4

Zwei Nächte nachdem Chane Saphir durch die Stadt begleitet hatte, damit sie sich in ihrem neuen Kleid zeigen konnte, schritt er allein durch die Straßen von Belas mittlerem Kreis. Er war zufrieden, was selten genug geschah. Einmal in der Woche gab ihm Toret frei, und dann konnte er tun und lassen, was er wollte. Er wählte immer das gleiche Ziel für seine Auszüge: die belaskische Zweigstelle der Gilde der Weisheit. In solchen Nächten trug er ein schlichtes weißes Hemd, eine braune Hose und einen einfachen braunen Wollmantel – das Schwert blieb zu Hause. Es war seine übliche Kleidung für jene Besuche, denn er wollte, dass man ihn für einen eifrigen Gelehrten niedriger adliger Abstammung hielt. Er nahm nur die kleine Messingphiole mit, die an seiner Halskette hing und unter dem Hemd verborgen blieb.

Die Schritte führten ihn übers Kopfsteinpflaster zur südlichen Seite der Stadt. Mit einer Kutsche hätte er sein Ziel schneller erreicht, doch er ging lieber zu Fuß. Sein Körper ermüdete nicht, und er mochte die älteren Viertel mit ihrer bunt zusammengewürfelten Architektur, die einen Hinweis auf Geschichte und Wachstum der Stadt bot. Sie verfügte über einen in die Jahre gekommenen Reiz, der noch kein Opfer des Verfalls geworden war.

Der Stadtrat hatte fünf Jahre lang verhandelt, bis die fremden Gelehrten, die Weisen, bereit gewesen waren, aus der Ferne nach Bela zu kommen. Gerüchten zufolge freuten sich die Stadträte darüber, denn es bedeutete, dass in der Stadt eine kleine Bibliothek mit alten Schriftrollen und Dokumenten entstehen würde, gehütet von sehr klugen Männern und Frauen, die sich versammelten und solche Archive pflegten. Im Lauf der Zeit, so hofften sie, würde aus der kleinen Bibliothek eine große werden. Dies war die erste derartige Niederlassung der Weisen auf dem ganzen Kontinent. Chane besuchte sie regelmäßig und hatte dabei viel über ihre Herkunft erfahren.

Die erste Gruppe hatte sich vor fast zweihundert Jahren in einem Land namens Malourné gebildet, im Westen auf der anderen Seite des Ozeans, an der fernen Küste des dortigen Kontinents. Der Gilde standen die alte Festung und das Schloss jenes Königreichs zur Verfügung – sie hatte beides bekommen, als ein neuer Regierungssitz für die Monarchen errichtet worden war. Malourné war das älteste Königreich im sogenannten numanischen Land.

Es gab auch eine Zweigstelle der Gilde in der südlichen Hälfte des Kontinents, in der kaiserlichen Stadt Samau’a Gaulb, »Herz des Himmels«, der Hauptstadt sowohl des Landes Il’Dha’ab Najuum als auch des ganzen Sumanischen Reiches. Eine dritte Niederlassung sollte es im Elfenland irgendwo in der Mitte des Kontinents geben.

Nach dem Großen Krieg, von dem es hieß, dass er vor etwa fünfhundert Jahren stattgefunden hatte, lag die Zivilisation auf jenem Kontinent in Schutt und Asche. Es war so viel zerstört und verloren gegangen, dass die Gilde der Weisheit zur Zeit der Monarchen von Malourné als Absicherung für den Fall einer weiteren Katastrophe dieser Art gegründet wurde.

Chane hatte die wenigen Berichte gelesen, die in die Zeit vor der Gründung der Königreiche von Belaski, Strawinien und Dröwinka zurückreichten. Es war sehr wahrscheinlich, dass sich der von den Weisen erwähnte Krieg auch auf diesem Kontinent ausgewirkt hatte, obwohl ihm die Vorstellung von einem so gewaltigen Konflikt manchmal übertrieben erschien. Es waren Geschichten von Monstern und abscheulichen Horden, von Jahren des Kampfes gegen Angreifer von jenseits des Ozeans. Es hieß sogar, dass auch die ersten Bewohner dieses Kontinents ums Leben gekommen waren; später eingewanderte Stämme und Clans hätten ihren Platz eingenommen.

Und jetzt hatten sich die Weisen der Gilde in Chanes Heimat niedergelassen.

