3

Die Sonne ging an einem frischen, klaren Morgen auf. Magiere stand mit Leesil und Chap an Miiskas Anlegestelle und bereitete sich darauf vor, an Bord eines Schoners zu gehen, der sie nach Bela bringen sollte. Sie hatten mehrere Tage auf ein Schiff gewartet, das nach Norden segelte, und jetzt dümpelte ein hübscher Zweimaster unweit der Hafeneinfahrt. Er hatte zu viel Tiefgang, um im seichten Wasser des Hafens zu ankern; ein Ruderboot würde sie zum Schiff bringen, damit ihre Reise die Küste hinauf beginnen konnte.

Magiere hatte ihr langes Haar mit einem Lederriemen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; sie trug Stiefel, eine schwarze Hose und ein rotgelbes Hemd. Das Falchion baumelte wieder an ihrer Hüfte, und die beiden Amulette hingen deutlich sichtbar am Hals. Die wenigen anderen Kleidungsstücke, ein neuer Rucksack, einige Vorräte und Leesils Werkzeugkasten befanden sich in der kleinen Truhe aus ihrem Zimmer, die jetzt neben ihr auf dem Kai stand.

Leesil schenkte seinem Äußeren wie üblich kaum Beachtung. Er trug eine weite, ausgewaschene Hose, weiche Stiefel und ein altes, zu oft geflicktes Hemd. Er schien unbewaffnet zu sein, doch dieser Eindruck täuschte. Magiere wusste um die Stilette in den Scheiden an seinen Unterarmen, und vielleicht waren auch noch an anderen Stellen Klingen versteckt. Das grüne Tuch bedeckte sein Haar und die Spitzen der Ohren. Sie waren oft durch Bela gekommen, hatten dabei aber nie jemanden aus dem Volk von Leesils Mutter gesehen. Er zog es vor, seine Abstammung nicht zu deutlich zu zeigen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Das ist noch nicht nötig«, sagte Magiere und deutete auf das Tuch. »Wir sind noch nicht an Bord des Schiffes.«

»Ich übe nur ein wenig, was meine Tarnung betrifft«, erwiderte er. »Das gibt mir etwas zu tun.«

Bei einer anderen Gelegenheit hätte Magiere gelächelt, das Gesicht verzogen oder vielleicht auf seine seltsam gefärbten Augen hingewiesen, die nicht zu verbergen waren. Doch an diesem Morgen konnte sie mit Leesils Humor nichts anfangen. Seit dem Abend am Kamin hatten sie kaum miteinander gesprochen. Jetzt brachen sie nach Bela auf, wo sie, Magiere, vielleicht wieder zum Dhampir werden würde. Wenn sie erneut die Kontrolle verlor und sich Leesil in der Nähe befand …

Magiere schob diesen Gedanken beiseite. Sie wünschte sich, er wäre dieses eine Mal ernst gewesen und hätte ihr ganz offen gesagt, was ihm durch den Kopf ging. Er war fast ebenso verspielt und neckisch wie in all den Jahren in der strawinischen Provinz. Offenbar freute er sich auf die Reise, auf ein Abenteuer … auf eine Abwechselung vom Leben im »Seelöwen«.

Magiere blickte über die lange Anlegestelle, zu den Kähnen und kleineren Schiffen, die auf Fracht warteten.

»Hallo!«, erklang eine Stimme, und Magiere drehte sich um. Karlin lief auf sie zu.

Sie freute sich, ihn zu sehen, obwohl sie das unter den gegenwärtigen Umständen nicht zugegeben hätte. Er repräsentierte die Dinge, die sie an ihrem neuen Leben in Miiska zu schätzen wusste. Sein offenes, großzügiges Wesen und seine ruhige Kompetenz gaben ihr Vertrauen in die Welt und zu den Menschen.

Chap hörte Karlins Stimme und lief ihm entgegen, wurde an der Seite des Bäckers aber unruhig und sah zum näher kommenden Ruderboot.

»Du auch?«, fragte sie leise.

Leesil blinzelte. »Wie meinst du das?«

»Schon gut«, sagte Magiere.

»Wir sind gekommen, um euch zu verabschieden«, schnaufte der außer Atem geratene Karlin. Butter hatte Flecken an seiner Schürze hinterlassen, und an einigen Stellen klebte Mehl.

»Wir?«, fragte Magiere.

Ein Stück hinter ihm kam Loni über den Kai. Der Wind zog an seinem langen Haar, wodurch die spitzen Ohren zum Vorschein kamen. Zusammen mit seinem schmalen dreieckigen Gesicht und den schrägen, bernsteinfarbenen Augen ließen sie ihn seltsam wirken, wie von einer anderen Welt. Loni ging auf sie zu und ergriff Magieres Hand.

»Danke«, sagte er ernst und zeigte jetzt ein ganz anderes Gebaren als bei ihrer letzten Begegnung. »Wir alle wissen deine Entscheidung zu schätzen.«

Magiere nahm seine Worte ungerührt entgegen und zog die Hand zurück.

