9
Ein langes Heulen kam aus der Ferne, und Torets Finger bohrten sich in den Sitz der Kutsche. Der Schrei weckte Erinnerungen.
Er war vor dem Halbblut und der Dhampir durch den Wald außerhalb von Miiska geflohen. Ein silbergrauer Hund hatte die Jagd angeführt – kein anderes Tier heulte auf diese Weise.
Saphir war allein dort draußen. Und bestimmt hatte der Hund es auf sie abgesehen.
»Anhalten!«, rief er dem Kutscher zu.
Er sprang hinaus aufs Kopfsteinpflaster, lief los und hörte, wie ihm Chane folgte. Sie stürmten durch Straßen und Gassen, schneller als jede Kutsche, und näherten sich dem »Eschenwald«, doch die Schreie des Tiers schienen aus mehreren Richtungen zu kommen.
»Wohin?«, fragte Toret.
Chane schloss die Augen, um zu lauschen, doch das Heulen hatte aufgehört.
»Chane!«, drängte Toret. Hilflosigkeit und Zorn stiegen in ihm auf.
»Ich höre nichts. Sie ließ sich zum ›Eschenwald‹ fahren. Dort beginnen wir mit der Suche.«
»Du ahnst nicht, wozu der Hund imstande ist«, sagte Toret. Er berührte die Narben in seinem Gesicht, als Schuld und Furcht seine Gedanken verwirrten. »Saphir weiß überhaupt nicht, was los ist. Ich habe sie nicht einmal gewarnt.«
»Wir finden sie«, erwiderte Chane. »Aber wir müssen langsam vorgehen. Feine Herren erregen keine Aufmerksamkeit, indem sie durch die Straßen rennen. Saphir versucht bestimmt, im Verborgenen zu bleiben, und das bedeutet: Sie nimmt Nebenwege und Gassen.«
»Nein!«, rief Toret. »Sie könnte in eine Sackgasse geraten oder in einem Bereich gestellt werden, wo sie nicht genug Bewegungsfreiheit hat.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es klug ist«, sagte Chane, streckte die Hand aus und zog Toret zurück. »Es ist etwas, das sie tun würde.«
Für einen Moment klang Chane so sehr wie Rashed, dass Toret Groll empfand. Immer so berechnend, konzentriert und kühl. Fühlte Chane überhaupt etwas? Toret wusste: Trotz seiner Unsterblichkeit und Cleverness würde er nie so groß und eindrucksvoll sein wie Rashed oder Chane. Aber er hatte Saphir, die ihn liebte und brauchte, und jetzt war sie in Gefahr.
Toret wollte weiterlaufen, doch Chane hielt ihn an der Schulter fest, und dadurch reduzierte sich seine Geschwindigkeit auf die von schnellem Gehen. Er sah in jede Seitenstraße und Gasse, eilte dann zur nächsten.
»Warte.« Chanes Hand schloss sich fester um seine Schulter. »Spürst du sie?«
Toret blieb stehen und suchte nach Hinweisen auf Saphirs Präsenz. Wenn er sie weit öffnete, waren seine Sinne empfindlicher als die der meisten seiner Artgenossen. Und er hatte Saphir zur Untoten gemacht, sollte also in der Lage sein, sie zu fühlen, wenn sie sich in der Nähe befand.
»Nichts«, sagte Toret. »Man könnte meinen, sie …« Er sah Chane an und brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.
Sein Diener sah sich rasch um, und auch sein Gesicht zeigte Verwirrung. Die geistigen Fähigkeiten von Chane und Saphir kamen denen von Rashed und Teesha nicht einmal nahe. Doch dafür verfügte Chane über andere Fähigkeiten.
»Hol deinen verdammten Vogel!«, befahl Toret. »Finde sie.«
Chane schloss erneut die Augen und stand still wie eine Statue am Straßenrand.
»Beeil dich!«, trieb Toret seinen Diener an.
»Sei still«, sagte Chane. Einige Sekunden später zuckten seine Lider nach oben, und er zog das Schwert.
»Hast du sie gefunden?«
»Vielleicht.« Er wandte sich der nächsten Nebenstraße zu und begann zu laufen.
Toret folgte ihm, so zornig, dass er nach Blut gierte. Er wollte den Halbelf und die Dhampir finden, oder den Hund, der versuchte, Saphir zu erreichen – dann hätte er seine Wut an etwas auslassen können. Als sie an einer Gasse vorbeikamen, hörte er ein Schluchzen und schlurfende Schritte.
»Hier!«, rief er, und es war ihm gleich, wer ihn hörte.
Er rannte durch die Gasse, und hinter ihm machte Chane kehrt und schloss zu ihm auf. Abfälle, Kisten und andere Dinge lagen in dem schmalen Durchgang. Toret wich den Hindernissen aus oder trat sie beiseite.
Rechts wankte ein Schemen. Was Toret sah, entlockte ihm ein Stöhnen.
Saphir taumelte an der Mauer entlang, stützte sich dabei mit den Händen ab. Blut bedeckte die eine Hand. Vom rechten Ärmel ihres Kleids war ein Stück abgeschnitten. Eigenes Blut tropfte aus einer Schnittwunde am Handgelenk, rann auch aus dem Mund über Kinn und Kehle, bildete dunkle Flecken auf dem Oberteil des Gewands.
Doch das war noch nicht das Schlimmste. Ein langes, gesplittertes Stück Holz ragte mitten aus ihrer Brust. Saphirs Gesicht zeigte eine Mischung aus Furcht und Verwirrung.