Die fernen Bibliotheken und Archive in der Größe von Schlössern überforderten seine Vorstellungskraft. Eines Tages wollte er sie mit eigenen Augen sehen, die Pergamente mit seinen Fingern berühren und fremde Sprachen lesen, die von vergangenen Zeiten und verlorenen Mysterien berichteten. Er wollte eintauchen in ein Wissen, das Gelehrte über Jahrhunderte hinweg gesammelt hatten. Wie viele neue Erkenntnisse für seine speziellen Künste konnte er an solchen Orten finden? Und was konnte er über die Edlen Toten in Erfahrung bringen? Vielleicht gab es Hinweise, die ihm dabei helfen würden, sich von Toret zu befreien. Jetzt war die Gilde hier, und möglicherweise fand er mit ihrer Hilfe den Schlüssel zur Freiheit.

Chane war noch immer in Gedanken versunken, als er geistesabwesend um eine Straßenecke bog. Ein Stück vor ihm öffnete sich ein Tor in der mittleren Mauer der Stadt. Zwei in Kettenhemden gekleidete Sträzhy-shlyahketné – die offiziellen Wächter der Stadt – standen entspannt, aber aufmerksam neben dem großen, granitenen Portal. Sie schenkten ihm nicht mehr als beiläufige Beachtung.

Chanes Ziel befand sich direkt an der Mauer. Als er es erreichte, blieb er stehen und nahm den Anblick im gelben Schein der Straßenlaternen in sich auf. Seine Visionen von großartigen Enklaven der Bildung lösten sich auf wie Rauch im Wind.

Platz war in dieser Stadt Mangelware, und man munkelte, dass der Rat es für besser gehalten hatte, die ausländischen Gesandten nicht zu nahe beim königlichen Palastgelände unterzubringen. Die neue Niederlassung des belaskischen Zweigs der Gilde der Weisheit war in einer alten, außer Dienst gestellten Kaserne untergebracht. Im Lauf der Zeit war die Wache von Bela immer mehr gewachsen und hatte daher zwei neu errichtete Kasernen bezogen: die eine unweit der Außenmauer, die andere beim innersten Wehrwall. Dieses Gebäude hatte ein Jahr leer gestanden, bis die Weisen gekommen waren. Es bestand aus altem, verwittertem Holz, war aber in einem guten Zustand und ragte zwei Stockwerke weit an der Mauer empor. Als Kaserne mochte es seinen Zweck erfüllt haben, doch die Weisen hatten sich etwas anderes erhofft. Es bot einfach nicht genug Platz für ihre gesamte Ausrüstung, geschweige denn für eine Bibliothek.

Chane öffnete die Tür und trat ein. Er kannte den Weg, wandte sich nach links durch den Mittelgang und ging dorthin, wo sich einst das Quartier des Sträzhy-Feldwebels befunden hatte. Lehrlinge und Schreiber eilten die Treppen hinauf und hinunter, in den Armen Schriftrollen, Bündel, Tafeln, Bücher und andere Dinge, die er nicht sofort identifizieren konnte. Einige von ihnen nickten ihm einen Gruß zu, als er vorbeikam.

Das alte Büro des Feldwebels – einst war es als improvisierter Gerichtssaal für Bagatelldelikte und Rechtsstreitigkeiten benutzt worden – diente jetzt als Arbeitszimmer mit Schreibtischen, Stühlen und Regalen. Hier und dort standen einige seltsame Glaslampen, darin ein Glühen, das nie flackerte.

Zwei Weise in sauberen grauen Umhängen – der Mann mittelgroß, die Frau klein und dünn – saßen hinten an einem Tisch und blickten in einen mit Leder bezogenen Kasten. Sie warteten auf Chane, und beide sahen auf, als er hereinkam. Der größere von ihnen war der alte Tilswith, Domin beziehungsweise Großmeister der Weisen.

»Ja … richtige Zeit«, sagte er, der Sprache nicht ganz mächtig. Er fügte seinen Worten ein freundliches Lächeln hinzu.

Tilswith war gut sechzig, aber seine grünen Augen sahen noch immer sehr gut, obwohl er manchmal eine Lupe verwendete, um klein geschriebenen Text lesen zu können. Hier und dort verriet sein graues Haar, dass es einst dunkel gewesen war, und er trug es kurz, passend zum ebenfalls kurzen Bart. Falten durchzogen das schmale Gesicht und die langen Hände.