»Ich tue es nicht für dich.«

Loni nickte unverdrossen. »Ich danke dir trotzdem.«

»Ja, ja«, sagte Karlin. Er sah Magieres Begleiter an und ahmte ihn nach, indem er sich halb verbeugte – auf diese Weise versuchte Leesil manchmal, anderen Leuten ein Schmunzeln zu entlocken. »Wir danken euch beiden. Ihr ahnt nicht, wie dankbar wir euch sind. Erneut kommt ihr Miiska zu Hilfe.«

Er klopfte Chap auf den Rücken und trat vor, um Magiere zu umarmen. Sie sah, dass Leesil einen finsteren Blick auf Karlin richtete, der davon jedoch gar nichts zu bemerken schien und die Arme um sie schlang.

Sein großer, massiger Leib versprach Geborgenheit. Es lag Magiere nichts daran, ihn und die Stadt zu verlassen. Karlin hielt sie einige Sekunden lang fest, bevor er sich von ihr löste.

»Wir kehren so bald wie möglich zurück«, sagte Magiere und versuchte zu lächeln. »Mit dem Geld für den Wiederaufbau des Lagerhauses.«

Karlin klopfte ihr auf die Schulter, und seine Augen glänzten feucht.

»Dies hier könnt ihr sicher gut gebrauchen«, sagte er und reichte Magiere einen kleinen Beutel. »Etwas Geld für die Reise. Es ist der Rest unserer Gemeinschaftsmittel, aber eure Reise ist eine Investition. Nein, nein«, fügte er hinzu, als Magiere den Beutel zurückweisen wollte. »Ihr braucht Essen, Unterkunft und wer weiß was sonst noch. Nimm den Beutel – oder ich gebe ihn Leesil.«

Magiere sah zur Seite. Das gemeinsame Geld in Leesils Obhut?

»Dann sollte ich ihn besser verwahren«, sagte sie.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Leesil und runzelte die Stirn.

Die Wahrheit lautete: Sie brauchten das Geld, und Magiere nahm es mit einem kurzen Nicken entgegen. Wenige Sekunden später erreichte das Ruderboot die von der Anlegestelle herabhängende Leiter. Chap winselte leise, und sein wedelnder Schwanz stieß gegen Karlins Knie – dann sprang er vom Kai herunter ins Boot. Das kleine Skiff schaukelte heftig, und die beiden Ruderer begannen zu fluchen. Chap setzte sich zwischen die Sitzbänke und sah zu den anderen hinauf, während sein Schwanz mit dumpfem Pochen auf den Bootsboden schlug.

Leesil sah auf Chap hinab und wandte sich dann wieder an Magiere. »Ihn müssen wir nicht überreden«, meinte er scherzhaft.

Und dich ebenso wenig, dachte Magiere. Sie half ihm mit der Truhe und merkte dabei, dass Karlin am Kai entlangsah.

»Was ist?«, fragte sie.

»Oh, Pojesk steht in der Tür seines Lagerhauses und beobachtet uns«, erwiderte er.

Magiere folgte seinem Blick und sah den dürren Mann am Ufer.

»Er ist der Eigentümer jenes Lagerhauses«, stellte sie fest. »Vielleicht ist er aus geschäftlichen Gründen hier.«

»Vielleicht«, sagte Karlin langsam. »Aber er war dagegen, dass wir euch das Angebot aus Bela auch nur zeigten. Das Letzte, was er sich wünscht, ist Konkurrenz durch ein von der Stadt geführtes Lagerhaus.«

Die beiden Ruderer halfen den Passagieren, ihre Sachen an Bord zu bringen. Der Schoner mit Fracht für Bela hatte Miiska angelaufen, um eventuelle Reisende an Bord zu nehmen. Außer Magiere und Leesil warteten drei Männer mit ein wenig Gepäck. Aufgrund ihrer Kleidung hielt Magiere sie für arbeitslose Hafenarbeiter.

Sie bedauerte plötzlich, dass Karlin gekommen war, um sie zu verabschieden. Dadurch wurde alles noch schwerer.

»Nun …« Sie zögerte unsicher.

»Alles Gute, Karlin«, sagte Leesil. »Wir sehen uns bald wieder.«

»Ja.« Karlin lächelte. »Bald. Und jetzt los mit euch. Chap wartet.«

Die fröhlichen Worte machten es etwas leichter. Magiere nickte Loni zu und kletterte dann ins Boot. Leesil folgte ihr.

Die Ruderer lösten die Leinen und legten ab. Magiere kniete an der Seite des Boots und ließ die Finger durchs blaugraue Wasser streichen. Es war kalt, viel kälter als die frische Luft. Als sich das sanft schaukelnde Ruderboot dem Schoner näherte, schien sich der Hafen dem Meer weit zu öffnen. Der wolkenverhangene Himmel wirkte größer und weiter als von Land aus, und Magiere fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie in Gedanken so streng mit Leesil gewesen war. Plötzlich übte die Reise – einige Tage auf See – auch auf sie einen gewissen Reiz aus. Sie sah den neben ihr sitzenden Leesil an: Lächelnd blickte er übers Wasser, und der Wind zupfte an einigen weißblonden Strähnen, die unter dem Tuch hervorragten. Er schien in Gedanken versunken zu sein und beobachtete, wie der Kai immer weiter hinter ihnen zurückblieb. Weiter vorn ragten die beiden Masten des Schoners auf, mit zusammengerollten Segeln und knarrender Takelage.

»Was denkst du?«, fragte Magiere.

