20
Magiere musterte Welstiel. Er sah genauso aus wie in Miiska, ruhig und selbstsicher. Ihr Blick strich über die schwarzen Lederhandschuhe und den Mantel, und in Gedanken hörte sie noch einmal seine Stimme.
Einen Moment, wenn du gestattest.
Einen Moment, wenn Ihr gestattet …
Lord Au’shiyns totes Gesicht erschien vor Magieres innerem Auge. Sein Mörder hatte ihm gegenüber fast die gleichen Worte benutzt.
»Du …«, hauchte sie und konnte es kaum fassen. »Deine Stimme … deine Hände.«
Er wirkte gelassen, unerschütterlich und distanziert, gab sich noch immer als der geheimnisvolle Mentor, den er in Miiska gespielt hatte. Magiere suchte nach dem Brennen in ihr, das sie immer auf die Präsenz eines Untoten hinwies, aber sie spürte nichts dergleichen.
»Bist du Rattenjunge hierher gefolgt, oder folgte er dir?«, fragte sie.
Welstiel runzelte die Stirn und schien die Frage für töricht zu halten.
»Ich bin keiner von ihnen«, sagte er. »Ich habe dich auf das vorbereitet, was vor dir liegt. Ohne einen Anstoß hättest du nicht gegen diese Geschöpfe gekämpft. Sieh nur, was jetzt aus dir geworden ist – so viel mehr seit deinem Erwachen in Miiska.«
Was meinte er mit »Anstoß«? Der Beginn von Übelkeit gesellte sich Magieres Verwirrung hinzu.
»Du hast dies arrangiert?« Sie begriff plötzlich. »Und auch die Ereignisse in Miiska?«
»Es war einfach, dich dazu zu bringen, die leere Taverne zu kaufen«, sagte Welstiel.
Magieres Verwirrung verwandelte sich langsam in Zorn.
Der Stadtrat von Bela, Chaps verborgene Manipulationen, die Elfen, die Leesil nach dem Leben trachteten, und jetzt Welstiel. Wie oft waren Leesil und sie zu Marionetten geworden, von anderen, nah und fern, an Fäden geführt?
Welstiel winkte und schien die Geduld mit Magiere zu verlieren. »Es war alles ein Mittel zum Zweck, und du bist dem Ziel schon sehr nahe. Den Rest wirst du während der Reise lernen, und deshalb bin ich zu dir gekommen. Der Beschwörer ist unberechenbar, und ich möchte zugegen sein, für den Fall, dass er zu einer echten Gefahr wird.«
Er war verrückt, aber Magiere wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Blick kehrte immer wieder zu den schwarzen Handschuhen zurück.
»Ich begleite dich nirgendwohin«, sagte sie.
»Du weißt noch gar nicht, wohin wir reisen«, entgegnete Welstiel.
»Das ist mir gleich.«
Der Fackelschein flackerte über sein Gesicht.
»Ich habe dich beim Spiel beobachtet, als ihr von Dorf zu Dorf gezogen seid. Nicht oft, aber oft genug, um deine Fortschritte zu beobachten, und deinen Ehrgeiz. Du bist nicht wie andere Sterbliche – du denkst nicht wie ein Sterblicher. Du tust, was nötig ist, wenn dich die Umstände zwingen. Was du bei den Bauern verdient hast, war nicht mehr als ein Almosen. Was dir der Stadtrat angeboten hat, ist nichts im Vergleich mit dem, was ich suche, und ich habe dich ausgebildet, damit du mir bei der Suche hilfst.«
Magiere zuckte unwillkürlich zusammen, als Welstiel eine Hand auf sie richtete.
Ihre Schulter blutete noch, aber die Wunde war nicht weiter schlimm. Anders sah es mit dem Schnitt im Oberschenkel aus, denn dadurch konnte sie das Bein nicht mit ihrem vollen Gewicht belasten. Sie musterte Welstiel und erinnerte sich daran, dass Untote offenbar in der Lage waren, sich durch die Aufnahme von Blut aus eigener Kraft zu heilen. Mit diesem Gedanken konzentrierte sie sich auf die Wunde im Oberschenkel.
»Ich spreche nicht von Geld, sondern von Macht«, fuhr Welstiel fort. »In den eisbedeckten Bergen dieses Kontinents gibt es ein seit langem vergessenes Objekt, das von den ›Alten‹ bewacht wird – vermutlich die ältesten existierenden Vampire. Du bist zur Jägerin geboren, aber im Kampf gegen die städtischen Edlen Toten kannst du nichts mehr lernen. Ich muss dich den Umgang mit den Fähigkeiten lehren, die du erworben hast.«
Stimme, Verhalten und Worte weckten in Magiere Erinnerungen an die letzten Momente von Chesna und Au’shiyn.
»Ich kenne dich«, sagte Welstiel. »Du gehst Risiken ein, wenn der in Aussicht stehende Lohn groß genug ist, aber du ahnst nicht, was ich dir anbiete.«
Nach all dem, was Magiere und Leesil auf der Suche nach dem Mörder hinter sich gebracht hatten … Plötzlich ergab sich ein anderes Bild. Sie hatte Chane für den Mörder gehalten. Die Handschuhe, der dunkle Mantel und das Gebaren, alles passte. Selbst die Stimme in ihrer Vision hätte ihm gehören können. Und die förmlichen Worte … Vielleicht nur ein Zufall.
