneter Mann von diesem Hund bezwungen worden war.

»Dort, sieh nur!«, sagte Leesil mit etwas mehr Kraft in der Stimme. Er trat näher zu Magiere und deutete über den Bug nach vorn.

Die Küstenlinie wölbte sich dort landeinwärts und geriet außer Sicht. Magiere blickte zu der Stelle, wo sie wieder zum Vorschein kam und weiter nach Norden führte. Die südliche Spitze der Äußeren Bucht war nun zu sehen, und Magieres Zorn auf Leesil ließ nach, wich wachsender Aufregung.

Bei ihren Reisen waren sie auch durch große Städte gekommen, aber nie lange geblieben. Ihr letzter Besuch in Bela lag viele Monate zurück; auf dem Weg nach Miiska hatte Magiere dort die Eigentumsurkunde für die Taverne abgeholt. Im Lauf der Jahre waren sie immer wieder kurz in die Hauptstadt gekommen, und Magiere hatte jedes Mal etwas Geld bei einem weniger bekannten Geldverleiher am südlichen Tor hinterlassen. Ins Zentrum der Stadt zu gehen, um dort die Dienste einer der größeren Banken in Anspruch zu nehmen Eine bewaffnete Frau hätte sicher Aufmerksamkeit erregt, und das wollte Magiere vermeiden.

Die Königsstadt Bela lag auf einer langen Halbinsel, die von der nordwestlichen Ecke Belaskis mehr als dreißig Meilen weit in den Ozean reichte. Zu beiden Seiten der Halbinsel erstreckten sich acht bis zehn Meilen breite Buchten. Sie hießen Vonkayshäé u Vnútornä Zäliva, die Äußere und die Innere Bucht. Die erste lag auf der Meeresseite, und die zweite zeigte nach Nordosten, in den Golf von Belaski. Bela lag an der Äußeren Bucht.

»Oh, dem Himmel sei Dank!«, brummte Leesil. »Endlich wieder trockenes Land. Vielleicht kann ich heute Abend etwas essen und es auch im Magen behalten.«

Magieres zurückkehrender Ärger wich Mitgefühl. Kurze Zeit später erreichte der Schoner die Bucht.

Schiffe aller Arten und Größen lagen dort vor Anker. Manche waren so klein wie der Schoner, andere doppelt so groß und noch größer. Einige erschienen Magiere geradezu enorm. Als sie an einem dieser Riesen vorbeikamen, beobachtete sie die Besatzungsmitglieder an Bord. Sie erschienen ihr wie Ameisen, die über die Zweige eines blattlosen Busches krabbelten – zwischen den sechs Masten spannten sich zahllose Seile und Taue.

Aus den Augenwinkeln nahm Magiere ein Schimmern wahr, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Es kam aus dem Norden. Zuerst dachte sie, dass es vielleicht nicht mehr war als das Glitzern von Sonnenschein auf den Wellen. Das Etwas glänzte wie poliertes Metall, aber das Schimmern veränderte sich immer wieder – das Objekt, von dem es stammte, schien in Bewegung zu sein. Es handelte sich offenbar um ein Schiff, das auf den Wellen ritt. Das Schimmern kam von den Segeln, die wie weißer Satin glänzten. Magiere hob die Hand, beschattete die Augen und hielt Ausschau.

Der Bug war lang und schmal, lief so spitz zu wie ein Speer. Der Rumpf glänzte im einen Moment grünlich und im nächsten goldgelb. Die Seiten waren leicht gewölbt, wie ein Stechpalmenblatt.

Leesil zeigte darauf und rief einem nahen Matrosen zu: »Was ist das für ein Schiff?«

Der junge, blonde Mann war damit beschäftigt, ein Seil aufzuwickeln. Er verharrte und blickte über die Bucht. »Elfen«, sagte er. »Aus dem Norden, von der anderen Seite des Kaps.«

»Ich habe nie davon gehört, dass sie Schiffe haben.«

»Du hast nie davon gehört …?« Der junge Mann sah den Halbelf so an, als wäre er nicht ganz bei Verstand.

»Schade, dass wir es uns nicht aus der Nähe ansehen können.«

Daraufhin trat der Matrose einen Schritt auf Leesil und Magiere zu.

»Eher würde ich ein Dingi in einen Wintersturm segeln!« Er warf das Seil beiseite und ging rasch fort.

Magiere verstand nicht, was der Matrose meinte. Die Elfen lebten so zurückgezogen, dass sie in ihrem Leben nur wenige von ihnen gesehen hatte. Wenn Loni, der sich in Miiska fernab der Heimat niedergelassen hatte, für sein Volk untypisch war, so fragte sich Magiere, wie die geheimnisumwitterten Elfen wirklich sein mochten.

»Wie kommt es, dass du so wenig über dein eigenes Volk weißt?«, fragte Magiere, obwohl es ihr noch immer widerstrebte, mit Leesil zu reden.

»Die Elfen sind nicht mein Volk«, erwiderte er. »Sie sind das Volk meiner Mutter, und ich weiß nur das über sie, was ich in ihr gesehen habe. Damals, vor langer Zeit.«

Die letzten Worte sprach er leise. Magiere ließ das Thema fallen, zumindest vorerst.

»Hoffentlich legen wir direkt an.« Leesil sah sehnsüchtig zur Küste, und seine Worte kamen fast einem Gebet gleich. »Ich möchte nicht auch noch mit einem Ruderboot übersetzen müssen.«

»Hör auf zu jammern«, sagte Magiere.

Hinter der Küste stieg das Land steil an, und Bela, die Hauptstadt des Königreichs, erstreckte sich über die Hänge. Vor mehr als dreihundert Jahren, bevor das Land Belaski seinen Namen erhalten hatte, war Bela nicht mehr gewesen als ein kleiner, von einem Wehrwall umgebener Bergfried. Im Lauf der Zeit war er immer mehr gewachsen und präsentierte sich heute als Koloss aus weißem Granit.

Die Dörfer in der Nähe der Burg waren zu einem größeren Ort verschmolzen, und man hatte ringsum eine Verteidigungsmauer errichtet. Doch die kleine Stadt war darauf versessen gewesen, zu einer großen zu werden, und sie ließ sich von der Mauer nicht daran hindern, weiter zu wachsen. Immer mehr Menschen ließen sich in ihr nieder, neue Gebäude wurden errichtet, und die Burg bekam Anbauten. Ein zweiter Befestigungsring um Bela war entstanden, und unterschiedlich große Häuser drängten sich in seinem Schatten, schienen bestrebt zu sein, wie Efeu an ihm emporzuwachsen. Doch im Laufe der Jahre hatte die Stadt sich weiter ausgebreitet.

Inzwischen gab es einen dritten Wall, mit Türmen in regelmäßigen Abständen, und er reichte fast bis zur Küste und den weiten Hafenanlagen, die für zahlreiche Schiffe Platz boten.

»Ich erinnere mich nicht daran, dass Bela so groß ist«, murmelte Leesil.

»Weil wir immer von der Landseite gekommen sind«, sagte Magiere. »Und weil wir uns nie weit in die Stadt vorgewagt haben.«

Sie fühlte noch größeres Unbehagen als Leesil. Dummerweise hatte sie überhaupt nicht an Belas Größe gedacht, ein weiteres Argument, das gegen die Annahme des Angebots des Stadtrates sprach. In Miiska hatten sie, von den Umständen gezwungen, Jagd auf drei Untote gemacht. Doch Bela war mindestens zwanzigmal so groß wie die kleine Hafenstadt. Innerhalb der drei Wehrwälle mussten sie einen Untoten finden – wenn es sich wirklich um einen Untoten handelte –, und der einzige Hinweis bestand aus der Leiche eines Mädchens.

