18
Leesil beobachtete, wie Magiere vor ihm die Treppe hochschlich. Ihre Gestalt war ein wenig verschwommen, und das Leuchten des Topas-Amuletts umgab sie mit einem sonderbaren Glühen. Die Kugel blieb hoffentlich die einzige unangenehme Überraschung. Inzwischen konnte Leesil gut genug sehen, um zu kämpfen, doch die Muster des Teppichs blieben undeutlich. Hinweise auf weitere Fallen ließen sich nicht erkennen – er hätte warten müssen, bis sich sein Sehvermögen weiter verbesserte, aber dazu fehlte ihnen die Zeit. Blindheit … Leesil fürchtete kaum etwas in der Welt, doch die Vorstellung, nie wieder richtig zu sehen, erschreckte ihn.
Chap knurrte leise, als er neben ihm die Treppe hochging. Wynn und Vàtz folgten weiter hinten, die junge Weise mit ihrem Kristall und der Armbrust, die sie von Magiere bekommen hatte. Im ersten Stock verharrte Magiere mit dem einen Fuß auf dem Treppenabsatz und sah besorgt zu Leesil zurück.
Leesil zog seine zweite Klinge aus der Scheide. Mit einer Waffe in jeder Hand brachte er die nächsten beiden Stufen hinter sich und blickte durchs Geländer in den Flur.
Eine kopflose Leiche lag dort, umgeben von sehr viel dunkler Flüssigkeit, die der dicke Teppich bereits halb aufgesaugt hatte. Leesil streckte die Hand aus und berührte einen der Flecken – er war noch feucht.
Magiere trat auf den Treppenabsatz und dann in den Flur. Leesil folgte ihr. Auf halbem Weg durch den Flur lag ein Kopf.
Hinter Leesil schnappte jemand nach Luft, und er sah zurück. Wynn hatte die Augen aufgerissen, und ihr Blick galt der Leiche. Er winkte mehrmals, und als sie schließlich aufsah, hob er den Zeigefinger vor die Lippen. Sie nickte langsam.
Vàtz trat an die Seite der Leiche und starrte so auf sie hinab, als hätte ihm jemand eine Trophäe gestohlen.
Leesil warf Magiere einen fragenden Blick zu, aber sie schüttelte nur verwirrt den Kopf und schlich durch den Flur. Sie kamen am Kopf vorbei und erreichten die letzte Treppe.
Magiere übernahm erneut die Spitze, ging langsam und leise nach oben. Als sie etwas mehr als die Hälfte hinter sich gebracht hatten, knurrte Chap laut.
Magiere wich an die Wand, und Chap schob sich an ihr vorbei und sah nach oben. Leesil folgte dem Blick des Hunds.
Irgendwo dort oben befanden sich Untote.
Chap heulte plötzlich, und die Welt um Leesil herum kam plötzlich in Bewegung.
Eine hochgewachsene Gestalt erschien im zweiten Stock am Treppengeländer und schlug mit einem langen Schwert nach Magiere. Mit einem lauten Klirren, das in Leesils Ohren widerhallte, traf es auf das Falchion. Chap sprang nach oben, an Magiere vorbei zum Ende der Treppe.
Magiere stieß das Schwert beiseite und brachte die letzten Stufen hinter sich. Die große Gestalt trat vor und war deutlicher zu erkennen, als sie erneut mit dem Schwert ausholte; diesmal hatte sie es auf Chap abgesehen.
Leesil sah braunrotes Haar und einen schlichten, aber gut geschnittenen Kasack. Leesil sprang zwei weitere Stufen hoch und hörte Wynns Schrei.
»Chane!«
Dieses eine Wort ließ den Schwertkämpfer innehalten, und er blickte an Leesil vorbei die Treppe hinunter. Unschlüssigkeit verdrängte die kalte Entschlossenheit aus dem blassen Gesicht.
Ein Armbrustbolzen sauste an Leesils Kopf vorbei und bohrte sich in die Brust des Untoten. Rauch kam aus der Wunde. Leesil sah zurück und stellte fest, dass Vàtz geschossen hatte. Wynn stand wie versteinert neben ihm, klammerte sich krampfhaft an ihre eigene Armbrust. Vàtz hatte bereits damit begonnen, die Sehne seiner Waffe wieder zu spannen.
Als Leesil nach oben lief, sprang eine zweite Gestalt übers Geländer ins Treppenhaus und landete hinter ihm. Knochige Hände packten ihn und hielten ihn fest.
»Du bist tot, Halbblut«, zischte eine vertraute Stimme dicht an seinem Ohr.
Die Hände des Untoten waren kalt, und ihre Kälte schien sich in Leesil auszudehnen. Jäher Schmerz nahm ihm den Atem, als Zähne auf den Kragen des Kettenhemds trafen.
Nicht noch einmal.