Einen Moment, wenn du gestattest …
Magiere sah in Welstiels ruhiges, ernstes Gesicht und entsann sich der Eindrücke, die sie in Chanes Präsenz gewonnen hatte. Der magische Untote tötete gern und genoss es, wenn seine Opfer starben.
Bei dem Mörder war das nicht der Fall gewesen.
Magiere sah auf den Armbrustbolzen hinab. Leesil hatte ihn wie die anderen vor der Jagd in Knoblauchwasser getaucht.
Es gab nur eine Möglichkeit, Gewissheit zu erlangen.
Leesil lief hinter Chap, und der Tunnel schien sich endlos hinzuziehen. Er musste darauf vertrauen, dass der Hund Magieres Spur gefunden hatte. Wie Chap in dieser stinkenden Kanalisation einer Fährte folgen konnte, blieb ihm ein Rätsel.
Plötzlich blieb Chap stehen, und Leesil trat an ihm vorbei, verharrte dann ebenfalls. Mit hoch erhobenem Kopf stand der Hund da und blickte in den Tunnel. Bevor Leesil etwas sagen konnte, lief Chap wieder los. Weiter vorn platschten Schritte in der Dunkelheit, und als Leesil Wynn sah, fühlte er Erleichterung.
Mit dem glühenden Kristall in der Hand wankte sie durch den Tunnel, erkannte Chap und Leesil und brachte die letzten Meter schnell hinter sich. Der graue Umhang reichte bis in das schmutzige Wasser und hatte sich bis zur Hüfte vollgesaugt.
Ihre kleinen Hände griffen nach Leesils Arm.
»Schnell«, keuchte sie. »Ich glaube, Magiere ist in Schwierigkeiten.«
»Chane?«, fragte Leesil.
»Nein – er ist entkommen.«
Panik stieg in Leesil auf.
»Was ist mit Magiere passiert?«, stieß er hervor.
»Jemand anders ist bei ihr«, sagte Wynn, und ihre Hände schlossen sich fester um Leesils Arm. »Der Mann namens Welstiel. Und ich fürchte, er könnte zu einer Gefahr für Magiere werden. Sie hat mich aufgefordert, loszulaufen und dich zu suchen.«
»Welstiel?«, wiederholte Leesil verwundert. Was machte der seltsame Mann in Bela, und warum war er Magiere in die Kanalisation gefolgt?
»Komm schnell«, drängte Wynn. »Sie ist in diesem Tunnel.«
Chap lief los. Leesil folgte ihm, zog Wynn mit sich und rief: »Bleib in Sichtweite, Chap!«
Der Hund zögerte, bellte einmal und lief langsamer. Wynn war so erschöpft, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, und dadurch kam Leesil langsamer voran, aber er wollte die junge Weise nicht zurücklassen. Gemeinsam stapften sie durchs Wasser, so schnell sie konnten.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, schnaufte Wynn nach einer Weile.
Weiter vorn, bei einer Abzweigung, flackerte Fackelschein durch den Tunnel.
Chap stand dort und sah nach rechts, doch Leesil beobachtete, wie Magiere sich von links näherte, mit schussbereiter Armbrust. Langsam watete sie durchs seichte Wasser und zielte in die Richtung, in die der Hund schaute.
Sie war durchnässt und ihr Lederhemd an der linken Schulter aufgerissen. Die Wunde blutete, und ein zweiter Schnitt zeigte sich in ihrem rechten Oberschenkel.
Leesil gab seine Fackel Wynn, zog beide Klingen und näherte sich Chap. Rechts stand Welstiel auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Sein markantes Gesicht und die weißen Stellen an den Schläfen ließen sich selbst in der Düsternis deutlich erkennen.
Magieres Blick huschte kurz zu Leesil und kehrte sofort zu Welstiel zurück.
»Er war es«, hauchte sie. »Er hat Chesna getötet, um uns hierherzuholen.«
Leesil verstand kein Wort. Ein Untoter hatte Lanjows Tochter ermordet, nicht dieser sonderbare Mann, der von Edlen Toten geradezu besessen zu sein schien. Leesil betrachtete das Topas-Amulett auf seiner Brust – der Stein glühte nicht. Chap verhielt sich nicht so wie in der Nähe eines Vampirs: Er stand einfach nur da und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen.
Welstiel sah Leesil an und runzelte die Stirn.
»Sie ist verstört. Ich bin nur hierhergekommen, um dafür zu sorgen, dass sie mit dem Beschwörer fertig werden kann. Ich habe euch schon einmal geholfen, und jetzt möchte ich euch ein Angebot unterbreiten.«
Wynn blieb zurück, als Leesil nach vorn trat, zu Magiere. Ihre Aufmerksamkeit galt allein Welstiel, und sie hatte die Hände so fest um die Armbrust geschlossen, dass die Fingerknöchel in der blassen Haut noch heller hervortraten.
»Magiere …« Leesil kam noch etwas näher. »Nicht er ist der Mörder, sondern Chane.«
Sie wich zur Seite und machte einen weiteren Schritt nach vorn. Welstiel trat zurück.
»Magiere …« Mit der Spitze einer Klinge deutete Leesil auf den Topas. »Kein Licht, siehst du? Und Chap … Er würde es spüren.«
Sie sah ihn und den Hund nur ganz kurz an.
»Es gibt eine Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen«, sagte sie und krümmte den Finger um den Auslöser der Waffe.