»Komm … setz dich«, sagte Tilswith und winkte einladend. »Wir vielleicht haben … neuen Hinweis …«

Der Domin suchte nach Worten und wandte sich hilflos an seine Kollegin, die ihm rasch etwas ins Ohr flüsterte. So klug und gelehrt er auch sein mochte: Ihm fehlten die Sprachkenntnisse, die jemand wie er eigentlich haben sollte. Tilswith klopfte sich mit den Fingern an die Stirn und brummte verärgert, als ob er damit sagen wollte, dass er das gesuchte Wort eigentlich hätte kennen müssen.

»Ja, ja … Großer Krieg … das Vergessene.« Er seufzte tief. »Entschuldige … manchmal ich glaube, dass ich nie lerne deine Sprache.«

Tilswiths Begleiterin stand auf und bot ihren Stuhl an. Sie war zart gebaut und reichte dem Domin gerade bis zur Schulter: Wynn Hygeorht, höchstens zwanzig Jahre alt, aber bereits Tilswiths Hauptlehrling. Hellbraunes Haar fiel in einem sorgfältig geknüpften Zopf über ihren Rücken. Das olivfarbene, fein geschnittene Gesicht war rund und nicht geschminkt. Große, braune Augen glänzten darin. Als Tilswiths Assistentin und Angehörige des Ordens der Katalogisierer war Wynn auf das Wissen um das Wissen selbst spezialisiert: die Erhaltung, Organisation und Koordination von großen und kleinen Bibliotheken. Sie musste auch über den letzten vergessenen Notizzettel Bescheid wissen, für den Fall, dass ihn einmal in zehn Jahren jemand suchte. Sie konnte lesen und schreiben und sprach ein halbes Dutzend Sprachen, darunter auch Belaskisch. Zwar ergriff sie nur selten das Wort, aber Gespräche mit ihr waren immer sehr interessant. Nach langen Nächten, angefüllt mit Saphirs hirnlosem Geschnatter, waren einige wenige Worte von Wynn ein Ohrenschmaus für Chane.

Wahre Zufriedenheit fand er nur in drei Momenten seiner Existenz: bei der Jagd, bei der Erforschung von Geheimnissen des Arkanen und bei Tilswith und Wynn. Alles andere war eine Fortsetzung der Knechtschaft.

Er sah auf den Tisch hinab und betrachtete das neue Objekt.

»Möchtest du Tee?«, fragte Wynn mit ihrer sanften, weichen Stimme.

»Nein, danke. Wie alt ist das Pergament?«

An diesem Abend war er besonders versessen darauf, die übrige Welt zu vergessen. Er nahm auf dem Stuhl Platz – Wynn blieb hinter ihm – und beobachtete, wie Tilswith den in Leder gehüllten länglichen Kasten öffnete.

Der Weise entnahm ihm eine Schriftrolle. Die Umhüllung und das gelbe Holz der Spindeln wirkten neu, und Tilswiths Aufregung wies darauf hin, dass dies nicht zu den Dingen gehörte, die er nach Bela mitgebracht hatte.

Der Domin streifte die Umhüllung ab, entrollte das Schriftstück auf dem Tisch, beugte sich vor und betrachtete es.

»Ist Kopie … Original gefunden nach unserer Reise, aufbewahrt bei Heimatgilde, in Calm Seatt. Kein Datum auf Original. Nach Kopieren eine Kopie zu uns geschickt, damit ich urteile über über …«

»Authentizität«, sagte Wynn.

»Authentizität?« Tilswith war nicht sicher, ob er das Wort richtig aussprach, und er warf einen fragenden Blick über die Schulter. Wynn nickte. »Großer Krieg mein Gebiet. Glaube dies hier …« Er deutete auf den derzeit sichtbaren Teil der Schriftrolle. »… ist geschrieben von Soldaten, bevor sie zogen in Schlacht.«

Chane blinzelte. »Das ist höchst unwahrscheinlich. Auch das beste Pergament könnte ein halbes Jahrtausend kaum überstehen, und ich bezweifle, dass Soldaten auf dem Schlachtfeld gutes Pergament zur Verfügung stand. Falls das Original von dort stammen soll.«

Tilswith hörte aufmerksam zu. Er brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was Chane gesagt hatte, und dann nickte er.

»Anmerkungen und Kennzeichnungen hier …« Er zeigte auf eine Reihe aus Punkten zwischen den fremden Zeichen. »Original nicht vollständig, aber besser … besser als alte Texte. Sieh.«

Tilswith entrollte das Schriftstück weiter und deutete auf weitere Stellen im Text.