Als sich der Schoner den Anlegestellen näherte, füllte der Hang Magieres ganzes Sichtfeld aus, und die äußere Verteidigungsmauer verwehrte den Blick auf die Stadt dahinter. Gebäude in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben schmiegten sich so dicht aneinander, dass sie nur einige wenige Straßen erkennen konnte, die wie die Speichen eines Rads vom Stadtzentrum ausgingen. Jede führte an einem großen, befestigten Wachhaus vorbei durch die Außenmauer, und dort konnte ein eisernes Fallgatter herabgelassen werden. Rauchfäden stiegen überall in der Stadt aus Schornsteinen und schienen über ihr einen dünnen grauen Wald zu bilden. Am Hafen reihten sich Lagerhäuser aneinander, und die Luft war plötzlich voller Gerüche, von Fisch bis hin zu geöltem Holz, Salzwasser, Menschen und Vieh.

Gestank wehte übers Deck, und Magiere rümpfte die Nase. Rechts am Stadtrand erhob sich ein Gebäude so groß wie zwei oder drei Lagerhäuser. Auf der zur Bucht gelegenen Seite tropfte Wasser ins Meer. Große Räder drehten sich, trugen Seewasser nach oben und ließen es durch breite Tröge ins Gebäude fließen.

»Eine Salzmühle«, brachte Leesil hervor. »Sie gewinnen Salz aus dem Meer.«

Der Geruch machte ihm mehr zu schaffen als Magiere; sein Gesicht zeigte wieder eine intensivere Grünfärbung.

Überall waren Menschen zu sehen. Zu viele, nach Magieres Geschmack. Hafenarbeiter und Seeleute kletterten über die oberen und unteren Bereiche von Pieren und Molen, ent- und beluden Schiffe, kümmerten sich um die Vertäuung und brüllten, um sich im allgemeinen Lärm verständlich zu machen.

»Es ist unmöglich«, sagte Magiere leise. Ihr Blick strich über die große Stadt. »Wie sollen wir in einem solchen Durcheinander etwas finden?«

»Eins nach dem anderen«, erwiderte Leesil.

Als sie sich einer Anlegestelle näherten, kletterten die Matrosen des Schoners in die Takelage und holten das letzte Segel ein. Den Männern am Kai wurden Leinen zugeworfen, damit sie das Schiff festmachten, und der Schoner kam zur Ruhe.

Chap bellte mehrmals, bis Magiere und Leesil in seine Richtung sahen. Daraufhin sprang er von den Kisten herunter und lief zur Kaiseite des Schiffes, wo eine Planke ausgelegt wurde.

»Komm«, sagte Leesil. »Holen wir unsere Sachen.«

Mit langen Schritten ging er in Richtung ihrer Kabine los. Magiere folgte ihm stumm und hatte es nicht annähernd so eilig. An der Treppe wartete der Kapitän auf sie.

»Ihr braucht nicht nach unten zu gehen«, sagte er mürrisch und steif, als gefiele es ihm nicht, mit ihnen zu reden. Er drückte Leesil ein zusammengefaltetes Pergament in die Hand. »Eure Sachen werden gepackt und an Land gebracht. Die Rechnung könnt ihr dem Stadtsekretär geben.«

»Oh, das ist sehr freundlich«, erwiderte Leesil übertrieben höflich, während sein Gesicht ernst blieb. »Und besten Dank für die Passage.«

Der Kapitän sah kurz Magiere an und richtete dann einen durchdringenden Blick auf Leesil.

»Runter von meinem Schiff, bevor ich den Hafenbeamten gewisse Dinge erklären muss.« Er drehte sich um und ging fort.

Die letzte Bemerkung verwunderte Magiere. Der tote Angreifer war dem Meer übergeben worden, ein weiterer über Bord gesprungen. Der dritte Mann befand sich angekettet in einem Abstellraum unter Deck; der Kapitän hatte ihn verhört, aber keine Informationen von ihm bekommen.

»Was sollte das denn?«, wandte sie sich an Leesil.

»Was weiß ich«, brummte er, rieb sich den Kopf und ging dann zur Kaiseite des Schoners. »Ich glaube, es wird wirklich Zeit, von Bord zu gehen.«

Als sie über die Planke gingen, wartete Chap bereits auf der schwimmenden Anlegestelle. Neben dem Hund sah Magiere ihre Rucksäcke und die Truhe. Sie blickte zum Hauptpier auf und fragte sich, wie sie Chap und ihr Gepäck nach oben in die Stadt bringen sollten.

»Komm«, sagte Leesil. Er nahm seinen Rucksack und das eine Ende der Truhe, wartete dann darauf, dass Magiere seinem Beispiel folgte.

Sie fasste mit an, und auf dem Weg zum Ufer bemerkte Magiere eine weitere schwimmende Anlegestelle am höheren Pier. Hier und dort zwischen diesen Anlegestellen gab es Lücken, in denen Rampen oder Treppen nach oben führten. In der Ufermauer bemerkte sie Öffnungen des städtischen Kanalisationssystems. Schmutziges Wasser floss aus ihnen.

Sie setzten den Weg fort, trugen ihre Rucksäcke und die Truhe. Chap lief voraus, blieb gelegentlich stehen und sah zurück, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgten. Als sie schließlich das Stadtniveau erreichten, nahm Magieres Beklommenheit schnell zu.

Alle paar Schritte mussten sie dahineilenden Hafenarbeitern, Passagieren, Verkäufern und Trägern ausweichen, die ihre Waren und Dienste anboten. Einmal kam wie aus dem Nichts eine fahrende Küche auf sie zu, mit baumelnden Bündeln aus geräuchertem Fleisch, und sie wären fast unter ihre Räder geraten. Magiere blieb stehen und setzte ihr Ende der Truhe ab, wodurch Leesil ins Straucheln geriet.

»Valhachkasej’â«, brummte er. »Gib mir beim nächsten Mal rechtzeitig Bescheid.«

»Das ist verrückt.« Magiere blickte sich um und sah überall dichte Menschenmengen und Lagerhäuser. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, wohin wir gehen.«

»Vielleicht sollten wir einen Ort finden, wo wir diesen Kram verstauen können«, erwiderte Leesil sarkastisch. »In der Nähe des Schlosses, das wir ohnehin aufsuchen sollten?«

»In der Nähe des Schlosses ist die Unterbringung zu teuer«, sagte Magiere in einem drohenden Ton. »Wir brauchen einen billigeren Gasthof, ich weiß aber nicht, wo wir ein solches Quartier finden können. Weißt du es?«

Leesil verschränkte die Arme. »Wie wär’s, wenn wir jemanden fragen?«

Magiere sah sich im Gedränge um. Nicht einmal die Straßenhändler blieben lange genug stehen, um ein Gespräch zu führen.

»He, brauchen die Herrschaften Hilfe beim Gepäck?«, erklang eine fast schrille Stimme.

Sie kam von einem in der Nähe stehenden Jungen, der Leesil nur bis zum Bauch reichte. Das fransige Haar klebte oben am Kopf und musste dringend gewaschen werden. Hemd und Hose waren abgetragen und zu groß für ihn. Er deutete auf Leesil.

»Du, Herr«, sagte er und schlüpfte zwischen den Größeren hindurch zu ihnen. »Hier sind die besten Träger des ganzen Hafens.« Das schmutzige Gesicht des Jungen wirkte völlig ernst.

Magiere seufzte tief, als Leesil sie von der Seite ansah und schief lächelte. Ihre Miene verfinsterte sich ein wenig, und sie schüttelte andeutungsweise den Kopf.

Leesil rollte mit den Augen und sah auf den Jungen hinab. »Und wie viel nimmst du für deine Dienste, Herr

»Wir bringen euch zu jedem beliebigen Ort in der Stadt«, antwortete der Junge und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Für zwei Kupfergroschen.«

»Was?« Magiere machte einen drohenden Schritt auf den Jungen zu, doch er wich nicht zurück. »Das ist der Tageslohn für einen kräftigen Hafenarbeiter, nicht für einen Dreikäsehoch. Leesil, nein!«

Chap schob seinen Kopf zwischen Magiere und Leesil und sah den Jungen an, der noch immer keine Furcht zeigte und mit hoch erhobenem Kopf dastand. Sein Blick glitt kurz zu dem Hund, bevor er wieder zu den potenziellen Kunden aufsah.