»Nein!«, rief Leesil.
Er schlug nach der Armbrust, aber der Bolzen war bereits unterwegs und traf Welstiel in der Brust. Leesil wollte entsetzt zu ihm laufen.
Rauch stieg von Welstiels Brust auf, als er zur Tunnelwand zurücktaumelte.
»Nein«, flüsterte Leesil.
»Schlag ihm den Kopf ab!«, rief Magiere, und ihre Stimme hallte durch die Kanalisation. »Er hat Chesna ermordet.«
Chap knurrte und richtete den Blick seiner kristallblauen Augen auf Leesil.
Wie war dies möglich? Das Amulett hatte nicht geglüht, Chap hatte nichts gespürt. Und Magiere … Sie zeigte nicht den Zorn, der sie sonst in der Nähe von Untoten verwandelte. Doch nur ein Untoter brannte, wenn ihn Knoblauch berührte.
Leesil lief los und rief Chap zu: »Schnapp ihn dir!«
Chap sprang und huschte an ihm vorbei.
Welstiel griff nach dem Bolzen in seiner Brust und zog ihn heraus. Leesil beobachtete, wie sich die Lippen des Mannes bewegten, und seltsame Worte summten in seinem Kopf. Welstiels freie Hand kam nach vorn und warf feinen weißen Staub in die Luft. Der aus der Brustwunde kommende Rauch verdichtete sich und wurde zu einer Wolke, die den Tunnel zu füllen begann.
Sie dehnte sich aus, und schon nach kurzer Zeit reichte Leesils Blick nicht einmal mehr eine Armeslänge weit. Er schlug dorthin, wo er Welstiel zuletzt gesehen hatte, doch seine Klinge traf nur Stein. Dann bemerkte er im Rauch einen schwebenden Armbrustbolzen, der plötzlich losflog und an ihm vorbeisauste.
Hinter ihm erklang ein zorniger und schmerzerfüllter Schrei.
»Magiere!«, rief Leesil. Er wirbelte herum und eilte dorthin, wo der Rauch nicht ganz so dicht war.
Magiere hatte die Armbrust fallen lassen und hielt ihren Arm unterhalb der verletzten Schulter. Sie stand noch, sackte aber in sich zusammen, als Leesil sie erreichte, und ihr Kopf sank an seine Schulter. Er hob ihre Hand vom Oberarm und stellte fest, dass der Bolzen sie gestreift hatte.
Noch mehr Rauch wogte durch den Tunnel, und Chap bellte.
»Komm her, Chap!«, rief Leesil. »Wir kehren in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind.«
»Nein«, sagte Wynn. »Wir nehmen die Leiter und klettern zur Straße hoch.«
»Dann entkommt er«, brachte Magiere hervor und hustete. »Und das können wir nicht zulassen.«
Leesil starrte in die wogende Wolke und konnte nicht einmal erkennen, ob sich Welstiel überhaupt noch im Tunnel befand.
Wynn watete zur Leiter und forderte sie auf, ihr zu folgen. Chap kam aus dem Rauch, und Leesil steckte seine Klingen in die Scheiden und führte Magiere zur Leiter. Sie schien in der Lage zu sein, mit einer Hand nach oben zu klettern. Leesil nahm Chap und machte sich ebenfalls an den Aufstieg.
Der Schacht war schmal, und das half ihm beim Klettern: Er konnte sich mit dem Rücken abstützen, während er Chap unter den einen Arm geklemmt hielt und mit der anderen nach den Sprossen griff. Dreimal verhakte sich die Tasche mit den Köpfen an der Mauer, und Leesil musste kurz innehalten, um sie zu lösen. Als er nach oben kam, griffen Wynn und Magiere nach dem Hund und zogen ihn durch die Öffnung. Leesil kroch aus dem Schacht und blieb schwer atmend auf dem Kopfsteinpflaster der Straße liegen.
Magiere starrte mit ausdrucksloser Miene nach unten. Das Geräusch eiliger Schritte und Stimmen näherte sich, und Leesil richtete sich auf, griff nach den Klingen. Aber es waren nur drei Stadtwächter, die auf sie zuliefen.
»Schetnicks Männer«, sagte er erleichtert. »Ich bitte sie, einen Karren zu holen, damit wir zur Gilde zurückkehren können.«
Magiere sah nicht auf und gab keine Antwort.
Chane humpelte durch die Straßen des Wohnviertels unweit ihres Hauses, als sich in seinem Bewusstsein plötzlich ein Empfinden der Leere einstellte. Es war so intensiv, dass es fast schmerzhaft wurde – es fühlte sich an, als hätte man ihm etwas aus dem Kopf gerissen. Dann verschwand es so plötzlich, wie es gekommen war.
Von einem Augenblick zum anderen schienen seine Gedanken so klar zu sein wie seit langer Zeit nicht mehr. Er blieb kurz stehen, trat sogar auf die Straße und sah sich um.
Niemand zu sehen. Selbst in Gedanken war er allein. Chane lächelte und schloss die Augen.
Er hatte nicht gewusst, wie sich die Freiheit anfühlen würde, wenn sie kam. Er hatte nicht einmal gewusst, ob er überhaupt etwas fühlen würde, doch jetzt breitete sich die Erkenntnis in ihm aus.
Toret war tot.
Chanes Lächeln verschwand.