»Ich denke, wie sehr ich jenen Elf hasse«, antwortete Leesil. »Für wen hält er sich? Einfach so deine Hand zu nehmen …«

Magiere schüttelte den Kopf. »Vielleicht sehen wir ihn nie wieder. Möglicherweise kehren wir nie hierher zurück.«

»Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte er. »Natürlich kehren wir hierher zurück.«

»Du weißt, was uns erwartet.«

Leesil zögerte. »Wie viel Geld hat Karlin dir gegeben?«

»Ich habe es nicht gezählt. Warum?«

»Wenn wir in Bela sind, muss ich zu einem guten Schmied und mir einige neue Klingen anfertigen lassen.«

Magiere sah ihn groß an.

»Ja, ich habe zugehört, und ich weiß, was uns erwartet«, sagte er.

Eine Veränderung erfasste sein Gesicht, als er in Richtung der Anlegestelle sah. Sein Blick glitt in die Ferne, und er zog die Brauen zusammen – er schien über etwas nachzudenken. Nicht der Schatten eines Lächelns lag auf seinen Lippen. Die Kiefermuskeln mahlten kurz, und er wirkte sehr ernst, hatte seine Ironie völlig verloren.

»Ich habe einige Ideen … um zu gewährleisten, dass wir lebend zurückkehren«, sagte er.

Der Ausdruck in Leesils Gesicht besorgte Magiere, und seine Worte überraschten sie.

»Du willst also zurück?«, fragte sie.

Verwirrte Falten bildeten sich in seiner Stirn, und der Moment kühler Nachdenklichkeit verschwand aus seinem Gesicht. »Natürlich. Warum hältst du es für nötig, mich das zu fragen?«

Magiere schüttelte den Kopf und fühlte sich etwas besser, beschloss aber, wachsam zu bleiben. Sie hielt es für besser, wenn sie beide in ihrem gegenwärtigen Zustand blieben, was auch immer er oder sie selbst dachte. Es war besser, einen nahen Gefährten zu haben als … etwas Blutleeres und Lebloses in einem Grab.

Der lange Zweimaster schwankte neben ihnen auf den Wellen, und Matrosen ließen eine Strickleiter herab. Einer der beiden Ruderer griff danach und kletterte mühelos empor.

»Du solltest den Brief aus Bela besser für den Kapitän bereithalten«, sagte Leesil. »Er wird sich nicht sehr darüber freuen, dass er für fünf Passagiere angehalten hat und feststellen muss, dass zwei von ihnen und ihr Hund gratis reisen.«

Daran hatte Magiere nicht gedacht. »Kannst du mit Chap die Leiter hochklettern?«

Leesil grinste. »Du würdest staunen, was ich alles erklettern kann.«

»Nein, das würde ich nicht«, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. Sie sprachen nie über ihre Vergangenheit vor dem ersten Treffen, aber während des Kampfes gegen Rashed und die anderen Untoten hatte Magiere gemerkt, dass Leesil mehr war als nur ein vagabundierender Dieb. Wie viel mehr … das wusste sie noch immer nicht genau.

»Spring, Chap!«, sagte Leesil scharf und bückte sich, den Rücken dem Hund zugewandt.

Chap sprang und landete auf dem Rücken, mit den Vorderpfoten über den Schultern. Leesil kletterte rasch die Leiter hoch, hielt dabei den Hund mit einer Hand fest.

Oben angekommen blickte er über die Reling und fragte sehr ernst: »Bist du bereit?«

»Nein«, antwortete Magiere, ergriff aber die Strickleiter und folgte ihm.

Im Lauf der nächsten vier Nächte ließ Leesils kaum verhohlener Enthusiasmus schnell nach.

Zwar gefiel ihm die Vorstellung von frischer Seeluft und Wellen, die der Bug des Schoners teilte, aber das Reisen auf dem Meer war neu für ihn. Am zweiten Mittag wurde aus dem flauen Gefühl in seiner Magengrube richtige Übelkeit. Er übergab sich mehrmals, und Essen übte etwa den gleichen Reiz auf ihn aus wie der Schmutzwassereimer, den der Koch gerade über die Reling entleert hatte. Vielleicht gab es einen guten Grund dafür, warum das Volk seiner Mutter ungern reiste.

Er blieb so oft wie möglich an Deck, in der frischen Luft. Manchmal lebte der Wind auf, wodurch das Schiff noch stärker schaukelte, und dann wankte Leesil unter Deck zurück und rollte sich auf seiner Koje zusammen. Bei solchen Gelegenheiten konnte er zwischen den Übelkeitsanfällen nur noch den ganzen Tag Trübsal blasen. Seine Vorstellung von dieser Reise war weit, weit von der Realität entfernt.

Er hatte gehofft, dass sich unterwegs auf dem weiten Meer ihre Routine verändern würde und ihnen gestatten würde, einander näherzukommen. Er hatte geglaubt, dass sie, anstatt sich um alltägliche Dinge kümmern zu müssen, Pläne schmieden und Strategie und Taktik besprechen würden, wodurch sie sich schon einmal recht nahegekommen waren. Leesil hatte sich vorgestellt, mit Magiere allein zu sein, so wie in der guten alten Zeit.

Bisher war das nicht eingetreten.