»Netter Köter«, sagte er.

Ein dumpfes Grollen kam von Chap. Leesil sah den Hund an, hob die Braue, schüttelte den Kopf und wandte sich erneut an den Jungen.

»Wieso sprichst du von wir?«, fragte er.

Der ernste Hafenjunge hob zwei Finger an die Lippen, und Magiere schnitt eine Grimasse, als ein schriller Pfiff erklang.

Vier weitere Jungen bahnten sich aus verschiedenen Richtungen einen Weg durch die Menge. Zwei trugen Holzstangen und Riemen über den Schultern. Sie umringten den ersten Jungen, und ein fünfter kam direkt hinter ihm zum Vorschein.

Dieses letzte Mitglied der Gruppe war kaum halb so groß wie der Anführer und spindeldürr, hatte kurzes, blondes Haar und ein schmales Gesicht mit Sommersprossen. Er schenkte Magiere ein Lächeln, bei dem er fast ganz die Augen schloss. Die beiden Vorderzähne fehlten.

»Ich habe Nein gesagt, Leesil«, wiederholte Magiere.

Leesil legte seinen Rucksack auf die Truhe. »Gib mir den Geldbeutel.«

»Du hast bereits Münzen von mir erhalten, an Bord des Schiffes.«

»Ich … ich habe keine mehr. Gib mir einfach den Beutel.«

Magiere zögerte. Nach all dem, was sie am vergangenen Tag und in der Nacht erlebt hatte, verspürte sie den fast unwiderstehlichen Wunsch, Leesil eine zu knallen, ob es ihm schlecht ging oder nicht. Aber schließlich holte sie den Geldbeutel hervor und reichte ihn ihrem Partner.

»Wie heißt du?«, fragte Leesil den Anführer und griff in den Beutel.

»Vàtz«, antwortete der Junge. Mit dem Daumen deutete er auf den sommersprossigen Knirps hinter ihm. »Das ist Pìnt. Und die Bezahlung erfolgt im Voraus.«

Leesil zog die Finger aus dem Beutel und streckte sie dem Jungen entgegen. Eine Münze fiel auf Vàtz’ offene Hand.

»Das ist eine Anzahlung«, sagte Leesil. Zwischen Daumen und Zeigefinger erschienen drei weitere Münzen, wie Karten ausgefächert. »Der Rest nach geleisteter Arbeit. Und ich brauche jemanden, der mich zu einem Waffenschmied besonderer Art bringt.«

Vàtz musterte Leesil, doch sein Blick glitt immer wieder zu den drei Münzen.

»Abgemacht«, sagte er, steckte den erhaltenen Groschen ein und winkte seine Leute nach vorn.

Die Schar machte sich über die Truhe her, mit wiederholtem »Entschuldigung« und »Tritt beiseite, Gnädigste«. Magiere wusste nicht, ob sie zurückweichen oder die Jungen wie lästige Fliegen verscheuchen sollte. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, senkten zwei Jungen ihre Stangen zu beiden Seiten der Truhe, und die beiden anderen schlangen Riemen um die Truhe, verbanden sie mit den Stangen. Dann bezogen die Jungen an den Enden der Stangen Aufstellung, bereit dazu, auf die Anweisung ihres Anführers hin die Truhe hochzuheben und zu tragen.

»Wohin?«, fragte Vàtz.

»Warte … Leesil …« Magiere ergriff ihren Partner am Arm und zog ihn beiseite. »Was hast du vor? Wozu brauchst du einen Schmied?«

Leesil befeuchtete sich die Lippen und sah ihr in die Augen.

»Mit nur zwei Stiletten oder …« Er atmete tief durch und senkte die Stimme. »… oder meinen anderen Dingen kann ich dir nicht helfen.«

»Ja … deine anderen Dinge«, wiederholte Magiere leise. Aber dies war nicht der geeignete Zeitpunkt für eine lange Geschichte, die besser unter vier Augen erzählt werden sollte. »Dann besorgen wir dir eben ein Schwert, einen kurzen Säbel oder etwas in der Art.«

Leesil schüttelte den Kopf. »Es bleibt mir nicht genug Zeit, den Umgang mit einem Schwert zu lernen, und außerdem passt es gar nicht zu mir. Ich habe etwas geplant, von dem ich glaube, dass es funktionieren könnte, aber dazu brauche ich die Dienste eines Waffenschmieds, der geschickt und schnell ist. Am besten mit einigen Lehrlingen, die alle gleichzeitig daran arbeiten können.«

»So viel Geld haben wir nicht«, gab Magiere zu bedenken.

»Ich brauche kein Geld.« Leesil gab ihr den Beutel zurück. Es fehlten nur die vier Münzen, die er ihm entnommen hatte.

»Leesil …«, begann Magiere.

»Es gibt da einige Dinge, die ich eintauschen kann«, kam er ihr zuvor. »Es wird ein ehrlicher Handel sein.«

Magiere stellte sich bereits vor, auf welche Weise er die Arbeit des Schmieds bezahlen würde, aber derzeit ging es ihr vor allem darum, diesem Gedränge zu entkommen.

»Erledige die Sache und kehr dann zu mir zurück. Äh, wohin gehen wir überhaupt?«

Leesil drehte sich um. »Vàtz, wir brauchen einen sauberen, billigen, ruhigen Gasthof, der nicht allzu weit vom Schlossgelände entfernt ist.«

Der Junge zögerte nicht. »Ganz einfach. Die ›Klette‹. Meine Jungs kennen den Weg.«

»Und du kommst mit mir«, fügte Leesil hinzu. Dann sah er Magiere an. »Ich bin bald wieder bei dir, und anschließend gehen wir zusammen zum Stadtrat«, versprach er, winkte Vàtz zu und eilte los.

Als Magiere plötzlich allein in der Menschenmenge stand, kam sie sich hilflos vor. Womit auch immer sich Leesil für die kommenden Tage bewaffnen wollte – sie konnte es ihm nicht verweigern. Sie hoffte nur, dass nicht irgendwann ein zorniger Schmied an ihre Tür klopfte, begleitet von Stadtwächtern. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zum Gasthof zu gehen und dort auf Leesil zu warten.

Die Hafenjungen waren bereit, aber aus irgendeinem Grund kicherten sie leise. Magiere hielt nach ihrem Rucksack Ausschau.

Vorn stand Pìnt. Er versuchte, ihren Rucksack zu tragen, der jedoch viel zu groß für ihn war. Sein Kopf verschwand völlig darunter, und er wankte hin und her.

»Gib mir das!« Sie nahm ihm den Rucksack ab. »Und jetzt los.«

Pìnt taumelte, als er so plötzlich von seiner schweren Last befreit wurde, und er drehte sich einmal um die eigene Achse, bevor sich seine Beine streckten. Ein Grinsen erschien in seinem schmalen Gesicht, und er lief los, zeigte den anderen den Weg.

»Vier Kupfergroschen, um Kindermädchen zu spielen«, murmelte Magiere und folgte den Jungen.

Leesil zweifelte daran, ob das, was er im Sinn hatte, in so kurzer Zeit hergestellt werden konnte. Er stand im Eingang der Schmiede, begleitet von Vàtz, der sich an die Tür lehnte. Was sich seinen Blicken darbot, gab ihm Hoffnung.

Die hinteren Türen waren geöffnet, damit Licht hereinkam, doch der größte Teil der Helligkeit stammte vom Glühen der Essen, die alles in einen geisterhaften Schein tauchten. Die Werkstatt war groß genug, um alle Schmiede Miiskas allein im Raum mit den Essen unterzubringen. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen arbeitete an den Feuerstellen. Überall standen Werkbänke und Tische mit Werkzeugen und Material, und es roch nach Metall und Kohle.

