10

Der Morgen dämmerte, aber Magiere und Leesil saßen noch immer auf dem Bett, neben dem schlafenden Chap. Sie sprachen über Vergangenheit und Gegenwart, auch darüber, wie sie den Adligen aus Magieres Vision finden konnten. Trotz all der Dinge, die in dieser Nacht geschehen waren, reagierte Magiere nicht mit Bestürzung auf Leesils Beichte. Die offensichtlichen Schuldgefühle in Hinsicht auf sein früheres Leben weckten in ihr den Wunsch, ihn zu trösten, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Einige seiner Worte hallten in ihr nach.

Bis ich dir begegnete und wir mit einer ganz neuen Runde des Tötens begannen.

Schuld war ein Gefühl, das Magiere nur selten belastet hatte, aber in den vergangenen beiden Monaten war sie oft genug davon heimgesucht worden. Vielleicht schuf das eine Verbindung zwischen ihnen, obwohl sich ein Teil von ihr vor einer engeren Beziehung fürchtete.

»Was macht die Schwellung?«, fragte Magiere und beobachtete Chap.

»Sie ist besser geworden – er erholt sich schnell«, erwiderte Leesil. »Einige Stunden Schlaf und ein ordentliches Frühstück bringen ihn wieder auf Vordermann. Oh, da fällt mir ein …« Er griff in sein Hemd und holte einen lavendelblauen Fetzen hervor. »Dies hilft uns kaum dabei, deinen Adligen zu finden, aber vielleicht kommen wir damit der missratenen Untoten von gestern Abend auf die Schliche. Wenn es eine Verbindung zwischen ihnen gibt – umso besser.«

Magiere sah auf den Stofffetzen hinab und spürte, wie der alte Zorn kurz zurückkehrte, aber diesmal wusste sie, dass er fehl am Platz war.

»Hast du das Luder wirklich nicht als Untote erkannt?«, fragte sie und versuchte, das Gift aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Ich habe sie mir nicht einmal genau genug angesehen, um zu begreifen, dass sie der Beschreibung entsprach«, erwiderte Leesil. »Bis sie auf meinen Schoß sank, und wenige Sekunden später kamst du mit Chap hereingeplatzt.«

Magiere fühlte, wie sie errötete. Sie wollte das Thema wechseln, als es an der Tür klopfte.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, das Frühstück ans Bett bestellt zu haben«, sagte Leesil.

Magiere sah, wie sich seine rechte Hand kurz bewegte, bereit dazu, das Stilett aus der Unterarmscheide gleiten zu lassen. Sie wusste jetzt, wie und wozu er diese Dinge gelernt hatte, und die knappe Bewegung ließ sie innerlich schaudern. Leesil stand auf, öffnete die Tür erst einen Spaltbreit und dann weiter.

Eine junge Frau stand im Flur, gekleidet in einen grauen Umhang. Magiere erinnerte sich daran, dass sie ihr im Rathaus begegnet waren. Ein langer brauner Zopf reichte ihr über die Schulter.

»Entschuldigt bitte, dass ich euch so früh störe«, sagte sie sanft und mit einem Akzent, den Magiere nicht deuten konnte. »Meister Tilswith schickt mich zu euch.«

»Wer bist du?«, fragte Magiere.

»Ich heiße Wynn Hygeorht und bin Lehrling in der Gilde der Weisheit. Mein Lehrer ist Domin Tilswith, der Leiter der hiesigen Gildenniederlassung. Wir wohnen in der alten Kaserne des Innenkreises. Der Domin hat gestern Abend ›Hunde und Füchse‹ mit Ratsmitglied Lanjow gespielt, als sie die Kunde vom Zwischenfall im ›Eschenwald‹ erreichte.«

»Oh, das ging schnell«, murmelte Leesil und wich beiseite, um die junge Frau eintreten zu lassen. »Ich dachte, wir könnten wenigstens frühstücken, bevor man uns darauf anspricht. Wer hat euch davon berichtet? Die Stadtwache?«

»Ja«, antwortete Wynn. Sie sah zum schlafenden Chap, und als sie die Schüssel mit dem Wasser und den nassen Lappen bemerkte, erschien Sorge in ihrem Gesicht. »Ist euer Hund verletzt?«

»Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, wird sich aber davon erholen«, sagte Leesil.