Toret eilte zu ihr und ergriff sie an den Schultern, als sie zusammenbrach. Langsam ließ er sie zu Boden sinken.
»Saphir! Bleib bei mir!«, befahl er mit scharfer Stimme. »Chane!«
Der große Mann kniete bereits neben ihm und richtete einen kühlen Blick auf das Stück Holz in Saphirs Brust. Die Frau wollte etwas sagen, aber es kam nur ein gurgelnder Laut von ihren Lippen.
»Noch einmal«, drängte Toret. »Sag es noch einmal, langsam.« Er beobachtete den Mund und versuchte, die Worte von den Lippen zu lesen.
Bekomme es nicht heraus.
Toret griff nach dem Holz.
»Nein«, sagte Chane, griff nach seiner Hand und zog sie zurück. »Sie ist sehr schwach.« Er zögerte. »Das Ding steckt in ihrem Herzen.«
Panik erfasste Toret. »Ich will sie nicht verlieren!«
»Sie bewegt sich noch«, flüsterte Chane verwundert. »Ein Pflock im Herzen sollte für jemanden von uns das Ende bedeuten.«
Helft mir, flehten Saphirs Lippen.
»Was soll ich tun?«, jammerte Toret.
Sein Entsetzen wuchs, als Chane einfach nur nachdenklich dastand.
»Schneid dein Handgelenk auf«, sagte Chane. »Gib ihr zu trinken, wenn ich das Stück Holz herausziehe. Unser Blut enthält kein Leben, aber vielleicht bewahrt es ihre Existenz, bis wir wieder zu Hause sind. Dann müssen wir ihr schnellstens das Blut eines Sterblichen besorgen.«
Toret zögerte. »Ich habe seit Tagen keine Nahrung aufgenommen. Ich … kann ihr nichts geben und ziehe den Pflock.«
Chane richtete sich abrupt auf, und sein Gesicht zeigte fast so etwas wie Verachtung, gewann aber sofort wieder einen neutralen Ausdruck. Er setzte die scharfe Kante des Schwerts an sein Handgelenk und schnitt tief, woraufhin sein Blut aus der Wunde quoll und auf den Boden tropfte. Er ließ das Schwert fallen und presste das Handgelenk an Saphirs Mund.
»Trink«, forderte er sie auf. Und zu Toret: »Jetzt.«
Toret zerrte das Stück Holz aus der Wunde und schnitt eine Grimasse, als der Pflock mit dumpfem Knirschen über Knochen schabte. Saphir riss die Augen auf, und ihr Mund öffnete sich weit wie zu einem Schrei, aber Chane presste ihr noch immer das Handgelenk an die Lippen.
»Sei still und trink!«, befahl er.
Seine Worte erreichten Saphir schließlich, und sie biss ins Handgelenk und trank. Chanes Oberlippe zitterte einmal, aber er ließ alles mit sich geschehen, ohne zusammenzuzucken oder zu stöhnen. Toret fühlte einen seltsamen Anflug von Dankbarkeit und schämte sich dafür.
Es drang weniger dunkle Flüssigkeit aus der großen Wunde in Saphirs Brust, und schließlich hörte die Blutung ganz auf. Chane legte der Frau die freie Hand auf die Stirn und riss die andere aus ihrem Mund.
»Mehr!«, heulte sie.
»Nein«, sagte Toret. »Wir müssen nach Hause zurück. Dort bringe ich dir Leben.«
Saphir packte Torets Schultern und schnappte nach seiner Kehle, aber er hielt sie fest, bis sie sich beruhigte, dann einfach nur noch in seinen Armen lag und zuckte.
Chane riss einen Streifen Seide von Saphirs Gewand ab und wickelte ihn sich ums Handgelenk. Dann trennte er noch mehr Stoff ab, um Saphirs Brustwunde zu verbinden.
»Ich beschaffe uns eine Kutsche«, sagte er. »Wir müssen verhindern, dass jemand sie sieht.«
Ohne ein weiteres Wort eilte er durch die schmale Gasse.
Toret wiegte Saphir sanft in den Armen und verstand zum ersten Mal, wie sich Rashed gefühlt und warum er sich geweigert hatte, Miiska zu verlassen.
»Es wird alles gut«, flüsterte er. »Bald bist du wieder zu Hause.«
Er würde nicht warten, bis die Jägerin und ihre Helfer erneut einen von ihnen allein fanden. Toret beschloss, sie zuerst zu finden.
»Ich habe ihr Herz durchbohrt«, sagte Magiere leise.
Leesil beobachtete, wie sie in seinem Zimmer in der »Klette« umherging. Ihr Falchion lehnte in der Ecke. Leesil hatte mit Chap in der Kutsche gewartet, als Magiere in den »Eschenwald« zurückgekehrt war, um ihr Schwert zu holen. Früher oder später würden sie für das, was in dieser Nacht geschehen war, schwer eins aufs Dach bekommen, aber nach Leesils Meinung konnte das kaum schlimmer sein als Magiere in ihrem gegenwärtigen Zustand.
»Das Balkenstück hat ihr Herz durchdrungen«, betonte sie, und ihre Hände bewegten sich so, als fühlte sie das Holz zwischen ihnen.