Er war verletzt, ohne Unterschlupf und bei der Gilde der Weisen sicher nicht mehr willkommen. Die Dhampir und ihre Verbündeten kannten seine Identität ebenso wie die Weisen, und es dauerte bestimmt nicht lange, bis auch andere davon erfuhren.
»Wynn«, flüsterte er.
Chane schritt durch die dunklen Straßen. Von all seinen Dingen blieb ihm nur das, was er tragen konnte. Er durfte nicht länger in Bela bleiben. Der tiefe Schnitt im Knie, das Loch in der Brust und die brennende Wunde dort im Rücken, wo ihn Wynns Armbrustbolzen getroffen hatte … Es galt, eine weitere Konfrontation zu vermeiden. Er dachte an seine Ratte, die sich noch immer in ihrem Käfig auf dem Tisch befand.
Als er das Haus erreichte, tastete er nach dem begrenzten Selbst des Tiers und horchte. Stille herrschte in dem Gebäude. Chane zog sein Schwert, trat durch die offene Hintertür und lauschte.
Nichts. Das Haus schien leer zu sein.
Er ging durchs Esszimmer, an Tihkos Kadaver auf dem Tisch und dem toten Wolf auf dem Boden vorbei. Als er den Salon erreichte, sah er dort Saphirs kopflose Leiche in einer großen Lache aus schwarzem, geronnenem Blut. Chane eilte zur Treppe und erreichte kurze Zeit später den Keller.
Er stank nach Kanalisation und wechselte deshalb zuerst die Kleidung, packte dann einige Sachen in einen kleinen Koffer und eine Reisetasche. Hinter einer Schublade des Schreibtischs hatte er etwas Geld in einem Beutel versteckt. Auf dem Tisch stand eine Kaltlampe, die Wynn ihm gegeben hatte. Er nahm den Kristall heraus, betastete ihn einige Sekunden lang und steckte ihn dann in den Mantel. Nur die absolut notwendigen Texte und Manuskripte nahm er mit und erinnerte sich dabei an den Tag, als ihm seine Mutter das erste Buch über Metaphysik geschenkt hatte. Er fragte sich, ob es noch immer daheim im Bücherregal stand, in ihrem Haus im Norden.
In dieser Nacht verabschiedete er sich von der einzigen Existenz, die er gekannt hatte, nachdem er von Toret aus dem Jenseits zurückgeholt worden war. Er hatte nie in Erwägung gezogen, zum Anwesen seiner Familie zurückzukehren, doch jetzt begriff er, dass auch das für immer hinter ihm lag. Schließlich nahm er die Ratte aus ihrem Käfig und schob sie in die Manteltasche. Koffer und Reisetasche hatte er zuvor zusammengebunden, griff nun nach dem Riemen und verließ sein Zimmer.
Plötzlich hörte er oben im Erdgeschoss Schritte.
Chane setzte sein Gepäck ab, zog das Schwert und schlich die Treppe hoch. Als er oben die Tür erreichte, nahm er die Ratte aus der Manteltasche und ließ sie an der Wand entlang zum Esszimmer laufen.
Er erwartete, mit den Augen des Nagetiers Stadtwächter zu sehen, die gekommen waren, um die Geschichte der Jägerin zu überprüfen. Oder vielleicht war das Halbblut aus irgendeinem Grund zurückgekehrt. Stattdessen beobachtete er Torets Besucher, den Mann mit dem dunklen Haar und den hellen Flecken an den Schläfen – er stand am Tisch und betrachtete den toten Raben.
Chane versuchte, mithilfe seines kleinen Dieners die Präsenz des Fremden zu spüren, doch er fühlte nichts – der Mann schien gar nicht da zu sein. Er beobachtete, wie die Gestalt mit der Stiefelspitze den toten Wolf anstieß und dann zum Salon ging. Chane schickte die Ratte weiter an der Wand entlang, behielt den Besucher im Auge und sah, wie er auf Saphirs Leiche hinabblickte.
Der Fremde inspizierte das ganze Haus und blieb nur kurz stehen, als er im ersten Stock Tibors Leiche und den abgetrennten Kopf fand. Als deutlich wurde, dass er sich auch im Keller umsehen wollte, schlüpfte Chane hinter die verborgene Tür am Ende der Treppe und wartete.
Die Ratte brauchte eine Weile, um zu dem Mann aufzuschließen, und als Chane ihn wieder sehen konnte, befand er sich in seinem Zimmer. Er betrachtete dort den leeren Käfig, blätterte in mehreren Texten, nahm die schmutzige Kleidung aus der Kanalisation in die Hand, runzelte die Stirn und ließ sie wieder fallen.
Nach einer Weile verließ der Fremde den Keller, kehrte nach oben in den Salon zurück und betrachtete noch einmal Saphirs Leiche. Chane wusste nicht, was dieser Mann wollte, gewann aber den Eindruck, dass er eine bestimmte Absicht verfolgte. Als der Besucher zur Tür ging, gab Chane der Ratte einen einfachen Auftrag, verbunden mit einem Bild von dem Fremden.
Folge und beobachte ihn.
Dann zog er sich aus dem Selbst des Tiers zurück und wartete, bis er sicher sein konnte, dass sich der Mann ein ganzes Stück vom Haus entfernt hatte. Daraufhin ging er zum Erdgeschoss hoch und nahm den Hinterausgang in der Küche.