»Vielleicht kann ich helfen. Wir haben viele Arzneien in der Gilde.«

Sie schritt zum Bett, ging daneben in die Hocke und streckte die Hand nach Chap aus. Leesil wollte sie zurückhalten, als der Hund die Augen öffnete, die Schnauze hob und einmal über Wynns Finger leckte, den Kopf dann wieder sinken ließ. Wynn zog die Hand lächelnd zurück.

»Es scheint ihm ganz gut zu gehen«, sagte sie. Dünne Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, und das Lächeln verschwand, als sie aufstand und sich Leesil zuwandte. »Im Rathaus … als ich dich angesprochen habe …«

Sie wirkte verlegen und senkte kurz den Blick, sah Leesil dann wieder an.

Wieder regte sich Zorn in Magiere. Wie viele seltsame Frauen würden Leesil noch schöne Augen machen, bevor sie diese verdammte Stadt verließen?

»Ich war überrascht, dass du nicht Elfisch sprichst«, sagte Wynn. »Aber dein Vater und deine Mutter … einer von ihnen stammt aus jenem Volk, nicht wahr?«

»Man hat mich nie Elfisch gelehrt«, erwiderte Leesil knapp.

Wynn wirkte erneut verlegen und dann verwirrt.

»Ich verstehe. Ich habe nur gesagt, wie prächtig der Hund ist und zu welcher Rasse er wohl gehört, denn ein Tier wie ihn habe ich nie zuvor gesehen.«

Leesil zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter gab ihn mir als Welpen, als ich ein Junge war.«

»Deine Mutter war Elfin?«, fragte Wynn.

»Ja.« Leesil beugte sich vor und streichelte Chap am Rücken. »Wahrscheinlich ist er nur eine Promenadenmischung. Ein Halbblut ist bekanntlich besonders klug.«

Chap drehte den Kopf zur Seite, als Leesil ihn berührte, und suchte nach einer bequemeren Position auf dem Bett.

»In Miiska gab es einen seltsamen Burschen, der ihn Maya-hì nannte«, fügte Leesil hinzu.

Das weckte Wynns Interesse. »Maya-hì?«, wiederholte sie und betonte die Silben anders.

»Ja, so klingt es richtig.«

»Vielleicht ein umgangssprachlicher Ausdruck oder ein regionaler Spitzname für diese Rasse.« Sie schüttelte den Kopf und schien die Sache für kurios zu halten. »In dem mir bekannten Elfendialekt bedeutet es so viel wie ›Elfenhund‹ oder ›Hund der Elemente‹. Er scheint recht umgänglich zu sein.«

»Du musst nicht mit ihm jagen«, sagte Magiere leise. »Wie hat Lanjow auf die Neuigkeiten reagiert?«

Ein Hauch von Missbilligung huschte über Wynns Gesicht, als sie Magiere ansah.

»Ratsmitglied Lanjow war ziemlich durcheinander. Offenbar glaubt er, dass der Mörder seiner Tochter im gemeinen Volk zu finden ist. Er versteht nicht, warum ihr angesehene Mitglieder der Gesellschaft belästigt.«

Magiere stand auf und seufzte. »Hat er erwähnt, uns den Auftrag entziehen zu wollen?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Wynn. »Mein Domin zeigte großes Interesse an dem Zwischenfall. Eine in Seide gekleidete Frau …« Sie zögerte und schluckte. »… zerfetzte einem Wächter allein mit ihren Fingern die Kehle. Und es heißt, dass sich euer Hund der Frau gegenüber sehr aggressiv verhielt und die Gäste verängstigte. Dann ist sie geflohen, und ihr habt sie durch die Gasse verfolgt.«

Magiere fragte sich, was die Besucherin von ihnen wollte.

»Glaubst du an Untote?«, fragte sie.