»Ich weiß«, sagte Leesil. »Ich habe es gesehen.«
Chap lag auf dem Bett, während sich Leesils Gedanken mit den Dingen beschäftigten, die geschehen waren – und die nicht geschehen waren, wie es schien. Wenigstens kam seine Idiotie im »Eschenwald« nicht zur Sprache. Behutsam tastete Leesil durch Chaps Fell und suchte nach Verletzungen. Der Hund blutete nicht, aber nach einem so harten Schlag konnten sie es ihm nicht zumuten, noch in dieser Nacht einer Fährte zu folgen; deshalb waren sie zum Gasthof zurückgekehrt. Auf dem kleinen Tisch neben Magieres Schwert standen zwei brennende Kerzen und eine Blechschüssel mit Wasser, die sie sich vom Wirt besorgt hatten.
Leesil deutete auf die Schüssel. »Bitte gib sie mir.«
Magiere unterbrach ihre Überlegungen, reichte ihm die Schüssel und nahm auf der anderen Seite des Bettes Platz. Leesil tauchte ein zusammengefaltetes Tuch ins Wasser und legte es dann als kühle Kompresse auf Chaps Kopf.
»Wie konnte die Untote entkommen?«, fragte Magiere.
Leesil schüttelte den Kopf. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Du hast das Herz verfehlt.«
»Das habe ich nicht.«
»Dann … Nun, es geschähe nicht zum ersten Mal, dass sich solche Dinge als Aberglauben erweisen.«
»Na schön«, brummte Magiere. »Also zurück zum Kopfabhacken.«
»Und zu Asche«, fügte Leesil hinzu.
»Komm bloß nicht auf dumme Gedanken«, warnte Magiere.
Angespannte Stille folgte, und Leesil fragte sich, ob Magiere ihren Zorn jetzt auf ihn richtete. Stumm saß sie da und beobachtete, wie er die Kompresse auf Chaps Kopf erneuerte.
»Außerdem würde Asche dem Stadtrat nichts beweisen«, fuhr sie fort. »Wir haben nichts, womit wir die Ereignisse von heute Abend beweisen könnten. Es gibt keine Möglichkeit, der Untoten zu folgen, es sei denn, Chap erholt sich schnell und nimmt die Fährte auf. Und selbst das dürfte schwer werden, denn ich habe nichts, an dem er riechen könnte.«
Leesil zögerte. »Ich schon.«
Magiere presste die Lippen zusammen, sah ihn aber nicht an.
»Nun, du hattest mehr Gelegenheit als ich, etwas an dich zu bringen, oder?« In Magieres Stimme gab es einen kühlen Unterton. »Vielleicht sollten wir auf diese Weise jagen. Wir schicken dich ins nächste Bordell mit einem Kartentisch und einem Becher Wein und warten einfach, bis das erste untote Luder auf deinen Schoß sinkt.«
Leesil versuchte, nicht zusammenzuzucken. Er biss sich sogar auf die Zunge und wusste: Was auch immer er sagen würde, es wäre nur Öl für das Feuer von Magieres Zorn gewesen. Abgesehen davon … Er wusste gar nicht, was er sagen sollte.
Er fühlte sich so, als wäre er untreu gewesen, und das erschien ihm absurd. Was auch immer er versuchte hatte, um Magiere näherzukommen, war ohne Erfolg geblieben. Immer wieder hatte sie ihn zurückgewiesen. Warum also sollte er sich schuldig fühlen? Seine Gedanken kehrten zu Wein und Karten zurück … Aber er war nicht betrunken, und er hatte kein Geld verloren, und damit blieb nur eine Sache, wegen der er sich schämen musste, obwohl ihn überhaupt keine Schuld traf. An solche Dinge hatte er nicht einmal gedacht, seit sie in Miiska wohnten.
Er dachte nur an Magiere.
Was für Leesil besonders ärgerlich und verwirrend war: An diesem Abend war viel geschehen, aber Magieres Zorn galt vor allem dem Umstand, dass die Untote auf seinem Schoß gesessen hatte.
Ein tiefes Seufzen von Magiere weckte Leesils Aufmerksamkeit. Als er den Blick zu ihr hob, betrachtete sie sein weißblondes Haar, das offen auf die Schultern fiel.
»Du hast dein Kopftuch verloren«, sagte sie. »Wir müssen dir ein neues besorgen.«
Leesil griff in die Tasche, holte eine Handvoll Münzen hervor und legte sie aufs Bett.
»Hier. Ich habe den größten Teil des Geldes zurückgewonnen, den mir die Matrosen auf dem Schiff abgeknöpft haben. Ich schätze, das Kopftuch macht da keinen großen Unterschied.«
Es erleichterte ihn, das Thema zu wechseln. Aber als Magiere die Münzen sah, begriff Leesil zu spät, dass er einen weiteren Fehler gemacht hatte. Bevor sie etwas sagen konnte, stieß er hastig hervor:
»Ein Kopftuch verbirgt weder meine Augen noch die Haut. Offenbar sind die Angehörigen meines Volkes hier eine größere Kuriosität, als ich dachte.«
Magiere wandte den Blick von den Münzen ab. »Die Angehörigen deines Volkes?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete sie und schüttelte so abrupt den Kopf, dass ihr einige Strähnen ihres schwarzen Haars ins blasse Gesicht fielen. »Ich habe nicht vergessen, was du in der Gasse gemacht hast. So etwas lernt man nicht, wenn man einen Monat lang morgens in den Wald geht.«
Leesil sah wieder auf Chap hinab. Dies war nicht das, was er erwartet hatte. Und es war auch nicht der richtige Zeitpunkt. Doch Magiere ließ nicht locker und beugte sich vor.