Magiere saß benommen am Küchentisch der Weisen, der zerrissene Ärmel ihres Lederhemds war abgetrennt. Domin Tilswith strich vorsichtig Salbe auf Schulter, Arm und Bein. Weder die Präsenz des Alten noch die Salbe befreiten sie von dem Chaos in ihren Gedanken.
Sie war noch immer damit beschäftigt, all die Enthüllungen dieser Nacht zu verarbeiten. Ihre Welt fühlte sich wie auf den Kopf gestellt an.
Leesil befand sich in der Nähe und fragte, ob er helfen konnte. Wynn schob ihn immer wieder beiseite, während sie dem alten Weisen half. Chap saß vor ihr auf dem Boden und beobachtete sie aufmerksam. Dann und wann zuckte sein Schwanz.
Vàtz schien noch immer in der Kaserne der Stadtwache zu sein. Als er mit Magieres Nachricht eingetroffen war, hatte ihn Hauptmann Schetnick dort zu seiner eigenen Sicherheit festgehalten. Ihm schien es besser als Magiere gelungen zu sein, den kleinen Burschen dazu zu bringen, ihm zu gehorchen.
Magiere sah sich in der Küche mit all ihren Kräutern und Töpfen um, ließ den Blick über das Kochfeuer und die kalten Lampen streichen, die das Zimmer gleichmäßig ausleuchteten. Sie musterte Leesil und wusste, dass sie froh sein sollte, zumindest zum Teil. Sie hatten zwei Untote unschädlich gemacht und überlebt. Zwei Köpfe dienten ihnen als Beweis.
Aber was bewiesen sie wirklich? Chesnas Mörder war entkommen, ebenso Chane, und das machte Magiere zu wenig mehr als der Betrügerin, die abergläubische Bauern um ihre wenigen Münzen gebracht hatte.
Während Wynn ihr das verletzte Bein verband, wechselten sie und der Domin rasche Worte in ihrer Sprache. Als schließlich alle Wunden behandelt waren, wandte sich Tilswith an Magiere und lächelte.
»Fertig«, sagte er voller Zuversicht. »Du bald gesund.«
Magiere sah ihm müde in die Augen und das faltige Gesicht, fragte sich dabei, ob er mehr meinte als nur den Körper. Der Alte sah Leesil an.
»Zähne?«, fragte er und deutete auf seinen Hals. »Und Quetschung.«
Für einen Moment wirkte Leesil verwirrt und hob die Hand. Als er den Hals betastete, schnitt er eine Grimasse. Der Domin bedeutete ihm, neben Magiere Platz zu nehmen, und daraufhin begann Tilswith, ihn zu behandeln. Als Wynn Leesil dabei half, das Kettenhemd abzunehmen, wandte sich der alte Weise noch einmal an Magiere.
»Dieser Mann … Edler Toter … er tötete Chesna. Du ihn kennst?«
»Ja«, erwiderte Magiere bitter. »Wir kennen ihn.«
Leesil sah sie besorgt an. »Wir konnten dies nicht ahnen. Es ist nicht unsere Schuld.«
»Wirklich nicht?«, entgegnete Magiere. »Dunction, der frühere Eigentümer unserer Taverne, ›verschwand‹ eines Abends auf mysteriöse Weise. Welstiel hat alles so in die Wege geleitet, dass ich den ›Seelöwen‹ kaufte, und als wir uns in Miiska niederließen, hörten wir von verschwundenen Bewohnern und stießen auf Rattenjunge, Rashed und Teesha.«
Leesils Gesicht machte deutlich, dass er zu verstehen begann.
»Er wusste vor mir, was ich bin«, fügte Magiere hinzu. »Er beobachtete uns beim Spiel. Und ich glaube, er weiß viel mehr über meine Vergangenheit und über mich, als er uns sagte. Er hat uns manipuliert … wie alle anderen.«
Tilswith hörte aufmerksam zu, während er Leesils Wunde verband. »Warum? Warum er weiß dies und möchte du lernst?«
Magiere erinnerte sich an den drängenden Ton in Welstiels Stimme.
»Er sucht etwas«, sagte sie nachdenklich. »Etwas Altes, ein seit langem vergessenes Objekt, das ihm Macht geben soll, und er glaubt, dass es von alten Edlen Toten bewacht wird. Auf jene Aufgabe wollte er mich vorbereiten.«
Tilswith hielt inne und musterte sie. »Das er gesagt? Dies seine Worte?«
»Ja«, bestätigte Magiere und runzelte die Stirn. »Wieso fragst du?«
Wynn war von einem Augenblick zum anderen erstarrt. Wieder wechselten sie und Tilswith rasche Worte in ihrer Sprache, und es klang ziemlich erregt. Schließlich schüttelte Tilswith den Kopf, und Wynn drehte sich langsam zu Magiere um.
»Er hat ein Objekt von großer Macht erwähnt, das von alten Untoten bewacht wird? Und er wollte dich darauf vorbereiten, ihm dabei zu helfen, sich in den Besitz dieses Objekts zu bringen?«
»Worum geht es?«, fragte Leesil.