»Ich habe von solchen Geschöpfen gelesen«, antwortete Wynn höflich. »Allerdings nur in den Legenden meiner Heimat. Die Schilderungen von Ratsmitglied Lanjow haben mich veranlasst, mich mit den Sagen und Überlieferungen dieses Landes zu beschäftigen, obwohl wir erst noch eine richtige Bibliothek schaffen und Texte zusammentragen müssen. In meiner Sprache nennt man sie Àtheldéth, was sich mit dem Begriff Edle Tote in eurer Sprache übersetzen lässt.«

»Also glaubst du daran«, sagte Magiere.

»Sich mit einem Konzept auseinanderzusetzen, bedeutet nicht unbedingt, daran zu glauben«, fuhr Wynn fort. »Domin Tilswith hält Lanjow für abergläubisch, aber inzwischen haben wir mehr erfahren. Die Edlen Toten gelten als höchste Form der Untoten. Im Gegensatz zu den niederen Arten bewahren sie ihr Bewusstsein und alle ihre Erinnerungen an das Leben als Sterbliche. Zu ihnen gehören eure Vampire, die Hohen Wiedergänger in unseren Legenden, gewisse Geister und so weiter.«

»Was ist mit den Methoden, um die Edlen Toten zu vernichten?«, fragte Magiere und brachte das Gespräch auf einen Punkt, der sie interessierte. »Wir kennen die meisten Mythen und abergläubische Annahmen, zum Beispiel einen Pflock ins Herz zu treiben, doch inzwischen zweifeln wir daran.«

Wynn schüttelte den Kopf.

»Bei den meisten Berichten über solche Wesen handelt es sich um Legenden oder erfundene Geschichten. Einige beschreiben, wie Vampire in ihrer Grabstätte gepfählt und geköpft werden. Vielleicht sollte der Pflock die Kreatur festhalten und an der Flucht hindern, und der Aberglauben machte daraus schließlich eine Möglichkeit, sie zu töten. Es gibt keine Möglichkeit, sicher zu sein … falls man solchen Geschichten überhaupt glaubt.«

Magiere schwieg. Ihre Methoden des Kampfes gegen die Untoten hatten sie durch Ausprobieren gefunden, und hinzu kam der Rat des geheimnisvollen Welstiel Massing in Miiska, der den Eindruck erweckt hatte, von den Edlen Toten besessen zu sein. Doch diese junge Frau schien etwas zu wissen und war weitaus offener als Welstiel. Magiere zog einen Stuhl heran.

»Setz dich. Möchtest du Tee? Bestimmt ist schon jemand in der Küche.«

Wynn lächelte und schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht lange bleiben. Nun, der Domin und ich sind an euren Erfahrungen interessiert. Wir bieten euch dafür die Ressourcen der Gilde an, obwohl unsere hiesigen Materialien sehr begrenzt sind im Vergleich mit denen in der Heimat. Ich bin gern bereit, bei der Übersetzung von Dokumenten zu helfen.«

»Wir haben keine Zeit, um Schule zu spielen«, warf Leesil ein. »Und es hilft uns nicht dabei, Spuren zu finden … Es sei denn, du kannst feststellen, welche Häuser vor kurzer Zeit in Bela erworben wurden, ich meine solche der Mittel- beziehungsweise Oberklasse.«

»Solche Informationen sollten zugänglich sein«, sagte Wynn sofort. »Wenn es bei der hiesigen Verwaltung entsprechende Aufzeichnungen gibt.«

Leesil lächelte. »Oh, da bin ich ziemlich sicher.«

»Was hast du vor?«, fragte Magiere.

Leesil setzte sich neben Chap aufs Bett. »Die Frau, die wir gestern Abend verfolgt haben, wies darauf hin, dass sie ein prächtiges zweistöckiges Haus hat. Schetnicks Berichte über sie reichen einige Monde zurück. Es gibt viel altes Geld in der Stadt, woraus ich schließe: Es geschieht vermutlich nicht jeden Tag, dass solche Anwesen verkauft werden.«

Magiere begriff sofort, in welche Richtung Leesils Gedanken gingen.