»Punkte, wo Gelehrter keinen Text gefunden hat, den er kann lesen. Kopie gleiche Stelle, Größe und mehr von Original. Mancher Text verloren, aber viel hat überstanden … mehr als zu hoffen bei so altem Pergament. Rätsel wie möglich.«

»Kannst du diese Sprache lesen?«, fragte Wynn hinter Chane.

»Nein«, sagte er. Die Zeichen schienen keine Buchstaben zu sein, sondern kleine Bilder, aber wie eine Schrift angeordnet. Im Verlauf seiner Studien hatte sich Chane mit einigen piktographischen Texten befasst, und sie alle ließen sich auf eine Quelle zurückführen. »Sieht nach einer Form des Altsumanischen aus, nicht wahr?«

»Gut!« Tilswith nickte und deutete auf zwei Zeichen in einer Reihe. »Dies Name von Frau. Rest vielleicht Leben in Soldatenlager … und was sie hatten zu essen.« Sein Finger strich über den ersten Absatz, von rechts nach links. »Interessant … Schreiber gewöhnlicher Soldat, schreibt Brief nach Hause.«

»Aber warum sollte er auf eine Schriftrolle schreiben und nicht auf ein einzelnes Blatt?«, fragte Wynn. »Ein Blatt erreicht das Ziel leichter.« Sie beugte sich vor, und ihr Zopf fiel nach vorn, über Chanes Schulter. Die junge Frau schien es nicht zu bemerken.

Die gleiche Frage ging Chane durch den Kopf, und ihm fiel keine Antwort ein. Der Enthusiasmus der beiden Weisen wirkte ansteckend. Chane überlegte, ob Toret oder Saphir auch nur vage an einem fünfhundert Jahre alten Bericht interessiert gewesen wären, den ein namenloser Soldat in einem mythischen Krieg geschrieben hatte. In einem Krieg, der offenbar doch mehr war als ein Mythos.

»Wie kommt ihr darauf, dass dieses Dokument zur Zeit des Krieges geschrieben wurde?«, fragte Chane.

Wynn deutete auf das Pergament, auf eine Stelle weiter unten. »Hier wird Bezug genommen auf die Truppen der ›Nachtstimme‹, des verborgenen Anführers oder Messias des Feindes. Der Soldat erwähnt K’mal, eine Region im Südosten des Kontinents, nahe den Bergen am Rand der weiten Wüste im Norden des Sumanischen Reiches. Über viele Jahre hinweg hat man in jenem Gebiet Hinweise auf große Militärlager und Schlachten gefunden, und zwar zu Beginn des Vergessenen, der verlorenen Zeit. Wir wissen fast nichts über die Geschichte des Krieges und die Epoche davor.«

»Symbole sehr wichtig«, sagte Tilswith. »Aber verraten nur wenig, das wir nicht wissen. Gut für Theorie. Welt war vor dem Krieg höher …« Er zögerte, bis ihm Wynn erneut etwas zuflüsterte. »… entwickelt als jetzt, nicht weniger … oder gleich hoch. Viel verloren gegangen. Deshalb unsere Gilde schützt Wissen, damit nie wieder verloren geht.«

Domin Tilswith war leidenschaftlicher Historiker, und sein besonderes Interesse galt dem Großen Krieg, der sich auf der ganzen Welt ausgewirkt haben sollte. Einmal hatte er erwähnt, dass in seiner Heimat noch immer darüber gestritten wurde, ob jener Krieg wirklich stattgefunden hatte. Und Tilswith reagierte mit großer Aufmerksamkeit auf jede Erwähnung der »Nachtstimme«.

Nur wenig war über diesen mutmaßlichen Anführer und seine Horden bekannt, die den Heimatkontinent des Weisen und andere Teile der Welt heimgesucht hatten. Jede Kultur hatte ihren eigenen Namen für ihn, doch der stand immer mit der Erwähnung einer Stimme im Dunklen in Verbindung. Die vagen, unterschiedlichen Beschreibungen machten es unmöglich, Fakten und aus Furcht gewachsene wilde Spekulationen voneinander zu trennen. Tilswith vermutete, dass nur sehr wenige Individuen, wenn überhaupt, jenes Wesen mit eigenen Augen gesehen hatten. Nur drei Hinweise erschienen gelegentlich: Die »Nachtstimme« war männlichen Geschlechts, gewaltig und immer mitternachtsschwarz. Manche Berichte schilderten sie als schimärisch, andere als Reptil. In einigen Fällen war von einem Humanoiden die Rede, aber Details wurden nie genannt. Ihre wahre Natur ließ sich ebenso wenig feststellen wie der Grund dafür, warum sie über viele Jahre hinweg, vielleicht Jahrzehnte, Krieg geführt hatte, offenbar mit der Absicht, alles intelligente Leben zu vernichten, das sich ihrer Kontrolle entzog. Und jenen, die unter ihrem Einfluss standen, blieb nichts anderes übrig, als alle niederzumetzeln, die sich ihnen in den Weg stellten.