Tilswith zuckte mit den Schultern. »Nicht sicher. Aber wenn er untot, sich verbergen kann vor Hund und sucht Objekt, ihr es finden müsst zuerst. Es nicht darf geraten in seine Hand.«
Leesil seufzte tief. »Oh, ihr gehässigen Götter …«
»Schlägst du vor, dass Leesil und ich ihm folgen sollen?«, fragte Magiere. »Wir wüssten nicht einmal, wo wir Ausschau halten müssen. Chap kann seine Spur nicht finden.«
Tilswith dachte darüber nach und sah dabei zu Chap. Die Blicke der anderen gingen in die gleiche Richtung.
Der Hund sah sich um, wurde unruhig und kroch langsam zurück. Er wirkte verunsichert und verlegen.
»Spur folgen … nein«, sagte Tilswith. »Aber Welstiel weiß von Majay-hì, ja? Und Elf beendet Jagd auf Leesil wegen Hund. Chap eine Rolle dabei spielt.«
Als Chap diese Worte hörte, ließ er den Kopf sinken.
»Er weisen euch den Weg«, fuhr Tilswith fort, und seine hellgrünen Augen glänzten warm, als er Chap beobachtete und wie missbilligend die Stirn runzelte. »Ihr drei zusammen gehört: Dhampir, Majay-hì und Halbelf. Herausfindet den Grund dafür. Und Weg suchen zu Welstiel.«
Für einige Sekunden war es still im Raum, und dann setzte Wynn Tilswiths Erläuterungen fort.
»Einige Mitglieder unserer Gilde sehen eine Zeit der Konvergenz kommen, aber wir sind uns nicht einig darüber, was sie bedeutet – oder ob sie wirklich bevorsteht. Über Jahrzehnte hinweg könnte Seltsames geschehen, ohne eine klare Verbindung.«
Wynn zögerte.
»Ihr habt uns einige wenige Dinge über euch erzählt, und daraus geht hervor, dass ihr beide eine Vergangenheit voller Ereignisse hütet, die ihr bedauert«, sagte die junge Weise. »Es ist Zeit für euch, euren eigenen Weg zu wählen und ihn nicht von anderen bestimmen zu lassen. Vor Jahrhunderten brachte ein schrecklicher Krieg Vergessen über die Welt. Wissen, große Werke, sogar die Zivilisation – es ging so viel verloren, dass wir kaum etwas über die Zeit vor dem Krieg oder unmittelbar danach wissen. Wenn dieser Welstiel eine Macht aus jener Zeit entdeckt hat, so setzt er die Suche danach bestimmt fort, mit oder ohne eure Hilfe. Findet sie vor ihm. Wenn er Chesna ermordet hat, nur um euch hierher nach Bela zu holen … Denkt daran, was er tun würde, um jenes Objekt zu bekommen.«
Die Worte der beiden Weisen ergaben durchaus einen Sinn, aber Magiere schien das einfach zu viel verlangt. Sie wollte nur nach Hause. Bei jedem Schritt fort von dem Leben, das sie führen wollte, legte ihr jemand eine noch größere Bürde auf die Schultern.
»Wir haben noch nicht einmal unsere Aufgabe hier in der Stadt zu Ende gebracht«, sagte sie und atmete tief durch. »Unsere Jagd galt dem falschen Untoten. Und Welstiel und Chane sind entkommen.«
Tilswith blinzelte überrascht, und Leesil warf voller Abscheu die Arme hoch, verzog dann das Gesicht, als ihm die Bewegung Schmerz bescherte.
»Nehmt Geld für Miiska«, sagte der Domin. »Niemand sonst konnte unschädlich machen Edle Tote. Ihr Stadt sicher gemacht. Du Welstiel zurückgewiesen hast, er also nicht mehr hier und sucht anderen Weg zu gesuchtem Objekt.«
Leesil nickte. »Die eingebildeten, arroganten Pfauen vom Stadtrat wollten, dass wir ihre Stadt von den Untoten befreien. Ich habe zwei Köpfe in der Tasche, und ein dritter liegt in dem Haus.«
Magiere hörte seine Worte und fragte sich, ob sein schlechtes Gewissen hinter ihnen steckte. Fühlte er sich noch immer schuldig, weil er in Miiska das Lagerhaus niedergebrannt hatte, um ihr das Leben zu retten?
»Was ist mit Chane?«, fragte sie.
Wynn wandte den Blick ab, als sein Name fiel.
»Chane Gelehrter ist«, sagte Tilswith. »Aber wir wissen er auch Edler Toter. Er zu uns kam, um zu erfahren mehr aus alten Schriften. Geringes Risiko. Jetzt Risiko viel größer, und er verlassen Stadt.« Er breitete die Arme aus und schien alles für völlig klar zu halten. »Eure Aufgabe erfüllt. In Bela keine Untoten mehr.«
»Ich bringe die Geldanweisung für euch nach Miiska und spreche dort mit dem Bäcker Karlin, den ihr erwähnt habt«, bot sich Wynn an.
Die Weisen glaubten wirklich, dass alles gelöst war, aber für Magiere ging es viel zu schnell. Sie erwarteten jetzt von ihr, dass sie zusammen mit Leesil und Chap Welstiel irgendwie daran hinderte, das zu finden, was er suchte, obwohl niemand wusste, wie das Objekt aussah und wo es sich befand. Wenn Magiere die Augen schloss, fühlte sie noch einmal die letzten Momente von Chesna und Au’shiyn, und auch die emotionale Kälte des Mörders: weder Mitleid noch Bedauern, nicht einmal Befriedigung.