»Wir stellen fest, welche Häuser in letzter Zeit verkauft worden sind«, sagte sie. »Vielleicht finden wir auf diese Weise das Versteck der Frau – falls sie nicht gelogen hat.« Sie sah Wynn an. »Kannst du uns dabei helfen?«

»Ja, aber zuerst muss ich mit dem Domin sprechen. Er interessiert sich für eure Taten in Miiska und wünscht sich einen Informationsaustausch.«

Magiere fiel etwas ein. »Dieser Domin … War er gestern Abend bei Lanjow? Der Vorsitzende des Stadtrats hat uns gesagt, dass er nie Besucher empfängt.«

»Oh, Domin Tilswith geht gelegentlich zu Lanjow, um mit ihm ›Hunde und Füchse‹ zu spielen. Aber ich glaube, von anderen Besuchern hält Graf Lanjow nichts.«

Magiere sah zu Leesil und stellte fest, dass er die Stirn runzelte.

»Wie sieht Domin Tilswith aus?«, fragte sie. »Ist er ein Adliger? Trägt er schwarze Handschuhe?«

Wynn lachte. »Nein, er kleidet sich wie ich. Warum fragst du?«

»Wir glauben, Chesna kannte ihren Mörder«, antwortete Leesil. »Wenn also nur der Domin zu Besuch kommt und er nicht der Beschreibung entspricht … Wie hat Chesna dann jenen Mann kennengelernt?«

Das machte die junge Frau nachdenklich.

»Die meisten Adligen, mit denen Graf Lanjow bekannt ist, haben wie er einen Sitz im Stadtrat. Vielleicht hat ihn seine Tochter ins Rathaus oder zur Bank begleitet.«

Die Dinge entwickelten sich in eine neue Richtung, und Unruhe regte sich in Magiere. Diese junge Gelehrte war offen und unbefangen, und sie schien keine verborgenen Absichten zu haben. Es mochte sich lohnen, sie in der Nähe zu haben.

»Richte deinem Domin aus, dass wir gern mit ihm sprechen würden«, sagte Magiere und wandte sich dann an Leesil. »Wir sollten ein wenig schlafen und dann Lanjow in seiner Bank besuchen.«

Leesil nickte und stand auf, um die Tür für Wynn zu öffnen.

Magiere wartete und wollte die Sache mit Leesil besprechen, sobald die junge Frau gegangen war. Als sich die Tür schloss, bemerkte sie, wie Wynn Hygeorht noch einmal zurücksah. Zuerst dachte Magiere, dass ihre Aufmerksamkeit Leesil galt, und wieder prickelte Zorn in ihr. Doch stattdessen glitt Wynns Blick zum schlafenden Hund auf dem Bett.

Nach einer zu kurzen Ruhepause stellte Leesil fest, dass es bei ihren Plänen zu einer kleinen Veränderung kam. Hauptmann Schetnick hatte beim Wirt des Gasthofes eine Nachricht für Magiere hinterlassen. Sie lautete schlicht: Ich muss mit dir über den Zwischenfall im »Eschenwald« reden.

Sie entschieden gemeinsam, jenes Treffen so lange wie möglich hinauszuschieben. Leesil wollte herausfinden, wie weit der Schmied mit seinen neuen Waffen war, und Magiere beabsichtigte, die Gilde der Weisheit zu besuchen und Wynn möglichst viele Informationen in Hinsicht auf die Art des gesuchten Gebäudes zu geben. Ganz oben auf der Liste standen Häuser aus Stein mit Kellern. Leesil fand, dass sich Magiere zu sehr über die Bereitschaft der jungen Frau freute, ihnen zu helfen. Wynn konnte sich als nützlich erweisen, aber sie wussten nichts über die angeblichen Gelehrten von jenseits des Ozeans.

Leesil vereinbarte mit Magiere, dass sie sich mittags in Lanjows Bank treffen würden, und dann machte er sich auf den Weg zu Balgaví, mit Chap an seiner Seite. Als sie sich der Schmiede näherten und der Hund den Geruch von Feuer und Metall wahrnahm, lief er voraus.