Leesil wandte sich den anderen Räumen zu. Durch eine Tür beobachtete er mehrere Personen, die an einem Tisch standen, dort Speer- und Pfeilspitzen, Schwerter und andere Waffen schliffen und spitzten. Vàtz hatte ihn tatsächlich zu einem besonderen Waffenschmied geführt. Leesil griff in sein Hemd, holte ein zusammengefaltetes Pergament und ein altes Tuch hervor, das um ein Objekt so lang wie sein Unterarm gewickelt war.

Aus der Werkstatt kam ein Mann, der kaum durch die Tür passte, eine massive Säule aus Fleisch, mit Beinen und Armen so dick wie Schiffsbalken. Selbst die lange Lederschürze schien zu schwitzen.

»Meister Balgaví zu deinen Diensten«, sagte der Mann mit schwerer, rollender Stimme und wischte sich die Hände an einem fleckigen Lappen ab. »Was kann ich heute für dich tun?«

»Ich habe sehr ungewöhnliche Arbeit für dich, und sie muss so schnell wie möglich erledigt werden«, sagte Leesil. »Bist du dazu imstande?«

Der Schmied zuckte mit den Schultern. »Wenn es sich lohnt, die andere Arbeit zu unterbrechen. Ich möchte keine Aufträge verlieren. Wenn ich genug Leute daransetze, können wir fast jede Stahlwaffe herstellen, in nur wenigen Wochen …«

»Nicht in Wochen«, sagte Leesil. »Einige Tage.«

Balgaví runzelte unwillig die Stirn, und für einen Moment fragte sich Leesil, ob ihn der Schmied hinauswerfen würde.

»So viel Geld hast du nicht«, brummte der Mann.

»Ich habe etwas, das viel mehr wert ist«, erwiderte Leesil.

»Was willst du?«, fragte der Schmied argwöhnisch. »Ich hoffe für dich, dass du nicht meine Zeit vergeudest.«

Leesil klemmte sich den tuchumwickelten Gegenstand unter den Arm und entfaltete vorsichtig das Pergament.

Im Wald außerhalb von Miiska hatte er gezeichnet, geändert und neu entworfen, bis das Bild seinen Vorstellungen entsprach. Er war sicher, mit Magiere gegen jeden Widersacher bestehen zu können, wenn dieses Objekt tatsächlich hergestellt werden konnte.

Vorn war es wie ein flacher Spaten geformt, verjüngte sich dann zu zwei einander gegenüberliegenden Bögen. Zwischen diesen Bögen erstreckte sich quer ein Griff, für eine Hand bestimmt, damit die Spitze nach vorn gestoßen werden konnte. Doch einer der beiden Bögen endete nicht an diesem Griff, sondern setzte sich sanft gewölbt fort, sodass er an der Außenseite des Unterarms entlangreichte und dicht unter dem Ellenbogen endete.

»Hm … interessant, so viel steht fest«, sagte der Schmied. Er nahm das Pergament von Leesil entgegen und sah sich die Zeichnung genauer an. »Und zum Glück für dich nicht so kompliziert, wie ich erwartet habe. Der Griff lässt sich bewerkstelligen, indem wir ein Oval in den vorderen Teil schneiden, das wie ein Schwertheft umfasst werden kann. Das ist besser, als ein Verbindungsstück zu schmieden, und es gibt Kraft und Stabilität. Außerdem haben wir einige Stücke gebogenes Metall auf Lager, die für den Außenflügel angepasst werden könnten. Dadurch sparen wir Zeit.«

»Ich brauche zwei spiegelverkehrte Waffen«, sagte Leesil. »Eine für jede Hand.«

Balgaví seufzte tief. »Du solltest etwas haben, das all diese Mühe wert ist.«

»Und ich benötige extra angefertigte Scheiden, die man an den Gürtel binden und mit Riemen über dem Knie befestigen kann, damit sie am Oberschenkel sitzen.«

Der Schmied brummte. »Wende dich an den Scheidenhersteller. Die Straße hinunter, zwei Häuserblocks.«

»Dazu habe ich keine Zeit«, sagte Leesil. »Und für das, was ich dir bezahle, kannst du einen deiner Lehrlinge mit der Zeichnung zu ihm schicken.«

Der Schmied faltete das Pergament zusammen.

»Zeig mir das ach so tolle Entgelt.«

Als er das Tuch von den beiden Objekten nahm, behielt Leesil das Gesicht des Schmieds im Auge. Dies war der Moment, den er am meisten gefürchtet hatte. Der große, muskulöse Mann war fasziniert, und seine Neugier in Hinsicht auf den Entwurf bedeutete, dass er geneigt war, den Auftrag anzunehmen. Seine Reaktion auf den Anblick der beiden Gegenstände würde Leesil zeigen, ob das angestrebte Tauschgeschäft zustande kam oder nicht.

Er zog das Tuch beiseite, und in seiner Hand lagen das Elfenstilett und das zusätzliche Heft.

Balgaví blinzelte zweimal. Leesil versuchte, nicht zu lächeln.

»Woher hast du das?«, fragte der Schmied leise, streckte die Hand aus und berührte das weiße Metall.

»Es sind in gewisser Weise Erbstücke«, antwortete Leesil. »Doch jetzt brauche ich etwas anderes.«

Der Schmied starrte noch immer auf die beiden Gegenstände und betastete sie. Vàtz reckte den Hals, um ebenfalls zu sehen, was Leesil in der Hand hielt, und zum ersten Mal geriet Bewegung in sein Gesicht.

Balgaví hob das Stilett, und es fing das Licht aus der Schmiede ein. Ein Funkeln und Glitzern lief über die saubere, perfekte Schneide der silberweißen Klinge.

»In Ordnung«, sagte der Schmied. »Aber sei gewarnt. Diese Art von eiliger Arbeit … Normalerweise lasse ich mehr Sorgfalt walten. Du bekommst das Beste, das in so wenig Zeit möglich ist, mehr nicht.«

»Einverstanden«, erwiderte Leesil. »Ich sehe später nach, wie du zurechtkommst. Oder es kommt jemand anders, wenn ich verhindert bin.«

Balgaví nickte, nahm auch das Heft, kehrte in die Werkstatt zurück und rief seinen Leuten etwas zu.

Leesil trat auf die Straße, gefolgt von Vàtz. Der Junge sah verärgert zu ihm auf.

»Vergiss es«, kam Leesil ihm zuvor. »Ich bezahle dich, wenn du deine Arbeit erledigt hast.«

»Daran habe ich nicht gedacht«, brummte Vàtz unzufrieden.

»An was dann?«

»Ich hätte mehr von dir verlangen sollen.«

Wynn besuchte den Stadtrat auf dem Schlossgelände nicht gern und bedauerte, dass Meister Tilswith das Belaskische nicht gut genug beherrschte, um sich selbst um diese Angelegenheiten zu kümmern. Der alte Domin saß jetzt neben ihr, als sie geduldig darauf wartete, zu übersetzen oder ihm die Worte zuzuflüstern, die ihm nicht einfielen.

Direkt vor ihr saß Graf Alexi Lanjow hinter dem großen Kirschholz-Schreibtisch in seinem Büro, schloss die Augen und rieb sich leicht verärgert die linke Schläfe. Er trug ein perfekt gebügeltes weißes Hemd, eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose. Wynn und Tilswith waren wie immer in schlichte graue Umhänge gekleidet.

»Ich verstehe Standpunkt, Alexi«, sagte Domin Tilswith. »Aber du zugibst, dass alte Kaserne nicht … angemessen … für unsere Erfordernisse.«

Das stechende Pulsieren in Lanjows linker Schläfe schien stärker zu werden, während der Domin in gebrochenem Belaskisch erläuterte, weshalb die Räumlichkeiten der Kaserne nicht für die Unterbringung von Schriftrollen, Büchern und anderem Material geeignet waren.