Er fürchtete, den Mund zu öffnen, nicht nur wegen der Übelkeit, sondern auch, weil vielleicht Worte herausgekommen wären, die er später bedauert hätte. Hinzu kam: Ihre Kabine war kaum größer als ein Schrank, und neben den beiden schmalen Kojen blieb kaum genug Platz für Chap und die Truhe. Und doch: Vermutlich handelte es sich um den größten privaten Raum an Bord des kleinen, schnellen Frachtschiffs, das im Grunde gar nicht für die Beförderung von Passagieren vorgesehen war.

Leesil sah sich in der Kabine um, die nur von einer kleinen Laterne an einem Haken in der Ecke erhellt wurde. Sie schwang langsam hin und her und bewegte die Schatten auf eine Weise, die Leesils Magen nicht zur Ruhe kommen ließ.

Als sie die Kabine zum ersten Mal gesehen hatten, wäre Magiere beim Zurückweichen fast über ihn gestolpert. Jahrelang hatten sie im Freien geschlafen, nur mit einem Lagerfeuer zwischen ihnen. Einmal, nach einem Kampf gegen einen Untoten und dem ersten Erscheinen ihrer Dhampir-Natur, hatte Magiere die ganze Nacht auf Leesils Schoß geschlafen. Und jetzt widerstrebte es ihr, eine Kabine mit ihm zu teilen?

Zusammengerollt lag er auf der unteren Koje, hielt die Augen geschlossen und wünschte sich fast, Miiska nie verlassen zu haben. Er hörte ein Schnüffeln am Ohr, spürte dann, wie ihm etwas Warmes und Feuchtes über die Nase strich. Chap leckte erneut durch sein Gesicht und jaulte auf eine Weise, die fast mitleidig klang. Leesil klopfte dem Hund auf den Kopf, und dann drehte sich ihm erneut der Magen um, als er Chaps Atem roch.

»Bei den Abgründen der Hölle!«, stöhnte er. »Was hast du gefressen?«

Mit einem leisen Knarren öffnete sich langsam die Kabinentür, und Magiere spähte herein, um festzustellen, ob er schlief. Neidisch sah er, dass es ihr gut zu gehen schien. Ihre glatten, bleichen Wangen zeigten keine gelben oder grünen Töne, die auf Übelkeit hinwiesen.

»Geht’s etwas besser?«, fragte sie.

»Wie weit ist es noch bis nach Bela?«, brachte Leesil hervor.

»Der Kapitän meint, wir könnten den Hafen morgen erreichen, wenn der Wind hält. Wenn er nachlässt, brauchen wir länger. Der Kapitän meinte aber, dass auch das vermutlich nichts an deinem Zustand ändern würde.«

Oh, bei allen Heiligen, wie wundervoll, dachte Leesil.

Magiere zog die Brauen zusammen. »Ich schätze, manche Leute werden seekrank und andere nicht. Wenn es einen erwischt, dauert es offenbar eine Woche oder länger, bis man ›Meerbeine‹ bekommt, wie es der Kapitän nannte, und sich an die Bewegungen gewöhnt.« Sie zögerte in der Tür. »Willst du schlafen? Möchtest du allein sein?«

Allein sein? Wie meinte sie das?

Wenn er sich in der Kabine aufhielt, fand sie irgendeinen Grund, woanders zu sein. Und wohin sollte man an Bord des Schiffes schon gehen? So groß war der Schoner nicht. Plötzlich fiel ihm ein, dass Magiere die Kabine vielleicht für sich wollte, und das weckte so viel Ärger in ihm, dass er die Übelkeit vergaß. Hier lag er, so elend, dass ihm allein beim Gedanken an Essen schlecht wurde, und sie dachte nur an ihre Privatsphäre.

Leesil rollte sich von der Koje, bevor sein Magen dagegen protestieren konnte.

»Wo ist der Geldbeutel, den Karlin dir gegeben hat?«, fragte er.

»Der Geldbeutel?«

»Ja. Ich möchte Wein trinken, um den Magen zu beruhigen – oben auf dem Deck«, sagte Leesil und fügte bitter hinzu: »Dann hast du die Kabine für dich.«

Magiere runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders, ging zur Truhe und holte den Geldbeutel.

»Wie viel brauchst du?«

Aus Ärger wurde Zorn, was dazu führte, dass sich Leesil noch elender fühlte. Sie zögerte sogar, ihm ein paar Münzen anzuvertrauen?

»Keine Ahnung!«, sagte er scharf. »Wie viel verlangen Matrosen für ihren gebunkerten Wein?«

Seine heftige Reaktion überraschte Magiere ganz offensichtlich, aber wenn sie auch nur einen Hauch von Feingefühl gehabt hätte, wäre ihr der Grund klar gewesen. Leesil konnte kaum glauben, dass sie so stur war. Er riss ihr den Beutel aus der Hand, ließ mehrere Münzen herausfallen und gab ihn zurück.

»Zur sicheren Aufbewahrung«, sagte er. »Damit ich nicht alles verspiele … oder, schlimmer noch, über die Reling fallen lasse, während ich die Mahlzeit herauswürge, die ich noch gar nicht gegessen habe.«

»Leesil …« In Magieres Gesicht zeigte sich erster Ärger. »Es geht dir nicht gut, und Wein dürfte dir kaum helfen. Leg dich einfach hin und ruh aus.«

»Oh, ich glaube, Wein ist eine ausgezeichnete Idee.« Die Bewegung bescherte ihm neue Übelkeit, aber er schwang übertrieben den Arm und verbeugte sich. »Ich lasse dich in Frieden.«

Er wankte durch die schmale Tür und den Gang, stieg die Treppe zum Deck hoch. Magiere folgte ihm nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet.