Leesil trat ein, und ein plötzliches Zischen aus der Werkstatt begrüßte ihn. Überrascht stellte er fest, dass Chap an der westlichen Wand entlangtänzelte. Waffen aller Art hingen dort – Speere, Schwerter und sogar einige Streitkolben –, und der Hund schien entschlossen zu sein, jede von ihnen zu beschnüffeln. Der bärgroße Schmied mit seiner ledernen Schürze beobachtete den Hund und sah dann Leesil an, doch es zeigte sich kein Ärger in seinem Gesicht. Stattdessen lächelte er.

»Gehört er dir? Ist er ein Jagdhund?«

»Etwas in der Art«, sagte Leesil. »Chap! Lass das und komm her.«

»Er scheint sich mit Waffen auszukennen«, brummte der Schmied anerkennend. »Sieh nur, er läuft immer wieder zur Saufeder. Damit könnte man einen ausgewachsenen Stier aufspießen.«

»Komm her, Chap!«, wiederholte Leesil.

Manchmal war Chaps Präsenz ein Segen, und bei anderen Gelegenheiten konnte das Verhalten des Hunds peinlich sein. Chap gehorchte, aber auf dem Weg zu Leesil beschnüffelte er alles, sah dann zum Schmied auf und wedelte mit dem Schwanz.

»Prächtiges Tier, ziemlich groß«, sagte Balgaví. »Ein solches Fell habe ich nie zuvor gesehen. Mein Vater hielt sich Wolfshunde, aber ihr Fell wurde struppig und rau, als sie heranwuchsen. Zu welcher Rasse gehört er?«

»Keine Ahnung, er war ein Geschenk«, erwiderte Leesil kühl. »Sind meine Waffen fertig?«

Balgaví stutzte, als er den Ton hörte. »Eine ja. An der anderen arbeiten wir noch.«

»Du hast von einigen Tagen gesprochen«, erwiderte Leesil scharf. »Das Stilett, das ich dir gegeben habe, ist zehnmal so viel wert wie die in Auftrag gegebenen Klingen.«

Ein Schatten fiel auf das schweißfeuchte Gesicht des Schmieds, und er drehte sich abrupt um, ging zum Arbeitstisch und nahm dort ein seltsames, schaufelartiges Objekt, das in einer Scheide steckte.

»Zwei Gesellen haben allein hieran gearbeitet. Wenn du in zwei Tagen etwas Besseres findest, so kannst du dein Stilett gern zurückhaben.«

Balgaví zog die Klinge aus der Scheide und reichte sie Leesil.

Der nahm sie entgegen und betrachtete sie aufmerksam. Das vordere Ende war wie ein flacher Spaten geformt und verjüngte sich ganz vorn. Auf der anderen Seite zeigte sich eine quergerichtete ovale Öffnung, die es erlaubte, die Klinge von hinten zu ergreifen und damit zuzuschlagen. Das Teil hinter dem Oval war der Griff, in Leder gehüllt. Wenn man die Waffe dort hielt, reichte die Außenkante der Klinge am ganzen Unterarm entlang und endete dicht unter dem Ellenbogen.

Leesil ergriff sie und schwang langsam den Arm.

Die Waffe war schwerer als erwartet, was einen Geschwindigkeitsverlust bedeutete. Zwei kleine, kurze Klingen boten ein Mehr an Agilität, doch dies hier entsprach genau seinen Vorstellungen.

Chap wedelte mit dem Schwanz, bellte und sah zu Leesil auf. Balgaví beobachtete sie beide neugierig, und sein Ärger verflog.

»Wogegen willst du damit kämpfen?«

Leesil begriff, dass er unfreundlich gewesen war, und er änderte seine Manieren.

»Du würdest es mir nicht glauben. Aber dies ist genau das, was ich mir erhofft habe. Wie lange brauchst du für die andere Klinge?«

»Noch einmal zwei Tage, schätze ich. Du hast erwähnt, dass du in der ›Klette‹ wohnst. Vàtz kommt oft genug vorbei; er gibt dir Bescheid, wenn die zweite Waffe fertig ist.«

Leesil nickte. »Danke.«

Er stieß den Arm nach vorn und rammte die Klinge in den Hals eines imaginären Gegners.