Welstiel hatte auf das Blut seiner Opfer verzichtet und sie nur umgebracht, um sie als Köder zu benutzen. Für einen Moment spürte Magiere, wie die Hitze des Zorns zurückkehrte. Welstiel wusste, was sie war – aber wusste er auch, welchen Umständen sie ihre Geburt verdankte? Dhampir, das Kind eines Vampirs mit verborgenem Wissen und einer sterblichen Mutter, die Magiere nur von einer hölzernen Gedenktafel auf dem Dorffriedhof kannte.
Und wie weit zurück in ihrem Leben reichten Welstiels Manipulationen? In diesem Zusammenhang gab es Möglichkeiten, über die Magiere lieber nicht nachdenken wollte.
Leesil beugte sich zu ihr. »Es gibt da noch etwas, das ich dir nicht gesagt habe.«
Wieder brodelte es in Magiere, als sie daran dachte, dass er ihr erneut etwas verschwiegen hatte.
»An Bord des Schiffes, das uns nach Bela brachte, habe ich mit dem eingesperrten Halunken gesprochen«, sagte Leesil. »Meister Pojesk hat jene Männer beauftragt; sie sollten dafür sorgen, dass wir nicht mit dem Geld heimkehren. Karlin muss davor gewarnt werden, wie weit Pojesk gehen könnte, um den Bau des neuen Lagerhauses zu verhindern.«
Magieres Wunden begannen zu schmerzen, als die Wirkung der Salbe nachließ, und das machte sie noch zorniger.
»Verdammt, Leesil!«
»Es gab bereits genug Dinge, die dich belasteten«, erwiderte er scharf. »Und einigen von ihnen wolltest du dich nicht einmal stellen.«
Er senkte den Kopf, und Magieres Ärger verflog. Leesil wirkte müde und traurig. Hinter seiner Reaktion steckte mehr als die Täuschungen, die sie seit dem Verlassen von Miiska aufgedeckt hatten. Ein Teil seiner Erbitterung bezog sich auf sie.
»Keine Sorge«, warf Wynn ein. »Gebt mir eine Nachricht mit, mündlich oder schriftlich. Ich verspreche, dass Karlin alles erfahren wird.«
Magiere wollte nur nach Hause zurück, aber die Worte der Weisen gaben ihr zu denken. Sie, Leesil und Chap waren noch nicht fertig. Sie suchte Antworten in Hinsicht auf Vergangenheit und Zukunft. Und sie wollte wissen, warum sie hier war.
Leesil war nahe, ignorierte sie aber, und plötzlich hatte Magiere das Gespräch satt. Plötzlich hatte sie nur noch den Wunsch, dieses Zimmer zu verlassen und mit Leesil allein zu sein.
»Wir haben das Geld noch nicht«, sagte sie. »Bis das nicht geklärt ist, können wir keine Entscheidung treffen.«
Die beiden Weisen wünschten ihnen eine gute Nacht und gingen. Leesil legte sich Magieres unverletzten Arm über die Schulter und verzog kurz das Gesicht, als er seinen Hals berührte, führte sie dann zurück zu ihrer Unterkunft in der alten Kaserne. Chap folgte ihnen, wund und steif, ansonsten aber wohlauf.
Als Leesil Magiere auf die untere Pritsche sinken ließ, schien er noch immer in Gedanken versunken zu sein.
»Es tut mir leid«, sagte Magiere. »Ich habe den Ballast all der Dinge mit mir herumgeschleppt, die geschehen sind, noch bevor wir Miiska verließen.«
»Ja …«, flüsterte Leesil. »Aber lassen wir das für einen Moment. Da ist noch etwas anderes, das du wissen solltest. Etwas, das heute Nacht in der Kanalisation geschah.«
Magiere hielt den Atem an und wusste nicht, ob sie noch mehr ertragen konnte.
»Meine Mutter …«, hauchte Leesil. Er schien sich zu fürchten, es laut auszusprechen. »Vielleicht lebt sie noch.«
Magiere ergriff seinen Arm und zog ihn herunter. Er ging vor ihr in die Hocke, und bevor sie ihm die erste drängende Frage stellen konnte, erzählte er von der Begegnung mit dem Elf – dem Anmaglâhk – namens Sgäile. Magieres Argwohn wuchs, als sie hörte, wie Chap den Elfen an die Wand gedrängt und so sehr eingeschüchtert hatte, dass er bereit gewesen war, einige von Leesils Fragen zu beantworten.
»Vielleicht hat man sie für das eingekerkert, was sie mir beibrachte«, sagte Leesil. »Aber aus Sgäiles Beobachtung schließe ich, dass ihr nicht genug Zeit blieb, mich alles zu lehren – oder vielleicht war das ihre Entscheidung. Ich glaube, sie könnte Darmouth entkommen sein, und wenn ich recht habe, bringen die Elfen keine Artgenossen um, nicht einmal Verräter.«
Chap beobachtete sie beide aufmerksam, und Magiere glaubte zu sehen, wie sich in den Augen des Hundes etwas veränderte, als Leesil über den elfischen Assassinen sprach.
»Sie hat mir Chap gegeben«, erinnerte sich Leesil.
Neuer Kummer erfasste Magiere. Leesils so lang verborgene Schuldgefühle in Hinsicht auf seine Eltern kehrten angesichts der Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter umso schmerzhafter zurück.