Oben lehnte sich Leesil an die Reling, eine Hand fest um das Seil geschlossen, das zur Takelage emporführte. Der Abend brachte manchmal eine ruhigere See, und dann ließ das Schlingern des Schiffes nach. Er atmete die frische Luft tief ein und spürte, wie sich die Unruhe in seiner Magengrube legte.

Verlegenheit erfasste ihn, als er einen klareren Kopf bekam. Wenn er sich wie ein launisches Kind verhielt, weckte er damit in Magiere nicht den Wunsch, mehr Zeit mit ihm zu verbringen.

Er hörte Stimmen und drehte sich zum rückwärtigen Teil des Schiffes um.

Dicht unter dem hohen Heck des Schoners saßen vier Matrosen und spielten Karten im Schein einer Laterne. Dann und wann tranken sie aus einer Kalebasse, deren Hals dunkel war von den Händen, die sie über Jahre hinweg gehalten hatten. Leesil vergaß sein Elend, als andere Dinge in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückten.

Die Besatzung des Schoners bestand aus dem hageren, wettergegerbten Kapitän, einem Ersten Offizier, elf Matrosen und einem Schiffsjungen. Diese vier Männer hatten ganz offensichtlich frei, und ein bisschen Kartenspielen lenkte vielleicht ab. Leesil näherte sich, nahm aber nicht unaufgefordert Platz.

»Die Kalebasse enthält nicht zufällig D’areeling-Wein?«, fragte er mit einem zu unschuldigen Lächeln.

Ein Matrose mit einem fehlenden Ohr und nur drei Fingern an der rechten Hand sah auf.

»Natürlich, und wenn du möchtest, servieren wir dir gleich einen gebratenen Fasan mit Mandelsoße.«

Die anderen lachten, und niemand forderte ihn auf, sich ihrer Runde hinzuzugesellen. Sie saßen auf kleinen Tonnen oder Haufen aus Segeltuch und Seilen, und eine alte Kiste diente ihnen als Spieltisch. Über ihnen spannte sich ein großes weißes Segel in der Brise.

Dies war ein hartes Leben, und Leesil hatte bereits festgestellt, dass die meisten Matrosen in Passagieren nicht mehr sahen als ein notwendiges Übel, wenn nicht gar eine Unannehmlichkeit und Belästigung. Andererseits: Leesil wusste, wie man einen Platz an einem Spieltisch bekam – er ließ die Münzen in seiner Hand klimpern.

»Nun, Wein oder nicht …«, sagte er. »Diese verdammte Seekrankheit lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Habt ihr was dagegen, wenn euch ein ehrlicher und schlafloser Reisender für eine Weile Gesellschaft leistet?«

Die Matrosen wechselten einen Blick und hielten ihn vermutlich für einen dummen Taugenichts, der irgendwie zu Geld gekommen war. Der ohrlose Mann reichte ihm die Kalebasse.

»Frag nicht, was drin ist. Wir machen das Zeug aus dem, was zur Verfügung steht.«

Leesil grinste breit, spielte den Narren und nahm einen großen Schluck aus der Kürbisflasche. Was er sofort bereute.

Die Flüssigkeit brannte sich ihm durch die Kehle und schmeckte nach faulen Kartoffeln. Sein leerer Magen geriet in Bewegung und schien das loswerden zu wollen, was er gerade bekommen hatte. Die Matrosen lachten erneut. Der jüngste von ihnen, ein Bursche mit salzverkrustetem, blondem Haar, zog eine leere Kiste für Leesil heran.

»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte er gutmütig und mischte die Karten. »Kennst du dich mit Kartenspielen aus?«

»Mit einigen«, erwiderte Leesil, der schon als Kind besser Karten gespielt hatte als viele Erwachsene. »Erklärt mir einfach, wie gespielt wird.«

Leesil trank einen weiteren Schluck, während ihm die Matrosen die Regeln erklärten.

Das erste Spiel mit geringem Einsatz verlor er absichtlich, und nach dem dritten Schluck aus der großen Flasche fühlte er sich besser. Die Flüssigkeit brannte nicht mehr so stark, und der Würgreiz ließ nach. Kummer und Ärger wichen von ihm, und plötzlich war es ihm gleich, dass Magiere ihn nicht in der Kabine haben wollte. Warum sollte er sich darum scheren?

Und er trank erneut.

Er gewann die zweite Runde und ließ es wie reines Glück aussehen. Niemand schien Verdacht zu schöpfen, und der einohrige Matrose reichte ihm erneut die Kalebasse. Normalerweise trank Leesil beim Spiel nicht, aber was auch immer die Flasche enthielt, es wirkte gegen die Übelkeit. Man hatte ihn aus seiner Kabine geworfen, und warum sollte er sich nicht etwas gönnen?

Ihm wurde schwindelig, und bei der fünften Runde bekam er keine guten Karten.