»Sieh mich an!«, sagte sie scharf. »Wir sind übel dran, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Bisher gab es in meinem Leben nur zwei Gewissheiten, auf die ich mich verlassen konnte: du und Chap. Du hast dich verändert, als wir uns in Miiska niederließen, zum Besseren, aber jetzt … Jetzt verhältst du dich wieder wie der alte Leesil aus unserer Zeit auf der Straße. Vielleicht ist es sogar noch schlimmer mit dir. Du trinkst, spielst und …«
»Und nichts«, warf Leesil ein. »Es war nicht das, wonach es aussah.«
»Es geht mir nicht um das hurenhafte kleine Ungeheuer, von dem du dich hast blenden lassen.«
»Ich war nicht geblendet!«
»Ich will nicht mir dir streiten, es sei denn, du willst unbedingt eine Konfrontation. Sag mir jetzt … Was ist los?«
Leesil biss die Zähne zusammen. Diese Auseinandersetzung wurde richtig schlimm, und der Zeitpunkt machte sie noch schlimmer. Im Vergleich dazu war es fast harmlos, mit einem untoten Flittchen auf dem Schoß erwischt zu werden.
»Ich verspreche dir, dass ich nie wieder Wein anrühre. Ich werde immer klar bei Verstand und wachsam sein. Und es auch bleiben.«
Kerzenschein flackerte über Magieres Gesicht, und Leesil sah, dass diese Antwort nicht genügte. Chap lag zwischen ihnen, war eingeschlafen und schnarchte leise. Leesil setzte die Schüssel mit dem Wasser auf den Boden.
»Ich brauche mehr als irgendwelche Versprechen«, sagte Magiere.
»Wie meinst du das?« Leesil hoffte noch immer auf einen Ausweg aus dieser Situation.
Magiere seufzte. »Ich spreche nicht über meine Vergangenheit, weil es nur wenig zu erzählen gibt und ich kaum etwas sicher weiß.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Aber wenn du danach fragst … Ich wäre bereit, dir Auskunft zu geben und alle deine Fragen zu beantworten. Und deshalb … Warum erzählst du mir nicht von deinem Leben, bevor wir uns trafen?«
»Weil du nichts davon hören möchtest, und weil es keine Rolle mehr spielt.« So schlau und clever er auch sein mochte: Diese Worte klangen falsch, und Magiere schenkte ihnen keine Beachtung.
»Wo hast du gelernt, so zu kämpfen? Was hat es mit deinem rechteckigen Kasten und den seltsamen Objekten darin auf sich, und woher stammt er? Er hat keine Rolle gespielt, weil du ihn bis vor zwei Monden versteckt hast. Jetzt spielt er eine Rolle.«
Leesil schloss die Augen. Wenn er ihr Antworten gab … Was würde sie tun? Konnte sie anders reagieren, als sich von ihm abzuwenden, fortzugehen und nie zurückzublicken?
»Anmaglâhk«, flüsterte er.
»Was bedeutet das?«
»Es ist ein Elfenwort, das meine Mutter benutzte. Ich wusste zunächst nicht, was es damit auf sich hatte, aber schließlich konnte ich seine Bedeutung erraten. Sie benutzte es nur selten für sich selbst und einmal mir gegenüber.«
Magiere sah ihn an und wartete.
»Sie war eine Assassinin«, sagte Leesil monoton. »Wie mein Vater und auch ich.«
Vorsicht – oder war es Abscheu? – verdrängte den Zorn in Magieres Gesicht. Sie sah sich kurz im Zimmer um, als überlegte sie, wo die »seltsamen Objekte« jetzt versteckt sein mochten, blickte dann auf Leesils Arme. Unter den lockeren Ärmeln zeigte sich die Scheide eines Stiletts. Leesil zog langsam die Hände zurück und legte sie in den Schoß.
»Deine Mutter, eine Elfin … Sie hat für Geld gemordet?« Magieres Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Und du ebenfalls?«
»Du kennst die Kriegsländer weit im Norden«, sagte Leesil. »Es sind keine richtigen Länder, sondern Provinzen, deren Herrscher ihre Macht auf militärische Gewalt gründen. Hast du jemals von Lord Darmouth gehört?«
»Ja«, erwiderte Magiere zögernd.
»Meine Familie stand in seinen Diensten. Wir waren seine Sklaven – seine Spione und Assassinen.«
Magiere wandte sich ab und starrte an die Wand.
Leesil fürchtete sich plötzlich, und es gab nur noch wenige Dinge, die Furcht in ihm weckten. Aber er musste dies jetzt zu Ende bringen.
»Herrscher wie Darmouth haben Feinde, nicht nur außerhalb des Landes, sondern auch im Innern. Und selbst wenn es keine Feinde gibt, so existieren sie doch in den Ängsten des Regenten. Ich wurde erzogen, solche Feinde zu eliminieren. Erst fünf Jahre war ich alt, als mich meine Eltern aufs Töten vorbereiteten. Zuerst hielt ich nur einen dünnen Dolch in der Hand, wie ein Schwert, und ich kam mir damit vor wie ein tapferer Krieger. Ich wusste nicht, dass wir Diener waren, die gehorchen mussten. Während der nächsten Jahre fragte ich mich immer öfter nach dem Sinn der Dinge, die mich meine Eltern lehrten, und schließlich verstand ich. Ich verstand es, mich leise und unbemerkt zu bewegen und überzeugend zu lügen. Ich wusste, wen es im Dunkeln zu beobachten galt und an welchen Stellen das Zustoßen mit der Klinge schnellen Tod bringt.«
Magiere musterte ihn über die Schulter hinweg, und Leesil versuchte vergeblich, ihren Gesichtsausdruck zu deuten.