Man ging davon aus, dass der Krieg in der fernen Wüste nördlich des Sumanischen Reiches begonnen hatte, und auch im Süden, im heutigen Malourné. Irgendwie war die »Stimme« über Nacht besiegt – manche sprachen von »getötet« – worden, und daraufhin verschwand sie. Berichte aus der Zeit danach ließen den Schluss zu, dass die gesamte Zivilisation vollkommen untergegangen war. Es gab keine Ordnung mehr: Einzelne Clans und Stämme kämpften gegeneinander, um die wenige Nahrung und das übrig gebliebene unverwüstete Land.

Bevor Chane zu einem Edlen Toten geworden war, hatte er sich kaum für Geschichte interessiert. Den Umgang mit dem Schwert und Sprachen hatte er nur gelernt, weil man so etwas vom Sohn eines Adligen erwartete. Er war immer viel mehr an den arkanen Künsten interessiert gewesen, sehr zum Ärger seines Vaters, doch damals hatten sich seine Fähigkeiten darauf beschränkt, einige kleine Luftgeister zu beschwören, wie zum Beispiel Staubteufel, um Unruhe im Haus zu schaffen. Wenn er heute zurückblickte, sah er sich selbst als eine sehr oberflächliche Person, einen nutzlosen Snob, der irgendwann gestorben und im Grab verfault wäre. Aber jetzt …

Jetzt war er ohne Alter, und die Vergangenheit bot viel für jemanden, der über eine Ewigkeit verfügte. Chane wollte alles verstehen.

Wynn beobachtete seinen Blick, der dem Pergament galt, und aus den Augenwinkeln bemerkte er ihr sanftes Lächeln. Sie war schön, hatte ein ausgewogen proportioniertes Gesicht mit intelligenten Augen – sie wäre eine gute Adlige gewesen.

Er hörte ihr Blut, ein pulsierendes Rauschen unter ihrer Haut.

Unbewusst erweiterte Chane seine Sinne, bis er Wynns Körperwärme an der Wange spürte.

Blutdurst stieg in ihm auf, und rasch konzentrierte er sich wieder auf die Schriftrolle. Intellektuelle Gesellschaft erfüllte für ihn ein ebenso dringendes Bedürfnis wie Nahrung. Blut konnte er überall finden, doch die Präsenz einer Person wie Wynn war sehr kostbar.

Chane richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das faszinierende Pergament.

Leesil kletterte die kurze Treppe in den Frachtraum des Schoners hinunter und versuchte, nicht zu denken. Doch er bemühte sich vergeblich, trotz des Alkohols, der ihn noch immer umnebelte. An seinem Hals hingen eine kleine Flasche Öl und eine zweite mit Wasser. Er trug eine Laterne, und der Kasten mit seinen Werkzeugen steckte unter dem zerrissenen Hemd.

Magiere hatte dem ersten Angreifer die Kehle aufgeschnitten und ihn damit getötet. Chap hatte den zweiten festgehalten, der sich jetzt in einem Abstellraum unter Deck befand. Der dritte war entkommen, was er Leesils Trunkenheit verdankte.

Der nützliche, zuverlässige Leesil hatte die Sache erneut verpatzt.

Magiere sprach von Assassinen, aber Leesil wusste es besser. Geschickte Assassinen waren Schemen, die das Opfer weder sah noch hörte. Sie arbeiteten nicht in Gruppen. Sie platzten nicht durch eine Kabinentür, wodurch das Opfer erwachte, und sie verwendeten weder Schlagstangen noch einfache Messer. Jemand hatte gewöhnliche Halunken damit beauftragt, Magiere zu ermorden – jemand, der entweder nicht viel Geld für den Auftragsmord ausgeben wollte oder nicht wusste, wie man sich mit einem echten Assassinen in Verbindung setzte. Leesil wollte herausfinden, wer dieser Jemand war, so oder so.