Leesil beschloss zu bluffen und setzte einige weitere Münzen, um die Matrosen abzuschrecken. Der jüngste von ihnen ging mit und strich die Hälfte des Geldes ein, das Magiere ihm gegeben hatte.

Und wenn schon. Er würde es zurückgewinnen.

Leesil setzte die Kürbisflasche ein weiteres Mal an die Lippen.

Magiere lag allein in der Kabine auf der unteren Koje, und Chap döste auf dem Boden. Sie dachte über Leesils seltsamen Zorn nach. Er mochte seekrank sein, aber normalerweise neigte er gewiss nicht zu kindischer Launenhaftigkeit. Er hatte sie übel angefahren und war dann hinausmarschiert, und so etwas sah ihm gar nicht ähnlich.

Er war eher der Typ, der endlos debattierte, bis sie ihm den Hals umdrehen oder einen Knebel in den Mund stecken wollte, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Magiere hatte kurz daran gedacht, ihm zu folgen, sich dann aber dagegen entschieden. War er voller Sorge in Hinsicht auf die kommenden Tage und zu stolz, um es zu zeigen? Nein, das hielt sie für absurd. Leesil fürchtete nichts, gegen das er kämpfen konnte.

Magiere schnallte das Falchion vom Gürtel und legte es neben Chap auf den Boden, der sie wie leidend mit seinen hellen Augen beobachtete.

»Ach, sei nicht so dramatisch«, sagte sie. »Er ist nur seekrank. Bestimmt erholt er sich schnell, wenn wir Bela erreichen.«

Magiere rollte sich auf die Seite und versuchte, der leisen Stimme in ihr keine Beachtung zu schenken.

Leesil weiß, dass du ihn meidest … Er fühlt sich von dir abgewiesen.

Nein. Er mochte es nicht, wenn man um ihn viel Aufhebens machte. Ihr Glucken-Gehabe während seiner Genesung im vergangenen Monat hatte ihn geärgert – aus welchem anderen Grund war er jeden Morgen verschwunden? Vielleicht brauchte er etwas Zeit für sich.

Die Kabine war so klein, dass sie im Licht der Laterne nur ausgebleichtes Holz sah. Magiere hatte das Licht löschen wollen, es sich dann aber anders überlegt, für den Fall, dass Leesil zurückkehrte. Sie rutschte auf der schmalen Koje hin und her, suchte nach einer einigermaßen bequemen Position und schloss halb die Augen.

Warum wollte er Wein? Während er wieder zu Kräften gekommen war, hatte er nicht einen Tropfen angerührt, nicht einmal am Abend der Wiedereröffnung.

Magiere schloss die Augen ganz und versuchte, nicht mehr an ihren Partner zu denken. Der Schlaf würde alles von ihr nehmen, und am Morgen sahen die Dinge immer besser aus. Das hatte ihre Tante Bieja immer gesagt, und ab und zu hatte sie damit recht behalten. Die Koje war hart, und Magiere rollte sich auf die andere Seite und wollte endlich einschlafen.

Chap knurrte leise auf dem Boden.

»Sei still«, murmelte sie. »Das Einschlafen ist auch ohne dein Knurren schwer genug.«

Magiere dachte daran, aufzustehen und nach oben zu gehen, und dann hörte sie ein leises Knarren von der Tür. Leesil war zurück, und unerwartete Erleichterung erfüllte sie. Rasch setzte sie sich auf, um Leesil vorzuschlagen, sich auf die obere Koje zu legen und zu schlafen.

Plötzlich erstarrte sie.

Einer der tätowierten Hafenarbeiter, die in Miiska mit ihnen an Bord des Schoners gegangen waren, starrte sie überrascht an. Er hielt ein Messer in der Hand.

Vermutlich hatte er damit gerechnet, sie schlafend vorzufinden, oder gar nicht, was ihm die Möglichkeit gegeben hätte, sich die Truhe vorzunehmen und Dinge zu stehlen. Seit Rasheds Lagerhaus niedergebrannt war, ging es vielen Leuten in der Stadt sehr schlecht.

Aber der Mann gab durch nichts zu erkennen, an der Truhe interessiert zu sein. Sein Blick galt allein Magiere.

Chap knurrte erneut, stand bereits und fletschte die Zähne. Magiere griff nach ihrem Falchion.

Jeder Dieb mit einem Funken Verstand hätte sich beim Anblick einer Bewaffneten und eines großen, zornigen Hunds umgedreht und aus dem Staub gemacht. Selbst Verzweifelte riskierten keine schweren Verletzungen, wenn der Lohn unsicher war. Doch dieser griff an.

Es blieb Magiere nicht Zeit genug, ihre Waffe aus der Scheide zu ziehen. Die anderen beiden Hafenarbeiter aus Miiska kamen direkt hinter dem ersten und drängten durch die schmale Tür. Magiere riss die Augen auf, als der erste Mann seinen Dolch hob und ihre Waffe beiseitetrat.

Sie zog das Falchion zurück. Dies mochten stümperhafte Arbeiter sein, aber es ging ihnen nicht darum, etwas zu stehlen. Mit beiden Händen hob sie die in der Scheide steckende Klinge, um den Stoß mit dem Messer abzublocken, und gleichzeitig rammte sie ihrem Gegner den Fuß in die Magengrube.