Magiere ging vor der Bank auf und ab. Es überraschte sie nicht, dass sich Leesil verspätete – sein Zeitgefühl war ausgesprochen variabel. Ihr Ärger wuchs immer mehr, als schließlich eine kleine Kutsche hielt und Leesil ausstieg, begleitet von einem recht zufrieden wirkenden Chap.

»Entschuldige«, sagte Leesil. »Eine meiner beiden Waffen war fertig, und ich habe sie zum Gasthof gebracht. Ich dachte mir, dass ich sie besser nicht tragen sollte, da Lanjow schon nervös genug ist.«

Einige Passanten warfen ihnen argwöhnische Blicke zu, und Magiere begriff, dass sie nicht nur Lanjow nervös machten. Leesil trug ein dunkelrotes Kopftuch.

»Ich dachte, du wolltest darauf verzichten«, sagte Magiere.

Leesil zuckte mit den Schultern. »Angewohnheit. An den Augen lässt sich nichts ändern, aber das Haar und die Ohren verraten mich schon von Weitem.«

Magiere drehte sich zum Eingang der Bank um. »Wir passen nicht in diesen Teil der Stadt. Wir könnten auch dein Gesicht bedecken – die Leute würden uns trotzdem anstarren. Ich vermisse Miiska.«

»Wir kehren bald nach Hause zurück«, sagte Leesil, aber seine Worte brachten keinen Trost.

Das Innere der Bank wirkte nicht ganz so eindrucksvoll wie der Rathaussaal, aber der Boden bestand aus geschliffenem Granit, und zwei dünne Säulen aus dem gleichen Stein säumten den Eingang – sie stützten nicht, sondern dienten allein der Zierde. Einige uniformierte, bewaffnete Männer in grauen Heroldsröcken standen an den Seitenwänden. Rechts erstreckte sich ein erhöhter Bereich, und dort saßen Angestellte hinter einem Tresen aus poliertem Kirschholz, arbeiteten mit Pergamenten und Federkielen. Auf der linken Seite bemerkte Magiere einen ähnlich beschaffenen brusthohen Tresen, und dahinter saß der geckenhafte Stadtratssekretär Doviak an einem Schreibtisch.

Lanjow widmete sich hauptsächlich der Bank, und für jemanden wie ihn war es nur angemessen, Mitglied des Stadtrats zu sein. Für Doviak bedeutete das: Seine Tätigkeit als Sekretär betraf sowohl die Bank als auch den Stadtrat.

Der dünne, kleine Mann sah auf, und Ungläubigkeit verwandelte sich in Kummer, als er Magieres Blick begegnete. Er eilte um den Tresen herum, und seine Schuhe klackten dabei auf dem Boden.

»Fräulein Magiere … ich … Wie kann ich dir helfen?«

Magiere zögerte, als sie den kaum verhohlenen Abscheu in der Stimme des Sekretärs hörte. Im Rathaus war sie als »Dhampir« vorgestellt worden und hatte wie früher versucht, für eine Gemeinschaft verantwortliche Personen davon zu überzeugen, dass nur sie Rettung bringen konnte. In dieser feinen Umgebung fühlte sie sich so fehl am Platz wie ein Bauer unter Adligen. Magiere erinnerte sich an das Misstrauen und den Hass in ihrem Heimatdorf, und plötzlich steckte sie voller Ungewissheit.

Leesil schien ihre Anspannung zu spüren und trat vor.

»Wir sind gekommen, um mit Ratsmitglied Lanjow zu sprechen.«

Doviaks gelocktes Haar schwang nach vorn, als er vorgab, einen prüfenden Blick in das Merkbuch zu werfen, das er mitgebracht hatte.