Als er in dem schmalen, dunklen Gang stand, verfluchte er sich selbst. Wochenlang hatte er sich auf das vorbereitet, von dem er wusste, dass es irgendwann kommen würde, und als Magiere ihn zum ersten Mal wirklich brauchte, war er wieder betrunken. Er trank immer, wenn er Probleme hatte, oder? Seine Eltern hatten ihn auf Verrat und Mord vorbereitet, und um entsprechende Albträume fortzuspülen, hatte er jeden Abend Wein getrunken, bis der Schlaf zu einer traumlosen Flucht wurde.

Schluss damit. Kein Tropfen mehr.

Er würde der Versuchung nicht noch einmal erliegen. Während der beiden Monate seit dem Kampf in Miiska hatte er nur Wasser und Tee getrunken und es trotzdem geschafft, mit den Träumen zurechtzukommen. Er würde sein, was Magiere brauchte, auch wenn es bedeutete, dass er nie wieder schlief.

Einen Messerwurf weiter vorn befand sich die Tür des Abstellraums. Leesil holte seinen Kasten hervor, stellte dann aber fest, dass er gar kein Schloss knacken musste. Der Riegel war mit einem Frachthaken gesichert.

Er hob ihn, betrat den Raum leise und schloss die Tür hinter sich.

Als er mit der Laterne leuchtete, sah er einen erschöpften, übergewichtigen Mann, am Boden angekettet. Die Ketten waren alt und abgenutzt, erfüllten aber noch immer ihren Zweck. Der Kapitän hatte den Gefangenen verhört, doch der Mann war nicht einmal bereit gewesen, seinen Namen zu nennen. Magiere hatte nicht erfahren, von wem der Auftrag stammte, sie zu ermorden, und welche Gründe dahintersteckten. Sie zeigte keine Furcht, aber Leesil wusste, dass sie zumindest beunruhigt war. So wie er.

Und er kannte einige Verhörmethoden, von denen der Kapitän vielleicht nichts wusste.

Der Mann sah zu ihm auf und blinzelte überrascht. Schweiß glänzte in seinem runden Gesicht.

Leesil nahm das grüne Kopftuch ab und ließ das weißblonde Haar auf die Schultern fallen. Er strich es hinter die Ohren zurück, damit die Spitzen zu sehen waren, setzte die Laterne neben den Füßen des Mannes ab. Er wusste, dass er mit seinen bernsteinfarbenen Augen und der dunklen Haut unnatürlich aussah, und vielleicht ließ sich der Bursche davon einschüchtern.

Er ging in die Hocke, hielt den Blick die ganze Zeit über auf das Gesicht des Mannes gerichtet und achtete darauf, dass sein eigenes ausdruckslos blieb.

Der korpulente Kerl wich unwillkürlich zurück. So nahe bei ihm roch Leesil altes Bier, Schweiß und einen Hauch von Urin. Das struppige Haar des Mannes war nicht fettig, sondern staubig. Brauner Stoppelbart bedeckte Kinn und Wangen. Die Haut wirkte seltsam lose, als wäre der Mann früher dicker gewesen und hätte dann schwerere Zeiten erlebt und abgenommen. Vielleicht war er in Miiska Hafenarbeiter gewesen, vor dem Brand des Lagerhauses. Und wenn schon, dachte Leesil. Er hatte versucht, Magiere umzubringen.

Leesil lächelte plötzlich, und der Mann zuckte zusammen.

»Du weißt also, wer ich bin«, sagte Leesil. »Aber du kennst mich nicht. Ich bin gekommen, um das zu ändern.«

Er öffnete den Kasten mit seinen Werkzeugen, zeigte das weiße Metall eines Stiletts, die Garrotte und die gewölbte, kürzere Klinge. Er öffnete das Deckelfach, und zum Vorschein kamen die Haken, Drähte und Stifte in ihren Halterungen. Leesil wählte einen kleinen Stift aus glänzendem Metall.

»Jemand hat dich beauftragt, Magiere umzubringen, und das macht dich zu einem Assassinen«, fuhr er fort und hob den Stift. »Sag mir: Wie bringt man hiermit am schnellsten jemanden von hinten um?«

Der Mann atmete schwer. Der Geruch nach Schweiß wurde stärker, aber es kam keine Antwort.

»Überhaupt keine Ahnung?«, fragte Leesil. »Wie enttäuschend.« Er legte den Stift ins Deckelfach zurück. »Aber wir sollten nichts überstürzen. Was zu lernen lohnt, braucht seine Zeit.«

Der Mann blinzelte erneut. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder. Leesil griff in den Kasten, zögerte mit der Hand über dem Stilett und nahm dann die dickere, gewölbte Klinge.