Der Hafenarbeiter fiel gegen die beiden hinter ihm. Es kam zu einem Durcheinander, als die beiden anderen Männer versuchten, ihn beiseitezuschieben, und er stolperte über die Truhe und stürzte schwer in die Ecke des kleinen Raums.

Chap sprang zu den beiden Männern an der Tür und prallte gegen den ersten, der recht korpulent war. Die Vorderpfoten trafen den Mann an der Brust, und er taumelte gegen den dritten Burschen, der seinerseits in den Gang zurückwankte. Mann und Hund gingen zu Boden und bildeten einen wirren Haufen neben den Kojen.

Chap bellte laut. Es war nicht das gespenstische Heulen der Jagd oder das drohende Knurren, mit dem er jemanden davor warnte, sich zu bewegen. Dies waren Geräusche, wie man sie von einem wilden Wolf erwartete, der das Rudel rief.

Magiere musterte den ersten Mann, der in die Ecke gefallen war. Mittelgroß, durchschnittlich gebaut, braunes Haar und braune Augen, die Kleidung ausgebleicht und abgetragen. Es gab nichts Besonderes an ihm – einen solchen Mann vergaß man sofort wieder. Aus irgendeinem Grund beunruhigte er sie.

Es war eine Weile her, seit sie zum letzten Mal gegen einen lebenden Widersacher gekämpft hatte. Wenn Magiere gegen Untote antrat, erfüllte sie ein Zorn, der ihr Kraft und Schnelligkeit gab. Das war ihr Vorteil, auch wenn es ihre Vernunft beeinträchtigte. Ohne das Aufsteigen des Dhampirs in ihr wusste sie nicht recht, wie sie vorgehen sollte, und die Ungewissheit ließ sie zu lange zögern.

Der erste Mann kam wieder auf die Beine, kniff die Augen zusammen und griff erneut an. Wieder hob Magiere die Scheide mit dem Falchion, und er drehte sich halb, trat ihr die Klinge aus der Hand.

Er sprang vor, und Magiere rollte von der Koje, in der Hoffnung, dass er dort landete und sie ihn von hinten außer Gefecht setzen konnte. Er landete tatsächlich auf der Koje, aber sie prallte hart auf den Boden, und bevor sie aufspringen konnte, rollte er sich auf sie.

Chaps Knurren kam von der Tür, gefolgt vom angstvollen Aufschrei des Mannes, den er festgenagelt hatte.

Magieres Angreifer stieß das Messer nach unten. Sie packte das Handgelenk und zog es zur Seite, fügte dem nach unten gerichteten Stoß ihr eigenes Bewegungsmoment hinzu. Der Mann wirkte verblüfft, als sich die Klinge neben ihrer linken Schulter in den Boden bohrte. Dann hob Magiere ruckartig den Kopf und rammte dem Burschen die Stirn ins Gesicht.

Blut spritzte aus der Nase auf Magieres Brust, und sie schlug mit der rechten Faust zu, traf damit den Mund. Der Mann kippte nach hinten und stieß mit den Schultern an die Kante der unteren Koje.

Magiere wandte sich nach links und riss das Messer aus dem Boden. Als der Mann wieder nach vorn kam, hielt sie die Klinge in der Hand, schwang sie herum und stieß sie ihrem Gegner in die Kehle.

Instinktiv hob er die Hand zum Hals. Das Blut aus der Nase vermischte sich mit dem, das unter dem Kinn hervorquoll – dunkelrote Flüssigkeit rann zwischen den Fingern des Mannes hervor, kam dann auch aus dem Mund.

Magiere stieß ihn beiseite, stand auf und hielt das Messer bereit. Der Hafenarbeiter sank mit gurgelnden Geräuschen zu Boden, und sie drehte sich schnell zur Tür um.

Chap hatte den Oberarm des Korpulenten im Maul und die Krallen der Vorderpfoten kratzten über seinen Oberkörper. Der Mann schrie hysterisch, doch niemand kam ihm zu Hilfe. Sein Hemd war bereits zerfetzt und fleckig vom eigenen Blut. Magiere trat ihm an den Kopf, woraufhin er schwieg und erschlaffte. Chap sprang sofort auf ihn, knurrte und beobachtete den Mann wachsam.

Magiere atmete schwer und sah sich um. Wo steckte der dritte Angreifer?

War er in Panik geraten und weggelaufen, als er gesehen hatte, wie seine beiden Kumpane zu Boden gingen? Magiere ging um Chap und seinen Gefangenen herum, trat durch die Tür zur steilen Treppe weiter rechts. Mattes gelbes Licht fiel durch die aufs Deck führende Luke.

Links bewegte sich etwas, ein huschender Schemen …

Etwas Schweres und Hartes traf Magieres Hinterkopf. Vor ihren Augen wurde erst alles weiß und dann dunkel, als wäre die Laterne plötzlich in Flammen aufgegangen und dann erloschen. Die Beine gaben unter ihr nach, und sie prallte gegen die Wand des Ganges. Magiere begriff erst, dass sie auf dem Boden lag, als die Bewegungen aufhörten.

Sie gab sich alle Mühe, den Kopf zu heben, doch es gelang ihr nur, sich auf den Rücken zu rollen. Ihre rechte Hand war leer – sie hatte das Messer verloren. Über ihr kam ein undeutliches Oval aus dem Schatten, gewann allmählich Konturen und erwies sich als Gesicht.