»Der Kasten«, sagte sie. »Die Dinge darin … Es sind Instrumente des Todes?«
Leesil nickte. »Er stammt von meiner Mutter. Vermutlich haben Angehörige ihres Volkes jene Dinge angefertigt, aber ich weiß nicht, wie oder warum. Ich habe gelernt, sie zu benutzen, und für eine Weile war ich ein guter Sklave. Manchmal erinnere ich mich noch an alle Personen, die ich getötet habe.«
»Und jetzt brauchst du neue Werkzeuge? Bist du deshalb bei dem Schmied gewesen?«
»Nein, das hat nichts mit meiner Vergangenheit zu tun«, sagte Leesil, und seine Stimme klang plötzlich schroff. »Ich kann nicht dauernd versuchen, Vampire mit meinen Stiletten zu erledigen. Aber ich habe auch keine Zeit, den Umgang mit einer gewöhnlichen Waffe zu lernen, und deshalb lasse ich welche für mich anfertigen, die meinen Fähigkeiten entsprechen.«
Magiere schüttelte den Kopf und hob die Hand, um weiteren Worten zuvorzukommen.
»Selbst ein Sklave kann selbstständig denken«, sagte sie. »Warum bist du nicht weggelaufen, bevor es zu spät war? Warum seid ihr nicht alle weggelaufen?«
Eine einfache Entscheidung, dachte Leesil. Wenn sie nur so einfach gewesen wäre. Er lachte.
Magiere sah ihn fast empört an. »Was findest du so komisch?«
»Nichts«, antwortete er ohne ein Lächeln im Gesicht. »Rein gar nichts. Es war uns nie gestattet zusammenzuarbeiten. Mindestens einer von uns – Vater, Mutter oder Sohn – blieb bewacht zurück, um zu garantieren, dass der Auftrag erledigt wurde und derjenige von uns, der ihn erledigte, anschließend wieder heimkehrte.«
Leesil sah Magiere an und suchte in ihren Augen nach einem Hinweis auf Verständnis. Als er nichts dergleichen entdeckte, fuhr er fort:
»Ich war gezwungen, einen alten Lehrer zu hintergehen, dem fälschlicherweise Verrat zur Last gelegt wurde. Man hängte ihn, und das veranlasste mich zur Flucht. Zusammen mit Chap lebte ich auf der Straße und trank abends Wein, um zu vergessen und zu schlafen – bis ich dir begegnete und wir mit einer ganz neuen Runde des Tötens begannen.«
»Des Tötens?« Magiere schüttelte den Kopf. »Wir haben nur Untote getötet.«
Leesil bemerkte die Verwirrung in ihrem Gesicht und hasste sich noch mehr. Aber solange die Worte aus ihm heraussprudelten, sollte sie ruhig den Rest erfahren.
»Was ist mit den Bauern?«, fragte er. »Du denkst erneut zu einfach. Wie viele Bauern verhungerten, weil wir ihr Saatgeld nahmen? Wie viele von ihnen schufteten sich zu Tode, weil sie ihre Schulden dem Lehnsherrn gegenüber nicht bezahlen konnten und diese abarbeiten mussten?«
Magiere ließ den Kopf hängen. »Jetzt versuchen wir wenigstens, all die Jahre wiedergutzumachen. Aber was wir getan haben … Es lässt sich nicht damit vergleichen, dafür bezahlt zu werden, jemanden zu töten.«
»So etwas kann man nie wiedergutmachen«, widersprach Leesil. »So funktioniert das nicht.«
Es lag keine Bitterkeit in seiner Stimme. Er sprach einfach nur eine Wahrheit aus.
»Jetzt retten wir Menschen«, sagte er. »Wir geben uns alle Mühe, ihnen zu helfen. Es ist im Großen und Ganzen ein besseres Leben als jenes, das ich vorher geführt habe.«
Eine ganze Zeit lang saß Magiere still da. Leesil schwieg und wartete.
»Es war nicht dein Leben«, flüsterte sie. »Die Geburt hat es dir aufgezwungen.«
Leesil beobachtete, wie ihr Blick ins Leere ging. Sie erzitterte, und ihre Worte schienen aus der Ferne zu kommen, als sie sagte:
»Deine Mutter hat einen Menschen geheiratet. Ist dir klar, wie seltsam das klingt? Elfen bleiben meistens unter sich, und ich habe nie von einem gehört, der für einen menschlichen Herrn arbeitete. Nicht als Assassine und erst recht nicht als Sklave.«
»Meine Eltern haben nie darüber gesprochen, obwohl ich einige Male versuchte, sie danach zu fragen. Ich weiß kaum mehr als das, was ich dir gesagt habe.«
»Also sind sie noch immer damit beschäftigt …« Magiere zögerte und spuckte dann die nächsten Worte aus. »… für Darmouth zu töten. Warum haben sie nicht ebenfalls die Flucht ergriffen? Sie brauchten keine Rücksicht mehr auf dich zu nehmen. Oder gibt es einen anderen Grund dafür, warum sie blieben?«
»Magiere …«, begann Leesil und senkte dann enttäuscht den Kopf.