Sein Gegner versuchte, ihm die Zähne in den Hals zu bohren, aber das Kettenhemd hinderte ihn daran. Die lähmende Wirkung des Schocks ließ nach, und Leesil beugte das linke Bein, stieß sich von der Wand des Treppenhauses ab.
Der Stoß brachte ihn zur anderen Seite, und beim Aufprall wurde Rattenjunge zwischen ihm und der rechten Wand eingeklemmt. Leesil rammte den linken Ellenbogen nach hinten und spürte, wie sich die hintere Spitze der Klinge in die Seite seines Gegners bohrte. Die Zähne lösten sich von Leesils Hals.
Er trat zwei Stufen nach unten, schlug mit der rechten Klinge zu, traf jedoch nur leere Luft – Rattenjunge stand bereits auf dem Treppenabsatz.
Das zerstörte Auge hatte sich neu gebildet, jedoch nicht vollständig. Wo die Iris sein sollte, zeigte sich nur ein dunkler Fleck.
Leesil trat vorsichtig näher und hielt beide Klingen bereit. »Chap!«, rief er.
Der Hund wandte sich von Magiere ab und starrte Rattenjunge an.
Ein Bolzen traf den kleinen Untoten über dem rechten Auge und bohrte sich in die Stirn. Der Kopf ruckte nach hinten, und auch diesmal kam Rauch aus der Wunde. Rattenjunge schrie, und als er die Hände zum Gesicht hob, sprang Chap ihn an und warf ihn in die Ecke des Treppenabsatzes.
Leesil konnte sich nicht umsehen, um festzustellen, wo Wynn und Vàtz waren oder wer von ihnen geschossen hatte. Er eilte nach oben, holte mit der linken Waffe aus und zielte auf den Hals des Untoten.
Rattenjunge riss den Bolzen aus der Stirn und duckte sich, und Leesils Klinge traf nur die Wand. Die Wucht des Aufpralls ließ Leesils Arm erbeben, und Rattenjunge duckte sich darunter hinweg und huschte zur Treppe.
Leesil drehte sich um.
Wynn stand weiter unten, eine leere Armbrust in den Händen. Sie schlug damit nach Rattenjunge, als der ausholte und ihr mit den Fingernägeln den Hals aufschlitzen wollte.
Für Leesil dehnte sich die Zeit, als er beobachtete, wie die klauenartigen Fingernägel auf die Kehle der jungen Weisen zielten. Ein kurzes Stechen ging von den Narben an seinem Kinn aus.
Chap sprang durchs Treppenhaus.
Diesmal prallten seine Vorderpfoten gegen Rattenjunges Rücken. Hund, Vampir und Weise fielen und rollten die Treppe hinunter. Vàtz hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest und verhinderte so, dass er mitgerissen wurde.
»Wynn!«, rief die tiefe Stimme eines Mannes.
Leesil reagierte instinktiv und sah in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Magieres Augen waren schwarz und die Eckzähne lang, als sie mit ihrem Falchion nach Chane schlug. Es war seine Stimme gewesen – er hatte in Panik nach Wynn gerufen.
Leesil nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzurätseln; er sauste die Treppe hinunter und folgte Rattenjunge.
Chane war wütend. Was schiefgehen konnte, war schiefgegangen, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, etwas dagegen zu unternehmen. Er hatte geplant, kurz gegen den Halbelf zu kämpfen und Toret der Dhampir zu überlassen, aber die Rachegelüste seines Herrn ruinierten alles.
Außerdem hatte er es versäumt, den Hund bei seinen Plänen zu berücksichtigen. Seine Zähne waren mehr als nur ein Ärgernis – die Wunden in Chanes Beinen brannten. Um dem Hund zu entgehen, hatte er sich auf den Kampf gegen die Dhampir eingelassen, nach dem Armbrustbolzentreffer in der Brust. Die Wunde rauchte noch immer, obwohl er den Bolzen herausgerissen hatte.
Und jetzt war Wynn irgendwo dort unten, gefangen zwischen Toret und dem Hund.
Chane brüllte und schlug nach der Dhampir. Sie knurrte, und er sah ihre langen Eckzähne. Im Gegensatz zum Kristallglanz von Untotenaugen zeigten die der Dhampir ein Schwarz, das alles Licht aufzusaugen schien. Ihre Hiebe zwangen Chane, durch den Flur zurückzuweichen. Die Brustwunde behinderte seinen Schwertarm, und als er einen weiteren Schlag parierte, sah er, wie der Junge am Treppenabsatz seine Armbrust neu lud. Wenn er sich nicht schnellstens etwas einfallen ließ, konnte dies mit seinem zweiten Tod enden.
Chane täuschte einen Angriff vor und wich erneut zurück.
»Toret wird deinen Halbblut-Freund ausweiden«, sagte er. »Er wird ihn aufreißen, von der Kehle bis zu den Lenden.«
Die Dhampir zögerte. Chane unternahm einen zweiten Scheinangriff, und als seine Gegnerin Anstalten machte, den Hieb abzuwehren, schlug er mit der linken Faust zu.