»Zuerst schneide ich dich los«, sagte er. »Meine Mutter gab mir diese Klinge … Du solltest dich geehrt fühlen. Ich spreche nie von meiner Mutter.« Leesil drehte sie langsam, bis sie das Licht der Laterne einfing und in die Augen des Mannes lenkte. »Knochen gehören zu den einfacheren Dingen, durch die man hiermit schneiden kann. Du wirst keine Hände mehr haben, aber wenigstens frei sein.«

Der Mann keuchte voller Furcht.

»Was willst du?«, brachte er hervor.

Leesil seufzte und schenkte der Frage keine Beachtung.

»Ich habe vor, mit deinen Augen zu beginnen. Dies ist kein geeignetes Werkzeug dafür, aber zur Not genügt es. Andererseits … Ohne Augen siehst du nicht mehr, wie ich dir die Hände abschneide. Nein, wir beginnen bei den Händen und arbeiten uns dann nach oben.«

»Hör auf mit dem Geschwafel!«, stieß der Mann hervor. »Was willst du?«

Leesils Miene blieb unverändert. Er gab durch nichts zu erkennen, dass das Gespräch in eine neue Richtung führte.

»Wer hat dich beauftragt?«, fragte er wie beiläufig.

Der Mann schnaubte, und die Furcht verschwand aus seinem Gesicht.

»Darum geht es dir, nicht wahr? Ich hätte es wissen sollen, du betrunkener Narr. Fühlst du dich jetzt schuldig, weil du oben an Deck gesoffen hast?« Er schnaubte erneut und lachte fast. »Nur zu, schneid mich in Stücke. Ich habe gesehen, wie du versucht hast, die Matrosen beim Kartenspiel zu bluffen. Mir machst du keine Angst.«

Für einen langen Moment schwieg Leesil und sah dem Mann nur in die Augen, ohne dabei zu blinzeln. Dann stieß die Hand mit dem Messer plötzlich nach vorn, zum Gesicht des korpulenten Gefangenen.

Der Gefangene zuckte nach hinten und stieß mit dem Kopf an die Wand. Er schnappte nach Luft und riss die Augen auf. Leesil hielt wieder die Klinge und drehte sie langsam; es klebte kein Blut an ihr.

Der Mann entspannte sich und kicherte. »Ich wusste es.«

»Wie ich schon sagte, du kennst mich nicht«, erwiderte Leesil.

Eine dünne dunkle Linie erschien im Gesicht des Mannes. Sie führte vertikal über die Stirn und die linke Braue, übersprang das Auge und setzte sich auf der Wange bis zum Mundwinkel fort. Das Lächeln des Gefangenen verblasste, als unter der Braue erstes Blut aus der Wunde kam und ihm ins Auge tropfte. Er blinzelte, neigte den Kopf, damit ihm nicht noch mehr Blut ins Auge geriet, und gleichzeitig starrte er Leesil groß an und begann zu zittern.

Die Stille dauerte an und schien immer schwerer zu werden.

Leesil legte die Klinge in den schwarzen Kasten zurück und nahm die beiden an seinem Hals hängenden kleinen Flaschen. Er holte eine Kerze aus der Hosentasche und zündete sie mit der Laterne an. Mit der anderen Hand zog er den Stöpsel aus dem Ölfläschchen und spritzte Öl auf die Hose des Mannes.

»He!«, rief der Gefangene. »Was hast du vor?«

»Niemand hat mich hierherkommen sehen. Niemand weiß, dass ich hier bin.« Leesil sprach so geduldig wie zu einem Kind. »Die Matrosen waren sehr beschämt, dass du einen Passagier angegriffen hast, und dein Kumpan konnte entkommen, indem er über Bord sprang. Wenn man dich findet, wird der Kapitän gar nicht wissen wollen, wer es getan hat – es dürfte ihm gleich sein. Und ich habe ein sehr glaubwürdiges Gesicht.«

Leesil hielt die Kerze in die Nähe der ölbefleckten Hose des Mannes.