»Wenn sie noch lebt, finden wir sie«, versprach Magiere. »Wir finden heraus, warum dies alles mit uns passiert ist.«
Der Brief, dessen Aufforderung sie nach Bela gefolgt waren, hatte Veränderung in ihr Leben gebracht, und jetzt standen weitere Veränderungen bevor. Magiere begriff, dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnten.
»Wir«, wiederholte Leesil, und sein leises Lachen weckte Unbehagen in Magiere. »Das ist ein ganz anderes Rätsel. Und ich glaube, ich verstehe jetzt den springenden Punkt.«
Leesil zeigte das linke Handgelenk, und deutlich waren die von Magieres Zähnen stammenden Narben zu sehen. Sie stieß seinen Arm fort und wich zurück.
»All die Distanz, die du zwischen uns geschaffen hast«, sagte er vorwurfsvoll. »Dies ist der Grund.«
»Nicht jetzt, Leesil«, warnte Magiere.
»Wie ich schon sagte: Ich bin nicht so leicht umzubringen.«
Magiere drehte sich der Magen um, als Leesils Worte Erinnerungen in ihr weckten. Sie fühlte sein Fleisch zwischen ihren Zähnen, in jener Nacht, als das Lagerhaus niedergebrannt war. Sie schmeckte sein Blut und schluckte es hinunter, denn in jenem Moment begehrte sie nichts anderes. Nicht das Blut von irgendjemand – nur seins.
»Doch, das bist zu!«, entfuhr es ihr. »Du kannst dies nicht so einfach machen!«
Leesil wich verwirrt zurück. »Wie meinst du das?«
»Keiner von uns beiden weiß wirklich, was ich bin«, sagte Magiere. »Du bist jetzt hier bei mir, und ich wünsche es mir nicht anders. Aber jedes Mal, wenn du mehr daraus machen willst, wird es zu einer völlig unnatürlichen Sache, und du …«
»Was?«, fragte Leesil scharf. »Jetzt bin nicht ich es, der Geheimnisse hat. Sag mir, was so …«
»Ich kann dich töten!«, brachte Magiere zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Zorn erklang in ihren Worten. »Und das Schlimmste ist: Du würdest dich nicht wehren!«
Sie wollte ihn schlagen, ihn aus seiner törichten Blindheit wecken, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Es war besser, es endlich hinter sich zu bringen, ein für alle Mal, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»In der Nacht, als das Lagerhaus brannte … Du hast mir einfach dein Blut zu trinken gegeben, ohne nachzudenken. Wenn Brenden nicht da gewesen und dich von mir fortgezogen hätte, wärst du bei mir geblieben und zwischen meinen Zähnen gestorben. Ich wäre erwacht, und du hättest tot in meinen Armen gelegen. Du hast nicht einmal an diese Möglichkeit gedacht und auch gar nicht versucht, sie zu leugnen. Das meine ich damit, dass es leicht ist, dich zu töten. Und du würdest dich von mir umbringen lassen.«
Magiere konnte ihn nicht mehr ansehen. Zwischen den Erinnerungen an sein Blut im Mund und dem heißen Zorn in ihr kam der Schmerz eines endgültigen Verlustes.
Leesil sank auf ein Knie und beugte sich näher zu ihr.
»Keiner von uns wusste, was in jener Nacht geschah«, sagte er. »Du ebenso wenig wie ich. Wie wäre es auch anders möglich gewesen? Aber das haben wir jetzt hinter uns, und wir sind nicht mehr die gleichen Personen.«
Er streckte die Hand aus und berührte sie an der Wange, und so sehr Magiere auch versucht war, sie beiseitezuschieben – sie brachte es nicht fertig, Leesil noch mehr zu verletzen, als sie es gerade mit Worten getan hatte.
»Ich habe drei Leben gelebt«, sagte er. »Als Kind in den Kriegsländern, in einer Welt von Verrat und Tod. Dann unterwegs mit Chap. Und schließlich das Spiel mit dir, von dem Abend an, als wir uns begegneten … was wir Chaps Einmischung verdanken. Jetzt beginnt ein viertes Leben für mich. Jedes Leben fängt damit an, indem man es einfach lebt. Ich sage noch einmal: So leicht bin ich nicht umzubringen.«
Bevor Magiere ihn daran hindern konnte, legte er ihr beide Hände auf die Wangen und presste seinen Mund auf den ihren.
Magiere versteifte sich voller Abscheu, als sie glaubte, erneut das Blut zu schmecken, das er ihr in jener Nacht gegeben hatte. Aber dieser Geschmack verschwand schnell.
Leesils Mund war warm und weich, und hinter dem Durcheinander aus Furcht und Kummer fühlte Magiere einen weiteren Verlust, als er zurückwich.
»Ich werde dich nie verlassen«, flüsterte er. »Aber ich kann nicht in dieser Unentschiedenheit verharren. Du musst eine Entscheidung treffen – für beide von uns, schätze ich, denn du weißt inzwischen, was ich kann und was nicht.«
Ohne ein weiteres Wort kletterte Leesil nach oben und streckte sich müde auf seiner eigenen Pritsche aus.
Es dauerte eine Weile, bis Magiere sich hinlegte, in einem Strudel aus Emotionen gefangen. Chap lag still auf dem Boden, hob gelegentlich den Kopf und sah sie an.
Irgendwann während der Nacht schlief Magiere ein, aber erst als sie Leesils beruhigend regelmäßigen Atem hörte.