Sie würde die Welt, aus der er kam, nie ganz verstehen. Er sprach ruhig, wie gleichgültig.
»Sklaven, erinnerst du dich? Und immer bewacht – Geiseln. Das war die Kette, mit der Darmouth meine Familie fesselte. Irgendwann denkt man nicht mehr darüber nach, was man macht. Man macht es einfach, um selbst am Leben zu bleiben und jene zu schützen, die von einem abhängen. Aber ich konnte nicht mehr töten, und deshalb bin ich weggelaufen.«
Diesmal war er es, der sich abwandte. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen saß er auf der Bettkante. Von all den Leben, die er ausgelöscht hatte, waren die letzten beiden so tief in ihm verschlossen, dass sie keinen Weg in seine Albträume fanden.
»Du hast richtig gehandelt«, sagte Magiere nach einer Weile.
»Richtig?«, erwiderte Leesil, ohne sie anzusehen. »Sie sind tot, Magiere! Meine Eltern … Ich lief fort, und dafür mussten sie mit dem Leben bezahlen.«
Damit war es heraus. Nie zuvor war er bereit gewesen, mit jemandem darüber zu sprechen, und jetzt hatte er sich der einen Person anvertraut, die es nicht erfahren durfte. Wohin sollte er sich wenden, nachdem dieses Leben mit Magiere vorbei war?
Er blieb mit geschlossenen Augen sitzen und wollte nicht sehen, wie sie ging. Er stellte sich vor, dass sie einfach nicht mehr da war, wenn er die Lider hob.
Ein metallenes Geräusch erreichte seine Ohren, und Leesil begriff, dass Magiere ihr Schwert genommen hatte. Er hörte, wie ihre Schritte auf dem Weg zur Tür ums Bett kamen, und dann klopfte Metall auf Holz, ganz in der Nähe.
Finger strichen ihm über Wangen und Haar, und die Hände verharrten an den Schläfen.
Leesil hatte den Kopf noch immer gesenkt, als er die Augen öffnete, und er sah die Schüssel mit dem Wasser neben Magiere, die vor ihm in die Hocke gegangen war. Ihre Stirn berührte seine.
»Danke«, flüsterte sie. »Danke dafür, dass du es mir gesagt hast.«
Mit verbundenem Handgelenk stieg Chane in einem der ärmeren Viertel des Außenkreises aus der Kutsche. In einem Bereich der Stadt, wo sich niemand derartigen Luxus leisten konnte, wollte er nicht vom lauten Geklapper einer Kutsche angekündigt werden. Er bezahlte den Kutscher, ging über die Straße und näherte sich dem Viertel, das Domin Tilswith und Wynn »Bruchbude« nannten.
Erst vor kurzer Zeit hatte er das Haus verlassen, um Nahrung für die verwundete Saphir zu suchen. Sie hatte stückchenweise von dem erzählt, was ihr zugestoßen war: Ein Halbelf hatte sie durch seine Schnelligkeit und sein Geschick überrascht, und eine hellhäutige Frau war kräftiger als eine gewöhnliche Sterbliche gewesen. Toret hatte die Beschreibungen mit großer Anteilnahme und noch größerer Sorge zur Kenntnis genommen.
Weitere Fragen zogen durch Chanes Bewusstsein, als er sich von Toret beauftragt auf den Weg machte. Diese beiden alten Feinde seines Herrn stellten vielleicht den Schlüssel für seine Freiheit dar, und deshalb hatte er beschlossen, einen kleinen Umweg zu machen. Doch er musste sich beeilen. Wenn er zu lange fortblieb, wuchs Torets Zorn darüber, dass Saphir länger leiden musste, und vielleicht schöpfte er sogar Verdacht. Doch angesichts von Torets unberechenbarem Verhalten war dies möglicherweise die einzige Chance, die sich Chane bot.
Es war spät, und Bruchbude trug ihren Namen zu Recht. Unrat lag am Straßenrand, und schäbige Gebäude drängten sich aneinander. Irgendwo weinte ein hungriges Kind, und ein Mann fluchte hingebungsvoll. Aus der trotzigen Antwort einer Frau wurde ein plötzliches Schluchzen.
Chane ging mit langen Schritten weiter.
Wynn hatte ihm von einem Elfen erzählt, der in der Ärmlichkeit von Bruchbude lebte. Erstaunlicherweise hatte die junge Weise in ihrem Heimatland mit Elfen Kontakt gehabt und ihre Sprache gelernt. Als sie von dem Elf in Bela erfuhr, wollte sie sein Volk auf diesem Kontinent kennenlernen, doch der Besuch bei ihm war enttäuschend: Sie stieß auf Feindseligkeit, und er wies sie an der Tür ab.
Chane war davon ausgegangen, dass die Elfen nur im fernen Nordosten lebten, jenseits der Kriegsländer und auf der anderen Seite des Gebirges Venjètzí Rozpàtjè, der »Königskette«. Von Freunden seines Vaters hatte er gehört, wie einsiedlerisch und zurückgezogen die Elfen waren. Doch er kam mit Fragen, die sie betrafen, oder zumindest ein gewisses Halbblut. Er wollte Antworten, und die konnte er durchaus an der Tür entgegennehmen.
Er vergaß nie etwas, und Wynn hatte ihm freundlicherweise erklärt, worauf es zu achten galt. Rasch fand er das Haus. Es war alt, schien aber vor einigen Jahren zumindest teilweise renoviert worden zu sein und machte einen gleichsam versiegelten Eindruck.