»Oh, heute hat er den ganzen Tag über zu tun. Wenn ihr einen Termin für einen anderen Tag vereinbaren wollt …«

»Dies dauert nicht lange«, unterbrach Leesil den Sekretär. Sein freundliches, gewinnendes Gebaren verschwand. »Wir sprechen jetzt mit ihm.«

Wenn Leesils Stimme einen drohenden Klang gewann, wichen die meisten Leute zurück, was Magiere ein wenig seltsam erschien, denn er war weder groß noch imposant. Doviak hingegen straffte die Gestalt und hob den Kopf – entweder war er tapfer oder sehr dumm.

»Niemand, nicht einmal der König, würde erwarten, Ratsmitglied Lanjow ohne eine Terminvereinbarung zu sprechen«, sagte Doviak kühl. »Er dient der Stadt und plant weit im Voraus.«

Leesil lächelte und trat einen Schritt vor.

»Ich bin nicht der König, du kleiner Stutzer. Man hat mich beauftragt, in einem Mordfall zu ermitteln. Wo warst du an dem Abend, als Chesna getötet wurde?«

Doviak stotterte und hob zwei Finger zum Mund. Dann ließ er die Hand sinken und rief: »Wachen!«

Magiere ergriff Leesil an der Schulter, und sie tauschten die Rollen – diesmal hielt sie ihn zurück. Die freie Hand hob sie zu einer versöhnlichen Geste.

»Nichts für ungut. Wir möchten nur …«

»Was ist hier los?«, erklang eine tiefe Stimme.

Als sich die grau gekleideten Wächter von allen Seiten des Raums näherten, trat Lanjow durch eine Seitentür.

»Schon besser«, brummte Leesil zufrieden.

Über den Tresen hinweg blickte Lanjow durch den Raum. Sein Blick verharrte auf dem Sekretär und den beiden Neuankömmlingen. Er presste kurz die Lippen zusammen, winkte die Wächter zurück und trat den beiden Besuchern entgegen.

»Fräulein Magiere«, grüßte er mit kühler Freundlichkeit. »Was machst du in meiner Bank?«

»Wir bitten um Entschuldigung«, erwiderte sie und hätte lieber etwas anderes gesagt. »Wir müssen dringend mit dir reden. Es geht um … die Situation.«

Bevor Lanjow antworten konnte, erschien eine zweite Gestalt in der Tür. Lord Au’shiyn, der sumanische Händler, der sich bei der Versammlung im Ratshaus gegen ihre Präsenz ausgesprochen hatte, kam hinter dem Tresen hervor und trat neben Lanjow. Er trug einen bodenlangen, vorn offenen, rostroten Umhang und auf dem Kopf einen beigefarbenen Turban. An seinem weißen Hemd bildeten Satinstickereien seltsam geschwungene und ineinander verschlungene Muster.

»Ah, die Dhampir«, sagte er. »Bist du wegen einer Einzahlung hier? Oder möchtest du vielleicht Geld abheben?«

Die letzte Person, mit der sich Magiere auf ein Wortgefecht einlassen wollte, war dieser arrogante Fremde. Sie schenkte Au’shiyn keine Beachtung und wandte sich an Lanjow.

»Es dauert nicht lange.«

Chap knurrte leise, und Leesil verschränkte langsam die Arme. Magiere wusste, dass die Blicke aller Anwesenden auf sie gerichtet waren, und sie verabscheute es, so sehr im Mittelpunkt zu stehen. Lanjow hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder bat er Leesil und sie in sein Büro, oder er ließ sie von den Wächtern nach draußen begleiten. Letzteres bedeutete, dass es zu einer Szene kommen würde, und ein Mann wie Lanjow mochte keine Szenen.

Er rang sich ein Lächeln ab und deutete zu seinem Büro. »Natürlich. Bitte kommt mit.«

Magiere schob alle Zweifel beiseite und ging an Lanjow und Au’shiyn vorbei zur offenen Tür. Leesil und Chap folgten ihr.

Lanjows Büro war schmucklos im Vergleich mit seinem Wohnzimmer daheim. Eine schlichte burgunderrote Gardine hing vor dem einen Fenster zur Straße, draußen mit schweren Fensterläden und drinnen mit Eisenstangen versehen. An der einen Wand zogen sich Bücherregale entlang, und auf der anderen Seite stand ein recht massiv wirkender Schreibtisch.