Lanjow öffnete die Augen und musterte die beiden vor ihm sitzenden Weisen.

Das Ratsmitglied erweckte den Eindruck, derzeit nicht viel für die Beschwerden der Gelehrten übrig zu haben, und Wynn verstand dies besser als Meister Tilswith. Lanjow verbrachte die Hälfte seiner Zeit damit, das Geld der Stadt in einer der größten Banken von Bela zu verwalten. Während der anderen Hälfte traf er Entscheidungen als Vorsitzender des Stadtrates.

Er war groß und fast fünfzig, doch es zeigten sich noch keine Falten in seinem quadratischen Gesicht, aus dem eine gerade, etwas zu große Nase ragte. Das Haar war stahlgrau, kurz und sorgfältig gekämmt.

»Euer Stadt uns hierher eingeladen hat«, sagte Domin Tilswith. »Neue Niederlassung der Gilde schaffen, Stadt, Königreich und Volk dienen. Erste auf eurem Kontinent, aber ihr uns nicht zu …« Er zögerte, und Wynn flüsterte ihm etwas ins Ohr. »… ihr uns nicht zu schätzen wisst.«

Lanjow stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf.

»Domin …«, erwiderte er mit hörbarem Ärger. »Tilswith … Du weißt, dass wir uns über eure Präsenz in der Stadt freuen. Mir ist klar, dass die Kaserne sehr zu wünschen übrig lässt, aber derzeit können wir die Gilde in keinem anderen Gebäude unterbringen. Die Stadt wächst enorm schnell, und es gibt keine anderen leer stehenden Häuser, die Platz genug für das bieten, was ihr plant. Wir müssen warten, bis genügend Baugrund zur Verfügung gestellt wird, um ein ganz neues Gebäude zu errichten.«

Wynn musste die Antwort des Vorsitzenden teilweise für Tilswith übersetzen. Als sie damit fertig war, blitzte es in den grünen Augen des alten Gelehrten. Fast hätte Wynn erleichtert gelächelt, denn sie hoffte, dass ihrem Vorgesetzten dies genügte. Vielleicht würde Lanjow ihnen wirklich helfen.

»Ja, ja«, sagte Tilswith. »Beste Lösung. Wann?«

Lanjow seufzte. »Ich werde dafür sorgen, dass der Rat die Angelegenheit bespricht. Doch derzeit gibt es einfach nicht genug Geld für ein Projekt solcher Größe.«

Wynn sah sich in dem Büro um, wie auch Tilswith, und runzelte dabei argwöhnisch die Stirn. Lanjow rutschte auf seinem Stuhl verlegen zur Seite.

An den Wänden hingen dunkelblaue Gobelins, cremefarben eingefasst. Eine Wand zeigte ein Porträt von Chesna, der Tochter des Vorsitzenden, und gegenüber hing ein Bild des Königs. Der sumanische Teppich war dick genug, dass man darauf hätte schlafen können, und ein Teeservice aus Porzellan mit dazu passender Kanne stand auf einer Kirschholzkommode neben der Seitentür des Büros. Lanjows Tischtintenfass und die Spitze des mit einem kristallenen Griff versehenen Federkiels bestanden aus Silber.

»Ja«, sagte Tilswith. »Wir sehen Problem … mit Geld.«

Wynns Hoffnung löste sich auf, als aus dem höflichen Bedauern in Lanjows Gesicht Ablehnung wurde.

»Ich respektiere die Gilde und freue mich, dass ihr in der Stadt seid«, sagte der Vorsitzende ernst. »Aber ganz ehrlich, Tilswith: Derzeit müssen wir uns um dringendere Angelegenheiten kümmern. Nein, sieh mich nicht so an, als wäre ich taub. Es gibt Dinge … kriminelle Dinge … die unsere Aufmerksamkeit erfordern.«

Diese Worte verstand der Domin, und er zögerte einige Sekunden.

»Das mit deiner Tochter mir leid tut«, sagte Tilswith. »Sie nettes Mädchen … unschuldig.«

Auch in Wynn regte sich Mitgefühl. Lanjow litt sehr unter dem Tod der Tochter, die direkt vor seinem Haus ermordet worden war. Wynn hatte nur wenige Einzelheiten gehört, doch die Beschreibung der Leiche genügte ihr völlig.

»Ich helfe, wenn ich kann«, fügte Tilswith hinzu.

Lanjow nickte steif. »Ja, ich weiß, dass du dazu bereit bist. Wir geben uns alle Mühe, den Mörder zu finden. Der Stadtrat hat einen Brief nach Miiska geschickt und um die Entsendung eines Dhampirs gebeten.« Er richtete einen fragenden Blick auf Tilswith. »Weißt du von solchen Geschöpfen?«

Beide Weisen sahen ihn an. Tilswith runzelte verwirrt die Stirn, beugte sich zu Wynn und erhoffte sich eine Erklärung von ihr.

Wynn wandte sich an Lanjow. »Was ist ein Dhampir?«

»Ein Jäger der Toten – oder der Untoten«, erwiderte der Vorsitzende des Stadtrats. »Ja, ja, ich weiß, es klingt schrecklich abergläubisch, aber …« Er unterbrach sich, und deutliches Unbehagen erschien in seinem Gesicht. »Ein übernatürliches Wesen hat meine Tochter getötet, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Die Stadt braucht eine ebenso ungewöhnliche Person, um es zu jagen.«

»Aber was ist ein Dhampir?«, wiederholte Wynn.

Lanjow seufzte erneut. »Nach den Legenden handelt es sich dabei um den Nachkommen eines Vampirs und eines Sterblichen. Ein solches Geschöpf soll in der Lage sein, Untote zu vernichten.«

Wynn zögerte skeptisch, bevor sie die Worte für Tilswith übersetzte. Der alte Weise schnaufte abfällig.

»Kindermärchen«, sagte er. »Wir ähnliche Geschichten kennen über Àrdadesbàrn

»Wir sprechen von ›Todeskind‹«, erklärte Wynn. »Allerdings ist damit das Kind eines Wiedergängers gemeint, nicht das eines Vampirs. Wie viel bezahlt ihr diesem … Dhampir?«

»Überall an der Küste erzählt man sich von jener Person«, sagte Lanjow und überhörte die Frage nach der Bezahlung. »Offenbar entsprechen die Geschichten zumindest zu einem Teil der Wahrheit, so wie jedes Gerücht in seinem Kern etwas Wahres enthält. Die Dhampir und ihr Begleiter haben in Miiska mindestens drei Untote gejagt und besiegt, wie uns der Stadtrat jenes Ortes bestätigte.« Lanjow schüttelte langsam den Kopf. »Untote … Allein der Gedanke, dass sie mehr sind als nur der Aberglaube einfacher Bauern …«

Tilswith schnaufte erneut, aber Wynn war neugierig. Eine halbe Untote?

Der Domin schien auf das Thema des Gildenquartiers zurückkommen zu wollen, als es an der Seitentür klopfte.

»Herein«, sagte Lanjow fast erleichtert.

Crias Doviak, Sekretär des Stadtrats, öffnete die Tür und sah ins Büro.

»Sie ist da, Herr«, sagte er. »Der Rat versammelt sich im Hauptsaal.«

Lanjow stand sofort auf. »Danke. Ich komme gleich.«

Doviak nickte respektvoll und schloss die Tür.

»Entschuldige bitte«, wandte sich Lanjow an Tilswith und trat um den Schreibtisch. »Die Pflicht ruft mich fort.«

Tilswith stotterte etwas, doch Lanjow zog ihn fast vom Stuhl, als er ihm zum Abschied die Hand schüttelte. Er klopfte Wynn auf die Schulter und führte sie beide zur Haupttür.