»Du wirst mich nicht anzünden«, sagte der Gefangene. »Du würdest riskieren, dass das ganze Schiff in Flammen aufgeht, was nicht nur dein Tod wäre, sondern auch der deiner Partnerin.«

»Wasser.« Leesil schüttelte die zweite Flasche. Er zog den Stöpsel heraus und stellte sie auf den Boden. »Ich weiß, wie man Feuer auf der Haut kontrolliert. Kleine Flammen verursachen nur daumengroße Blasen, aber oft kommt es nach einigen Tagen zu Infektionen. Ich habe einmal gesehen, wie das Bein eines Mannes grün und schwarz wurde. Es dauerte fast eine Woche, bis er starb.« Erneut nahm er die gewölbte Klinge, hielt sie ins Licht und ließ ihre Klinge blitzen. »Aber du wirst die Blasen nicht sehen. Das tue ich dir nicht an.«

Diesmal zeigte sich offene Furcht im Gesicht des Mannes. Er versuchte, noch weiter zurückzuweichen, hatte aber schon die Wand im Rücken.

»Wer hat dich beauftragt?«, fragte Leesil.

»Das sage ich dir nicht, du Säufer!«

Leesil hielt die Kerze an die Hose und entzündete einen Ölfleck.

Der Gefangene schrie auf und schlug mit der angeketteten Hand nach der Flamme. Leesil stieß ihm zwei Finger an die Kehle. Der Mann sank zurück und keuchte, während sein Bein zu brennen begann.

Rasch schüttete Leesil Wasser aus der zweiten Flasche auf die Flamme. Sie erlosch zischend, und zurück blieb der scharfe Geruch von verbranntem Stoff. Er setzte ein Knie auf die Hand des Mannes, drückte sie an den Boden und hielt die Kerze nahe an sein Gesicht. Leesils Miene blieb ruhig, fast freundlich, selbst als Zorn und Hass in seine leise Stimme krochen.

»Dies könnte die ganze Nacht so weitergehen. Man wird erst morgen früh nach dir sehen. Und der arme Kerl, der dann deine Leiche findet, verliert vermutlich sein Frühstück.«

Er nahm die Kerze, um einen weiteren Ölfleck anzuzünden, und der Mann vor ihm wand sich zur Seite.

»Meister Pojesk!«, rief er.

Leesil hielt inne.

»Ihm gehört ein Lagerhaus in Miiska«, sagte er. »Warum sollte er Magiere tot wollen?«

»Er will sie aufhalten«, platzte es aus dem Mann heraus. »Er will nicht, dass die Stadt ein neues großes Lagerhaus baut. Dann würde er verlieren, was er jetzt hat. Verstehst du nicht? Es ist die Wahrheit.«

Leesil setzte sich auf die Fersen.

Natürlich konnte Pojesk kaum daran gelegen sein, dass Magiere mit genug Geld für ein von der Stadt betriebenes großes Lagerhaus zurückkehrte. Doch diese Information konnte er nicht an Magiere weitergeben. Noch nicht. Sie folgte dem neu eingeschlagenen Weg nur, weil sie Miiska helfen wollte. Wenn sie erfuhr, dass ein Bürger der Stadt Leute beauftragt hatte, sie zu töten, verlor sie vielleicht ihre Entschlossenheit. Und was dann? Würde sie es sich anders überlegen und heimkehren? Wenn sie eine solche Entscheidung traf, würde sich die Lage in Miiska weiter verschlechtern, und dann dauerte es nicht lange, bis sie mit der Taverne nicht mehr genug verdienten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nein, er durfte ihr nichts davon sagen. Sie mussten das leisten, was man von ihnen erwartete, und das Geld dafür kassieren; andernfalls gab es keine Zukunft für sie. Leesil konnte Magiere schützen, indem er ihr nicht sagte, wer ihr die Halunken auf den Hals gehetzt hatte.

Leesil erhob sich und goss das Öl auf den Kopf des Mannes.

»Was soll das?«, brachte der Mann entsetzt hervor.

»Hat er sonst noch jemanden beauftragt?«, fragte Leesil.

»Nein! Niemanden außer uns. Das schwöre ich.«

Leesil starrte auf den Mann hinab, bis er davon überzeugt war, dass er tatsächlich die ganze Wahrheit gesagt hatte. Dann ging er wieder in die Hocke und beugte sich vor. Der Gefangene zuckte erschrocken zusammen, doch Leesil riss ihm nur die Hose auf und betrachtete die Brandwunde. Die Haut war angesengt.

»Es interessiert den Kapitän nicht, wenn du ihm sagst, dass ich bei dir gewesen bin. Und denk daran: Ich kann noch einmal zu dir kommen.« Leesil verstaute seine Werkzeuge, nahm die Laterne und ging zur Tür.

»Hättest du mir die Hände abgeschnitten und die Augen ausgestochen?«, flüsterte der Mann.

Leesil gab keine Antwort, verließ den Raum und sicherte den Riegel der Tür wieder mit dem Frachthaken.