Magiere stellte überrascht fest, dass Au’shiyn Lanjow ins Zimmer folgte und die Tür schloss.

»Euch wird Zeit erübrigt, die eigentlich mir zusteht, denn ich habe diesen Termin vereinbart«, sagte der Sumaner. »Außerdem ist dies eine Angelegenheit des Rates, und ich bin Ratsmitglied.«

Lanjow schien Einwände erheben zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Müde nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz.

»Was habt ihr auf dem Herzen?«, wandte er sich an Magiere und Leesil.

»Wir sind inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder ein Adliger ist oder sich als solcher ausgibt«, sagte Magiere. »Und ich glaube, deine Tochter kannte ihn. Wie wir hörten, ist Domin Tilswith ein regelmäßiger Gast bei dir zu Hause. Er entspricht nicht der Beschreibung, was vielleicht bedeutet, dass Chesna ihren Mörder woanders kennengelernt hat. Du hast gesagt, dass sie nur selten ausging, und ich nehme an, die meisten Leute, die du gut kennst, gehören entweder zum Stadtrat oder sind Geschäftspartner. Da der Mörder ein Untoter ist, kann er nicht tagsüber unterwegs sein. Das schränkt die Anzahl der möglichen Kandidaten erheblich ein. Kennst du jemanden, der Besprechungen am Abend vorzieht und Begegnungen morgens oder nachmittags vermeidet?«

Natürlich hatte Magiere nur ihre Vision und keine konkreten Beweise, aber hier kam es in erster Linie darauf an, überzeugend zu klingen.

»Du hast mit Domin Tilswith gesprochen?«, fragte Lanjow überrascht.

»Das ist unerhört!«, warf Au’shiyn ein. »Chesnas Mörder war kein Adliger, und ihr werdet weder Ratsmitglieder noch Kunden dieser Bank belästigen. Der Rat hat mit dem Vorsitzenden Lanjow Geduld gehabt, weil er seine Tochter verlor, aber dies muss sofort aufhören. Habt ihr verstanden?«

Bevor Magiere Gelegenheit bekam, einige scharfe Worte an Au’shiyn zu richten, brummte Leesil abfällig und verschränkte erneut die Arme. Er sah Lanjow an und sprach zu ihm.

»Kann Chesna im Rathaus oder über die Bank jemanden kennengelernt haben, auf den die Beschreibung passt?«

Lanjow senkte den Kopf. Er tat Magiere fast leid – fast.

»An manchen Abenden begleitete sie mich und las mir die Berichte für den nächsten Tag laut vor – manchmal werden meine Augen müde, und gewisse Dinge dürfen das Rathaus nicht verlassen. Aber sie leistete mir die ganze Zeit über Gesellschaft, und bei den wenigen Männern, denen sie begegnete, handelte es sich ausschließlich um richtige Gentlemen.«

»Die zufälligerweise ebenfalls abends im Rathaus waren«, sagte Magiere und gab deutlich zu verstehen, wie sie das meinte. »Bitte nenn uns ihre Namen.«

»Kommt nicht infrage!«, donnerte Au’shiyn. Es schien ihm gleich zu sein, dass man ihn auch außerhalb des Büros hörte. »Schluss damit. Ich werde nicht zulassen, dass Ratsmitglieder von deinesgleichen behelligt werden. Geht jetzt, oder ich rufe die Wächter und lasse euch hinauswerfen.«

Magiere musterte ihn stumm. War Au’shiyn wirklich so arrogant, oder verbarg er etwas? Vielleicht beides. Sein Zorn ging weit über Aufgeblasenheit hinaus.

Chap jaulte und lief zur Tür. Magiere teilte die Empfindungen des Hunds und sah noch einmal Lanjow an.

»Wenn du Chesnas Mörder finden willst, so hilf uns. Wenn nicht … Dann such dir jemand anders, der bereit ist, seine Zeit zu vergeuden. Du weißt, wo du uns erreichen kannst.«

Sie winkte Leesil zu, drehte sich um und ging.