»Wir werden uns so bald wie möglich um euer Anliegen kümmern.«

Wynn war von Lanjows plötzlicher Eile so überrascht, dass sie instinktiv versuchte, sich an der Tür festzuhalten, doch die große Hand des Vorsitzenden gab ihr einen Schubs. Bevor sie noch einen letzten Gruß murmeln konnte, schloss sich die Tür.

»H’neaw hornunznu!«, zischte Tilswith aufgebracht.

Wynn war dankbar dafür, dass sie den Fluch nicht übersetzen musste.

Leesil ging langsamer, als er sich dem Rathaus näherte, überwältigt von dessen Größe. Das lange, zweistöckige Gebäude diente Bela auch als Gericht. Der Stadtrat von Miiska tagte in einem Hinterzimmer der »Samtrose«, und natürlich hatte Leesil in dieser Metropole mehr erwartet – aber nicht so etwas. Die Eingangstür war breit genug, sie mit ausgestreckten Armen zu passieren. Als er eintrat, fühlte er sich für jede einzelne Missetat in seinem Leben schuldig.

Als sie den kathedralenartigen Eingang durchschritten hatten, warteten Leesil, Magiere und Chap, während ein Wächter einen jungen Bediensteten beauftragte, den Sekretär Crias Doviak zu holen. Durch die verglasten Fensterbögen über der breiten Tür fiel Licht auf steinerne Wände, deren Hellgrün gut zum Boden aus Marmor mit jadegrüner Maserung passte. Ein eiserner Kronleuchter hing von der hohen, kuppelförmigen Decke herab. In glänzenden Messinghaltern steckten mindestens zwei Dutzend kleine Öllampen.

Leesil rückte sein Kopftuch zurecht und sah an sich hinab. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der vom Markt nach Hause zurückgekehrt war, ohne zu merken, dass er in Katzenkot gesessen hatte. Normalerweise scherte er sich nicht darum, was andere Leute von seinem Erscheinungsbild hielten, aber dies war eine ganz neue Welt. Sie kamen, um Untote zu jagen, ganz offiziell.

Magiere merkte nichts von seiner Beklommenheit und wanderte mit kurzen Schritten über den glänzenden Marmorboden. Nachdem Leesil zu dem Waffenschmied gegangen war, hatte sie mit den Hafenjungen den Gasthof namens »Klette« in einem der einfacheren Händlerviertel aufgesucht. Wie sich herausstellte, gehörte er Vàtz’ Onkel, wurde aber durchaus ihren Vorstellungen gerecht. Als Leesil zu Magiere zurückkehrte, blieb ihnen gerade noch Zeit genug für eine Suppe, bevor sie sich auf den Weg zum Stadtrat von Bela machen mussten.

»Keine Sorge«, sagte er zu ihr. »Es geht jetzt nur noch darum, mehr über den Tod der Tochter des Ratsmitglieds zu erfahren und festzustellen, wo wir mit der Suche beginnen müssen. Chap findet bestimmt eine Spur, so wie in Miiska.«

»Ich bin nicht besorgt«, erwiderte Magiere.

Chap winselte und drückte ihr die Schnauze gegen die Hand, als sie an ihm vorbeiging.

»Hör auf damit«, sagte sie, zog die Hand zurück und richtete einen verächtlichen Blick auf Leesil. »Ich habe mit genug Dorfältesten verhandelt, als wir das Spiel gespielt haben. Ich weiß, wie man bei einer solchen Sache vorgeht.«

Ja, dachte Leesil. Aber wir sind hier nicht in einem strawinischen Dorf.

Dies waren keine abergläubischen Bauern, die sich von Pulverwolken, scheppernden Urnen und einem mehlbestäubten Halbelf beeindrucken ließen. Sie befanden sich in der Stadt des Königs, und von einem »Spiel« konnte nicht mehr die Rede sein.

Doch Leesil nickte nur und schwieg.

Magiere war besser gekleidet als er. Sie trug ihre schwarze Hose, ein weites Hemd, das gewaschen werden musste, und eine Lederweste. Das Haar hatte sie wie üblich zusammengebunden, und ihr Falchion hing an der Hüfte. Sie wirkte entspannt, setzte allerdings ihre Wanderung fort.

Durch einen Seitenflur kam ein kleiner, gepflegter Mann, der recht schnell ging. Die Absätze seiner Schuhe klackten auf dem Boden. Leesil vermutete, dass es sich um den Sekretär Crias Doviak handelte. Zwei bewaffnete Wächter begleiteten ihn, und wegen der längeren Beine schienen ihre Schritte langsamer und gemessener zu sein.

»Der Rat hat sich versammelt und erwartet euch im Hauptsaal«, sagte Doviak mit einem leichten, affektierten Lispeln. Sein hellbraunes Haar bildete Ringellocken.

»Wir sind bereit«, erwiderte Leesil.

»Der Form halber müsst ihr alle eure Waffen den Wächtern übergeben.« Der kleine Sekretär zögerte und lächelte entschuldigend. »Natürlich bewahren sie sie gut auf, und wenn ihr geht, bekommt ihr sie zurück.«

Magiere starrte ihn an. »Warum?«

Doviak war offenbar nicht an Konfrontationen gewöhnt und suchte nach Worten.

»Es ist eine ganz normale Sicherheitsmaßnahme, das versichere ich dir.« Er deutete eine Verbeugung an. »Aber in deinem Fall, Dhampir, wäre es nur eine freundliche Geste von dir.«

»Ach, gib ihm dein Schwert«, brummte Leesil. »Ich bezweifle, dass du es dort drin brauchst.«

Magiere schaute finster, schnallte aber ihr Falchion ab.

»Und wo«, begann Doviak vorsichtig, »lässt die werte Dame ihren Hund zurück?«

»Er kommt mir uns«, sagte Leesil.

Doviak öffnete den Mund, um zu widersprechen, und schloss ihn dann wieder.

Magiere gab ihr Schwert einem der beiden Wächter, und der fragte: »Sonst noch etwas?«

»Das ist alles«, antwortete sie scharf.

Der Wächter nickte. Leesil trug noch immer seine beiden »Alltags-Stilette« in den Hemdsärmeln, sah aber keinen Grund, sie zu erwähnen.

Sie schritten durch einen breiten Flur – Doviak übernahm die Spitze, und die beiden Wächter bildeten den Abschluss. Nach einer Weile bogen sie in einen weiteren breiten Korridor ab, an dessen Ende eine große Doppeltür aus dunklem Holz lag. Zu beiden Seiten des Flurs gab es kleinere Türen, und vor einer standen ein älterer Mann und eine junge Frau, die beide schlichte graue Umhänge trugen. Leesil musterte sie neugierig und stellte dann erstaunt fest, dass sie Magiere und ihn wie zwei sonderbare Tiere anstarrten.

Die junge Frau unterbrach ihr Gespräch mit dem älteren Mann und widmete Leesil und Magiere ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihr Blick glitt auch zu Chap. Sie hatte ein glattes, ovales Gesicht und blinzelte nicht ein einziges Mal. Dann lächelte sie sanft und wandte sich an Leesil.

»Majaye túâg bithva annaseach èsh äillé! Sheórsäe a’bizthva?«

Er verstand die Worte nicht, aber sie klangen vertraut. Die Frau hatte ihn auf Elfisch angesprochen, doch etwas hörte sich anders an als damals bei seiner Mutter.

»Es tut mir leid«, sagte Leesil. »Ich spreche kein …«

»Oh.« Sie wirkte verlegen und gleichzeitig verwirrt. »Entschuldigung … Das wusste ich nicht.«

Leesil wandte den Blick ab und ging weiter, bemerkte dann aber, dass Chap die junge Frau ansah und mit dem Schwanz wedelte. Daraufhin kehrte sein Blick zu ihr zurück.

Sie sah den Hund an, mit deutlicher Verwunderung im Gesicht. Und dann, als wäre überhaupt nichts geschehen, drehte sich Chap um und schloss zu Leesil und Magiere auf. Die große Doppeltür öffnete sich, und Doviak führte sie in den Saal.