Ein junger, eher schmächtiger Mann mit aschblondem Haar und zornigen, entschlossen blickenden Augen stand über Magiere gebeugt, eine Eisenstange in beiden Händen. Er hatte seinen Komplizen Chap überlassen und im Gang darauf gewartet, dass Magiere zum Vorschein kam.

Sie versuchte, Kraft zu sammeln, einen klaren Gedanken zu fassen und zu handeln, als er die Stange zu einem neuen Schlag hob. Doch Magiere brachte es nur fertig, den linken Arm hochzunehmen.

Ein Schatten strich über das Gesicht des jungen Mannes. Etwas war in der Luke erschienen, wodurch weniger Licht nach unten fiel. Der junge Bursche zögerte kurz und sah auf.

Schlanke Beine in einer verblichenen Hose schwangen über Magiere durch die Luft, und die in Lederstiefeln steckenden Füße knallten dem Angreifer mitten ins Gesicht. Die Stange glitt ihm aus der Hand, als er nach hinten fiel und aus Magieres Blickfeld verschwand.

Die Lederstiefel kehrten nach oben zurück, gefolgt von den Beinen, und Magiere sah einen Oberkörper, der in einem weiten, abgetragenen Hemd steckte, das für seinen Träger zu groß war.

Leesil ließ den Rand der Luke los und drehte sich mitten in der Luft über Magiere. Ganz kurz sah sie sein Gesicht, von weißblondem Haar umwogt, das nicht mehr unter dem grünen Tuch steckte. Er sauste vorbei, und beim Aufprall zitterte der Boden unter ihr.

Magiere trachtete danach, sich an der Wand hochzuziehen und wenigstens auf einen Ellenbogen zu kommen. Ihr Kopf schien für den Hals viel zu groß und zu schwer zu sein.

Leesil war halb in die Hocke gegangen, kehrte ihr den Rücken zu und hielt ein Stilett in jeder Hand. Hinter der geschlossenen Kabinentür knurrte und bellte Chap – offenbar hatte der junge Mann die Tür zugezogen, um beim Angriff auf Magiere nicht von dem Hund gestört zu werden.

Vor Leesil versuchte der junge Hafenarbeiter, wieder auf die Beine zu kommen. Er tastete nach seinem Nacken, und als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie etwas Langes und Dunkles, und damit griff er an. Leesil drehte sich im schmalen Gang auf dem rechten Fuß.

Das linke Bein war zunächst angezogen, und im richtigen Moment streckte Leesil es – der Fuß traf das Kinn des Mannes. Der Kopf ruckte nach hinten, und Leesil schlug mit dem Knauf des Stiletts zu, traf genau die gleiche Stelle. Der Mann drehte sich und wankte durch den Gang. Leesil torkelte nach vorn.

Er torkelte? Magiere stemmte sich hoch und fürchtete eine Verletzung ihres Partners.

»Sei vorsichtig!«, rief sie ihm zu. »Es sind keine einfachen Diebe!«

Leesil richtete sich auf, als der Hafenarbeiter das warf, was er in der Hand hielt – das Objekt klapperte über den Boden. Der Mann wirbelte herum und floh in die Dunkelheit. Leesil folgte ihm, kam aber nicht weit. Magiere schnappte überrascht nach Luft, als sie sah, was geschah.

Leesil stieß mit dem Fuß gegen das Objekt auf dem Boden, stolperte und prallte an die Wand.

»Leesil!«, brachte Magiere hervor.

Von oben kam das Geräusch laufender Füße, Geschrei und dann ein Platschen.

Sie stützte sich an der Wand ab und stand mühsam auf. Der Hinterkopf schmerzte, und es rauschte in den Ohren, aber ihre Sorge galt vor allem Leesil. Sie machte zwei unsichere Schritte in seine Richtung, doch er kam schon auf sie zu. Die beiden Stilette hatte er bereits wieder verstaut, und in der einen Hand hielt er das Objekt, dem er die Kollision mit der Wand verdankte: eine weitere Eisenstange. Er ließ sie fallen, hielt sich an der nach oben führenden Treppe fest und schwankte erneut.

Magiere erreichte ihn und lehnte sich gegen die Treppenstufen. Ihre Hände strichen Leesil über Arme, Schultern und Brust, suchten unter dem Hemd nach gebrochenen Rippen und Blut.

»Was ist mit dir?«, fragte sie. »Hat er dich verletzt?«

Leesil hob das schmale, sonnengebräunte Gesicht und sah sie verwirrt an.

»Ich … es ist alles in Ordnung der dürre Mistkerl wird nicht noch mal in deine Nähe kommen … das verspreche ich.« Er legte die Hand auf ihre Wange, etwas zu grob – dadurch drehte sich alles vor ihren Augen –, beugte sich dann zu ihr vor. »Es ist alles in Ordnung … Jetzt hast du nichts mehr zu befürchten.«

Magiere neigte den Kopf zurück, wodurch sich die ganze Welt um sie drehte. Leesils Atem stank nach Alkohol.

Im matten Licht starrte sie ihn groß an.

Seine Augen waren blutunterlaufen.

Drei Männer hatten Magiere angegriffen, mit der Absicht, sie umzubringen, und Leesil war betrunken.