Chane hatte Wynn gefragt, warum ein Elf an einem solchen Ort lebte. Sie war nachdenklich geworden und hatte dann geantwortet:
»Ich weiß es nicht. Aber ich gewann den Eindruck, dass er wartete oder vielleicht beobachtete. Was, vermag ich nicht zu sagen.«
Chane fühlte eine sonderbare Ruhe, als er sich an Wynns ovales Gesicht erinnerte. Es war viele Abende her, seit sie zum letzten Mal neben ihm gesessen und über das alte Pergament gerätselt hatte. Chane blickte auf das verbundene Handgelenk hinab und erinnerte sich an das Gefühl von Saphirs Mund. Wenn es Wynn gewesen wäre … Der Gedanke, dass er einen Teil von sich Saphir gegeben hatte, weckte Abscheu in ihm.
Er trat zur Eichentür, klopfte an und erweiterte seine Sinne, obwohl er den Gestank als sehr unangenehm empfand. Niemand reagierte, aber Chane hatte auch nicht damit gerechnet, dass die Tür sofort geöffnet würde. Er klopfte erneut.
Im Innern des Hauses gab es keine Geräusche, die auf Bewegung hindeuteten, aber Chane hörte das Pochen eines Herzens und dann eine bittere Stimme, die hinter der geschlossenen Tür erklang.
»Geh weg.«
»Ich habe Informationen über einen neu in der Stadt eingetroffenen Elfen«, sagte Chane.
Nach einem Moment knarrte es, und die Tür öffnete sich.
Chane blickte auf die schussbereite Armbrust in den Händen eines Mannes, der im Schatten hinter der Tür stand. Er war dünn, mit langen, spitz zulaufenden Ohren und sandfarbenem, zerzaustem Haar. Er trug einen langen, verblichenen Mantel, der den Rest seiner Kleidung verbarg. Die hellbraune Haut sah kränklich aus, wie von schlechter Ernährung und zu wenig Sonne. Das lange Gesicht war dreieckig, und er war größer und schlanker als der Mann, den Tihko gesehen hatte.
»Ich bin der einzige Elf, der in dieser Stadt lebt«, sagte er scharf. »Hör auf, an meine Tür zu klopfen, und verschwinde.«
»Du irrst dich. Es gibt noch einen anderen.«
»Unsinn«, erwiderte der Mann und wollte die Tür schließen.
»Glaubst du? Ein Halbblut weilt in der Stadt. Jung, agil, mit außerordentlichem Kampfgeschick. Stilette sind seine bevorzugte Waffe, und er reist in der Gesellschaft einer Kriegerin und eines Hunds. Ich habe Fragen. Hast du Antworten?«
Die Armbrust blieb auf Chane gerichtet, aber die geröteten Augen des Elfen wurden ein wenig größer, und Chane hörte, wie dessen Herz schneller schlug.
»Du irrst dich«, wiederholte der Mann.
Die Tür fiel ins Schloss, und ein eiserner Riegel wurde vorgeschoben.
Jähe Unruhe erfasste Chane. Zu viel Zeit war verstrichen, seit er sich auf den Weg gemacht hatte, um Blut für Saphir zu holen. Toret war inzwischen bestimmt sehr zornig, aber hier gab es noch viel zu erfahren, und vielleicht erhielt Chane nicht noch einmal Gelegenheit hierherzukommen. Er würde sich irgendeine Ausrede für die Verzögerung einfallen lassen und sich den Konsequenzen stellen. Rasch ging er die Straße hinunter und um die nächste Ecke, trat dort in den Schatten einer Flechtwerkhütte und wartete.
Kurze Zeit später vernahm er ein leises Geräusch, das sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. Schritte.
Chane beobachtete das Haus, in dem der Elf wohnte – Tür und Fenster waren noch immer geschlossen. Er konzentrierte sich auf die Geräusche, bis sie für ihn immer lauter wurden, schickte dann seinen Blick in die Nacht.
Etwas bewegte sich verstohlen zwischen den Gebäuden. Chane schlich lautlos über die Straße und nahm die Verfolgung auf.
Die verhüllte Gestalt mied das Licht der wenigen Straßenlaternen und beabsichtigte ganz offensichtlich, die Stadt zu verlassen. Am Außentor hielten die Wächter sie an. Im hellen Schein der Wachhauslaternen sah Chane unter der grauen Kapuze das Gesicht des Elfen. Er sprach kurz mit einem Wächter, öffnete den Mantel für eine Überprüfung und ging dann weiter.
Chane wartete einen Moment und setzte sich dann wieder in Bewegung.
Unterschiedlich gekleidete Männer erwarteten ihn am Tor. Abgesehen von vier Waffenröcke tragenden Sträzhy-shlyahketné standen noch zwei in Zivil gekleidete Bewaffnete am Tor, vielleicht Polizisten.
»Und wohin seid Ihr zu so später Stunde unterwegs, Herr?«, fragte einer der Wächter.
Chane maß den Mann mit einem taxierenden Blick, der ihn ein wenig nervös werden ließ.
»Ich habe einige meiner Arbeiter besucht und bin zu lange geblieben«, antwortete er. »Da die Nacht fast vorbei ist, habe ich mir gedacht, einen Spaziergang zu machen, bis die ersten Wirtshäuser öffnen. Es ist zu wenig von der Nacht übrig, um ins Bett zu gehen.«
Der Wächter musterte Chane kurz, sah dann über die Straße und nickte.