Leesil fand sich in einem großen Raum wieder, mit Wächtern in allen vier Ecken und Bediensteten, die Tee servierten, Mäntel entgegennahmen und Tintenfässer auf dem riesigen Tisch füllten. An allen vier Wänden, zwischen kobaltblauen Vorhängen, hingen lebensgroße Porträts, die ernste, konservativ gekleidete Männer in mittleren Jahren zeigten. Und der Tisch …

Leesil konnte sich keinen Mahagonibaum vorstellen, der groß genug gewesen wäre für ein einzelnes Stück Holz mit diesen Ausmaßen. Der lange Tisch reichte von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand. Mehr als dreißig Männer unterschiedlichen Alters saßen auf Mahagonistühlen mit hohen Rückenlehnen und sahen die Neuankömmlinge an.

Magiere schien von der Szene vor ihnen nicht beeindruckt zu sein. Sie folgte Doviak zum Tisch, und dort blieb der kleine Mann stehen.

»Fräulein Magiere und …« Der Sekretär zögerte und sah zu Chap und Leesil. »… und ihre Begleiter.«

Auf der anderen Seite des Tisches, am Kopfende, stand ein Mann auf. Er war ungewöhnlich groß, hatte breite Schultern und stahlgraues Haar. Seine ganze Kleidung, vom Kragen bis zu den Manschetten, war makellos. Erneut bedauerte Leesil, sich nicht einmal die Zeit genommen zu haben, sein Hemd zu waschen.

»Ich bin Alexi Lanjow, Vorsitzender des Stadtrates von Bela.« Er zögerte und musterte Magiere unsicher. »Du bist Magiere, die Jägerin aus Miiska?«

Leesil spürte, dass Lanjow sehr wohl verstand, seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten, aber die Augen verrieten ihn: Er war verblüfft. Magiere entsprach ganz offensichtlich nicht seinen Erwartungen.

Magiere sah den Vorsitzenden an und schenkte allen anderen im Saal keine Beachtung.

»Ja, ich bin die Jägerin, um die ihr gebeten habt.«

Mehrere Ratsmitglieder flüsterten miteinander. Ein ganz in Schwarz gekleideter alter Mann deutete auf Chap.

»Tiere sind im Ratssaal nicht gestattet. Sie sind im ganzen Gebäude verboten.«

Leesil legte Chap die Hand auf den Rücken und merkte die Anspannung des Hunds – er schien die ihm geltende Ablehnung zu fühlen. Magieres Blick glitt kurz zu dem Alten und verharrte für einen Moment auf ihm. Sie verzichtete auf einen Kommentar und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Lanjow zu.

»Wir haben dein Angebot angenommen«, sagte sie. »Jetzt müssen wir nur noch die Details erfahren. Der Brief erwähnte ein Mädchen, das vor deiner Haustür getötet wurde. Wir brauchen genaue Angaben über den Ort und ein Kleidungsstück der Ermordeten. Dann können wir beginnen.«

Lanjow erbleichte und atmete schwer. Aus dem Flüstern wurde ein Brummen, und dann erklang eine laute Stimme mit einem vage vertrauten Akzent.

»Und womit genau wollt ihr beginnen?«

Leesil stellte fest, von wem die Stimme stammte: von einem ungewöhnlichen Mann mit schulterlangem, schwarzbraunem Haar, einem sorgfältig gestutzten Bart und pockennarbiger Haut. Er trug einen Kasack aus Seide und war in eine Aura der Arroganz gehüllt.

Lanjow hob die Hand. »Lord Au’shiyn … Wir haben bereits über Eure Sorgen gesprochen. Die Angelegenheit war doch erledigt.«

Au’shiyn. Leesil wiederholte den Namen in Gedanken. Er klang nicht strawinisch oder belaskisch. Vielleicht stammte der Mann aus den fernen Regionen von Dröwinka, aber der Akzent passte nicht.

Dann begriff Leesil plötzlich, wo er diesen Akzent schon einmal gehört hatte.

Au’shiyn sprach wie Rashed, der untote Krieger, den Magiere in Miiska besiegt hatte. Und Rashed war zu seinen Lebzeiten Sumaner gewesen. Was machte ein Mann aus dem Sumanischen Reich in Belas Stadtrat?

»Die Angelegenheit ist noch immer aktuell«, erwiderte Au’shiyn kühl und wandte sich wieder an Magiere. »Was genau willst du bei uns jagen?«

Zum ersten Mal seit Magiere den Saal betreten hatte, zeigte sich ein Hauch Unsicherheit in ihrem Gesicht.

»Der Rat hat mich gebeten hierherzukommen«, sagte sie und sah dabei Lanjow an. »Der Brief war eindeutig.«

»Ja, ja«, antwortete ein junger Mann mit rötlich blondem Haar, der neben Lanjow saß. Er wirkte ernst, und der Dissens war ihm sichtlich unangenehm. »Ich versichere dir, dass unser Angebot ernst gemeint ist. Das ermordete Mädchen war Ratsmitglied Lanjows Tochter, und sie starb vor seiner Haustür. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen.«

Lanjow nickte und rang noch immer um seine Fassung.

Ein Wort, das der junge Mann an Lanjows Seite benutzt hatte, machte Leesil nachdenklich: ermordet.

Er hatte den Brief des Stadtrats von Bela gelesen, und darin war von einem getöteten Mädchen die Rede. Den Begriff »Mord« in Zusammenhang mit Vampiren hatte er bisher nicht gehört. Der junge Mann schien bereit zu sein, offener über die ganze Sache zu reden.

Auch Lord Au’shiyn bemerkte die besondere Wortwahl. »Ja, das arme Mädchen wurde ermordet, und deshalb möchte ich wissen, warum unsere Stadtwache den Mörder nicht gefunden hat.«

»Weil der Mörder ein übernatürliches Wesen ist!«, platzte es aus dem jungen Mann heraus. »Ein Untoter, der sich von Blut ernährt. Deshalb brauchen wir einen Dhampir. Die Stadtwache hat vergeblich versucht, den Täter zu finden.«

Au’shiyn lachte abfällig. »Ja, ein Dhampir.« Er sah Magiere an. »Wem verdankst du die Abstammung von einem dieser blutrünstigen Toten? Deiner Mutter oder deinem Vater?«

Kälte kroch in Magieres Gesicht. Leesil beobachtete die vier Wächter im Saal und war froh, dass Magiere vor dem Eintreten ihr Falchion abgegeben hatte. Selbst die skeptischen Männer um Au’shiyn hatten den Anstand, verlegen zu wirken.

»Ich bitte dich«, murmelte der Mann neben ihm. »Ist das nötig?«

»Genug!«, rief der Vorsitzende. »Die Dhampir ist gekommen, um uns zu helfen. Sie verdient nicht nur unseren Dank und unsere Hilfsbereitschaft …« Er nickte Magiere zu. »… sondern auch Höflichkeit. In einem der besten Gasthöfe von Bela ist ein angemessenes Quartier für euch reserviert. Ich lasse euch von den Wächtern sofort dorthin bringen. Kommt morgen früh in mein Büro. Dann nenne ich euch die wenigen Einzelheiten, die ich kenne.«

Magiere trat zurück und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Leesil kannte sie gut genug, um zu wissen, dass der entscheidende Moment gekommen war. Entweder sagte sie den Stadträten, dass sie ihr Angebot verbrennen und sich die Asche in die Haare schmieren konnten, oder sie versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Chap jaulte und drückte die Schnauze gegen ihre Hand. Sie sah auf ihn hinab, und Leesil beobachtete, wie Hund und Frau einen langen Blick wechselten. Magiere lächelte schief und strich Chap über den Kopf. Dann sahen ihre dunklen Augen wieder zum Rat, und sie ging langsam am großen ovalen Tisch entlang.

»Einer von euch hat seine Tochter auf eine so erschreckende Weise verloren, dass ihr es für richtig gehalten habt, mich um Hilfe zu bitten. Wenn sie mit aufgerissener Kehle starb, habt ihr es entweder mit einem übernatürlichen Ungeheuer oder einem Wahnsinnigen zu tun. Ich nehme an, dass eure Wächter mit einem Verrückten fertig werden können, womit klar sein dürfte, warum ich hier bin.« Ihr Blick wanderte über Au’shiyn hinweg, ohne bei ihm zu verharren. »Wenn es sich um einen Untoten handelt, so braucht ihr mich – und sie.« Sie deutete auf Leesil und Chap. »Wir sind nur deshalb hier, weil ihr uns genug Geld angeboten habt, Miiska vor dem Ruin zu bewahren. Das Angebot wurde angenommen. Jetzt könntet ihr euch darauf beschränken, unsere Fragen zu beantworten und uns ansonsten nicht in die Quere zu kommen.«

Als Magiere schließlich neben Lanjow stehen blieb, schwieg selbst Au’shiyn. Leesil unterdrückte ein Lächeln. Keiner dieser Männer war an so offene Worte gewöhnt.

»Wir haben bereits ein Quartier bezogen«, teilte Magiere Lanjow mit. »Es wäre wenig sinnvoll, uns von Wächtern zu einem luxuriösen Gasthof begleiten zu lassen. So etwas würde unnötige Aufmerksamkeit erregen.«

Lanjows Verwirrung wuchs. »Es sind Vorbereitungen getroffen …«

»Lasst euch das gezahlte Geld zurückgeben«, sagte Magiere. »Und ich möchte nicht bis morgen früh warten. Die Spur ist bereits kalt. Wir besuchen dein Haus heute Abend.«

»Mein Haus?«, wiederholte Lanjow unsicher. Daran hatte er offenbar noch nicht gedacht, aber dann nickte er langsam. Vermutlich glaubte er, dass sie eine übernatürliche Methode der Spurensuche verwendete.

»Heute Abend«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir brauchen die Adresse. Eine Eskorte wollen und brauchen wir nicht.«

»Natürlich«, erwiderte Lanjow. »Der Sekretär gibt dir alle notwendigen Informationen.«

Magiere drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür, an Doviak vorbei, der mit offenem Mund dastand, gefolgt von Leesil und Chap. Vor dem Wächter an der Tür blieb sie kurz stehen.

»Mein Schwert«, sagte sie.

Der Mann gab es ihr, und Magiere ging weiter. Sie blieb erst stehen, als sie die Terrasse des Rathauses erreichte, schloss dort die Augen, lehnte sich an die steinerne Brüstung und atmete tief durch.

»Wie die Oberhäupter der Dörfer«, sagte sie, aber es klang ein wenig unsicher. »Ganz gleich, wie zornig sie sind … Tief in ihrem Innern haben sie Angst. Sie wollen, dass jemand anders ihren Kampf führt.«

»Glaubst du, dass es sich wirklich um einen Untoten handelt?«, fragte Leesil.

»Keine Ahnung. Um Miiskas willen sollten wir es besser hoffen.«

»Ein trauriger Gedanke«, erwiderte Leesil. Dann straffte er betont dramatisch die Gestalt. »Nun, du bist heute schon einmal den Wölfen gegenübergetreten. Ich lasse mir den Weg zu Lanjows Haus erklären.«

»Ja«, sagte Magiere. »Und dann beginnen wir mit der Jagd.«

Er musterte ihr blasses Gesicht, sah das Haar, den Mund und die Augen, die ins Leere starrten, voller Gedanken, die er nicht berühren konnte. Wenigstens hatte sie eine endgültige Entscheidung getroffen. Er würde dafür sorgen, dass sie alles bis zum Ende durchstand und es nach Hause zurück schaffte, ganz gleich, was zwischen ihnen geschehen mochte.

»Ja, dann beginnen wir mit der Jagd.«

Welstiel Massing wartete in einer Ecke von Ratsmitglied Lanjows Büro. Er wusste, dass die stattfindende Versammlung bald zu Ende gehen würde, und anschließend kehrte Lanjow immer hierher zurück. Schließlich öffnete sich die Tür.

Lanjow wirkte erschöpft und abgespannt. Er ging zu seinem Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl sinken und zog an einer von der Wand hängenden Samtkordel.

Doviak sah zur Tür herein. »Ja, Herr?«

»Ich möchte den Auftrag für die Jägerin zurückziehen. Finde heraus, in welchem Gasthof sie wohnt, und lass ihr eine entsprechende Mitteilung schicken.«

Doviak nickte und seufzte erleichtert. »Ich bereite sofort ein Schriftstück vor.«

Die Tür schloss sich, und Lanjow schlug die Hände vors Gesicht.

»Es wäre ein Fehler, die Dhampir fortzuschicken«, sagte Welstiel und trat vor.

Lanjow zuckte zusammen und hob den Kopf.

»Welstiel?« Er versuchte, sich wieder zu fassen. »Wie bist du …? Was machst du hier?«

»Der Sekretär hat mich vor einer Weile hereingelassen. Ich habe den ganzen Tag in den Kellerarchiven recherchiert. Als ich vom Eintreffen der Dhampir hörte, bin ich hierhergekommen, um auf dich zu warten.«

»Ich habe dich nicht bemerkt«, sagte Lanjow. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und rieb sich die Augen. »Du hättest dich bemerkbar machen sollen.«

»Die Versammlung ist nicht gut gelaufen?«

Welstiel trat vor den Schreibtisch und schob die Daumen beider Hände hinter den Gürtel. Lanjows Blick fiel kurz auf den kleinen Finger, an dem ein Glied fehlte. Welstiel trug oft Handschuhe, um diesen kleinen Schönheitsfehler zu verbergen, aber das war diesmal nicht der Fall.

»Eine Katastrophe«, sagte Lanjow. »Du hast sie mir als Profi beschrieben.«

»Das ist sie auch«, erwiderte Welstiel. »Lass dich von Erscheinungsbild und Gebaren nicht täuschen. Vor wenigen Monden hat sie einen sehr fähigen untoten Krieger besiegt. Sie ist ein Dhampir.«

Lanjow schüttelte unsicher den Kopf.

Welstiel war ihm zum ersten Mal vor einem Monat im »Haus des Ritters« begegnet, einem Lokal für die Oberklasse von Bela. Sie hatten sich besser kennengelernt, und inzwischen war Welstiel zu einem Freund geworden. Zusammen mit Domin Tilswith zählte er zu den wenigen Personen, die angesichts von Chesnas Tod aufrichtiges Beileid zum Ausdruck gebracht hatten. Lanjow wollte Gerechtigkeit, wie er es nannte. Welstiel hatte ihm dabei geholfen, die Hintergründe des Verbrechens zu verstehen, und eine mögliche Lösung vorgeschlagen.

»Wenn es einen Vampir in Bela gibt, so wird sie ihn finden«, fuhr Welstiel fort. »Ich habe selbst gesehen, wie untote Monstren töten. Deine Tochter ist einem solchen Wesen zum Opfer gefallen.«

Es klopfte an der Tür, und Doviak kam herein.

Lanjow zögerte, und Welstiel verstand seine Sorgen. Wenn die Dhampir versagte, fiel er in Ungnade. Und wenn er sie jetzt fortschickte … Dann stand er nach all dem Druck, den er auf den Rat ausgeübt hatte, wie ein Narr da. Und dann würde es keine Gerechtigkeit für Chesna geben.

»Schon gut, Doviak«, sagte Lanjow leise. »Wir folgen dem eingeschlagenen Weg.«

Doviak sah kurz zu Welstiel und runzelte die Stirn. »Seid Ihr sicher?«, fragte er Lanjow.

»Bleib stark«, forderte Welstiel den Vorsitzenden des Rates auf. »Lass die Jagd stattfinden.«

Lanjow atmete tief durch. »Ja, sie soll stattfinden.«