»In Ordnung, Herr«, sagte er und wich beiseite. »Aber bleibt besser auf den hell erleuchteten Straßen. Eine gute Nacht wünsche ich.«
Chane ging weiter und blieb dabei den Gebäuden möglichst nahe. Dann und wann huschte er in eine Nebenstraße, damit der Abstand zu dem Mann, den er verfolgte, nicht zu gering wurde. Außerhalb der Stadtmauer fiel es ihm leichter, dem Elf auf den Fersen zu bleiben – die Gebäude standen hier nicht mehr so dicht beieinander, und zwischen ihnen gab es kleine Felder und Gehölze. Schließlich wandte sich die Gestalt im Mantel von der Straße ab und eilte in einen kleinen Wald. Chane folgte dem Elfen von Baum zu Baum und behielt ihn dabei die ganze Zeit über im Auge.
Der Wald wurde dichter. Chane schlich geduckt weiter und wich dem Weg, den der Mann im Mantel nahm, in einem weiten Bogen nach rechts aus. Er kroch unter niedrigen Zweigen hindurch, hielt aufmerksam Ausschau und achtete darauf, so leise wie möglich zu sein.
Der Elf blieb an einer alten Tanne stehen, die hoch in die Nacht aufragte. Die unteren Zweige waren kahl und teilweise abgetrennt, wodurch der Stamm sichtbar wurde. Der Elf griff unter seinen Mantel und holte ein einfaches Objekt hervor. Es war länglich und endete in Spitzen, maß in der Länge kaum mehr als die Hand des Mannes und glänzte in einem gelben Ton.
Der Elf drückte den Gegenstand an den Baum, hielt ihn dort mit einer Hand fest und begann zu flüstern. Nach einer Weile hob er die Stimme und formulierte Worte in seiner Muttersprache.
Chane hörte genau hin. Zuerst gewann er den Eindruck, dass die Worte des Elfen dem Baum galten, aber dann stellte er fest: Der Blick des Mannes reichte an der Tanne vorbei ins Leere.
Der Elf sprach durch den Baum mit jemand anders.
Durch die Texte, die er im Lauf der Jahre gelesen hatte, war er ein wenig mit der Elfensprache vertraut. Er hörte konzentriert zu und wünschte sich Wynns Talent für Sprachen.
»Bithasij fuile letheach ag’us âg méanna, gye sapâjasij Anmaglâhk colhtaseach!«
Die Worte hallten hinter Chanes Stirn wider, als er versuchte, ihre Bedeutung zu erfassen. Der Teil eines Wortes, lethe, bedeutete »halb« in der maskulinen Form – die Hälfte von was? Vielleicht war das Halbblut gemeint. Âg méanna bedeutete »nicht von uns«. Am erstaunlichsten fand Chane das Wort Anmaglâhk, das ein Name oder Titel zu sein schien. Vielleicht die Person, zu der der Elf sprach? Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er einige Sätze verpasste. Rasch konzentrierte er sich wieder.
»Triâlhina lhos âg mé. Urkharasej tù aonéc.«
Chane übersetzte mit »kein Plan der Abreise oder Zweck«, gefolgt von einem mit Nachdruck gesprochenen »einen mehr schicken«. Doch einen mehr wovon?
»Leanave faodeach âg â bithéana ahk bith so cùishna. Vorthasej so trúe!«
Der Strom aus Worten fand ein plötzliches Ende, und der Elf ließ den glänzenden Gegenstand wieder unter seinem Mantel verschwinden. Er drehte sich um und kehrte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Der letzte Satz, den Chane verstand, betraf ein Elternteil, eine Mutter vielleicht, und die Bestrafung eines »Verräters«.
Hinter dem Halbelf schien sich mehr zu verbergen, als Toret ahnte.
Erstes Grau kroch über den Nachthimmel, als Chane unter dem Baum hervorkroch und sich auf den Rückweg zur Stadt machte. Er lief und wurde nur langsamer, als er das Tor erreichte. Diesmal nahm er nicht den Weg durch die »Bruchbude«, sondern wandte sich in Richtung Meer und gelangte bald darauf zu einer Straße, auf der die eine oder andere Kutsche unterwegs war. Er durfte nicht mit leeren Händen heimkehren.
Eile war immer gefährlich, aber diesmal konnte er sich keine Zeit für eine vorsichtige Auswahl nehmen. Als er durch Nebenstraßen ging, hielt er in Gassen nach Bewegung Ausschau und lauschte nach schwerem Atem. Hinter einer Taverne fand er einen tief schlafenden Betrunkenen. Chane ging rasch zu ihm und versetzte ihm einen Schlag ans Kinn, um dafür zu sorgen, dass er so bald nicht erwachte.
Dann hob er den Bewusstlosen hoch, kehrte mit ihm zur Straße zurück, hielt ihn dort mit einem Arm und winkte eine Kutsche heran.
»Zu viel Bier«, sagte er zum Kutscher. »Ich muss meinen Freund nach Hause bringen.«
Er nannte eine Adresse, die zwei Häuserblocks von seinem Haus entfernt war – den Rest des Wegs wollte er gehen, um nicht zu riskieren, dass der Kutscher sein wahres Ziel sah. Während die Kutsche durch die Straßen rollte, wiederholte Chane in Gedanken immer wieder ein Wort.
Anmaglâhk.