Er traf sie am Kinn, und zu Chanes Überraschung zuckte Schmerz durch seinen Arm. Sie schien ein ganzes Stück kräftiger zu sein, als es den Anschein hatte, aber ihr Kopf kippte trotzdem zur Seite.
Die Dhampir taumelte zurück, stieß gegen den Türrahmen von Saphirs Zimmer und wankte an der Wand entlang. Bevor sie fiel, trat der Junge mit der Armbrust in den Flur. Chane griff nach dem Geländer und setzte darüber hinweg – ein Bolzen raste mit deutlich hörbarem Zischen an ihm vorbei.
Wynn kauerte unten vor der Treppe auf dem Boden, und der knurrende Hund bewachte sie. Chane hörte Schritte weiter oben, blickte zum Treppenabsatz empor und sah den Jungen, der erneut seine Armbrust spannte. Er holte mit seinem langen Schwert aus. Die Spitze der Klinge traf die oberste Stufe, und der Junge wich hastig zur Wand zurück.
Chane sprang zum Ende der Treppe. Bevor sich der Hund ihm zuwenden konnte, traf ihn die flache Seite der Klinge am Kopf, und das Tier ging zu Boden.
Wynn sah zu ihm auf, mit Entsetzen in den Augen.
Er hatte nie erwartet, dass ihr Gesicht einen solchen Ausdruck annehmen könnte, wenn sie ihn ansah.
Er bückte sich, streckte die freie Hand aus und zog sie auf die Beine.
»Chane … nein!«, rief sie.
Er hatte keine Zeit für Erklärungen und warf sie sich einfach über die Schulter. Wynn war klein und schien kaum etwas zu wiegen. Sie versuchte, Widerstand zu leisten, aber mit nur wenig Wirkung.
Toret kam auf die Beine, und das Halbblut trat ihm in die Seite. Der kleine Untote taumelte gegen die Tür eines leeren Zimmers. Als sich ihm der Halbelf näherte, gab Chane ihm einen Tritt in den Rücken und stieß ihn damit auf Toret zu.
Chane machte zwei lange Schritte durch den Flur des ersten Stocks, griff nach dem Geländer und sprang erneut ins Treppenhaus. Als er unten durchs Foyer und die Tür des Haupteingangs rannte, hörte er, wie das Halbblut Wynns Namen rief. Ohne einen Blick zurück stürmte er hinaus in die Nacht.
Toret kroch unter Leesil hervor und sah gerade noch, wie Chane mit der in den grauen Umhang gekleideten Frau übers Geländer sprang. Dann bemerkte er Tibors Kopf auf dem Boden.
Er war auf sich allein gestellt.
Er hätte nie gedacht, dass er bei diesem Kampf ohne jede Hilfe gegen die Dhampir und das Halbblut antreten musste. Von dem Hund ganz zu schweigen, der wieder auf die Beine kam und sich näherte. Der Halbelf griff nach den beiden dicht vor ihm liegenden Klingen.
Sein Blick ging kurz zu dem Geländer, über das Chane hinweggesprungen war, und Toret wusste: Das Halbblut wollte ihm folgen, um der entführten Frau zu helfen.
»Warum legst du dich nicht hin und stirbst endgültig?«, knurrte der Halbelf und griff an, sicher mit der Absicht, ihn durch den Flur zurückzutreiben.
Toret wich aus und schlug nach Leesils Gesicht, als eine der beiden Klingen zu weit nach unten kam, aber er wusste, dass er nur ein wenig Zeit gewann.
Der zweite, endgültige Tod erwartete ihn, und Saphir befand sich in der Kanalisation und versuchte zu entkommen. Was geschah, wenn er starb? Vielleicht nahmen diese Eindringlinge dann Chanes Verfolgung auf, aber es war auch möglich, dass sie den verdammten Hund benutzten, um nach Saphir zu suchen. Sie konnten sich sogar aufteilen und beiden Spuren folgen.
Toret blickte sich rasch um und hielt nach etwas Ausschau, das er zu seinem Vorteil nutzen konnte, aber er sah nur Tibors Kopf. Er wich noch einen Schritt zurück und stieß gegen etwas auf dem Boden.
Die Leiche.
Toret wartete auf Leesils nächsten Vorstoß, und als es dazu kam, duckte er sich unter der Klinge hinweg.
Er ließ sein Schwert fallen, als er in die Hocke ging, packte den kopflosen Leichnam, kam wieder nach oben und warf den Toten.
Der Halbelf riss die Augen auf, als die Leiche auf ihn zuflog. Der Tote prallte gegen den Lebenden, und beide fielen nach hinten, dem Hund entgegen, der rasch zurückwich. Toret sprang übers Geländer ins Treppenhaus, lief die restlichen Stufen hinunter und stürmte ins Foyer.
Die Tür des Haupteingangs stand noch offen, aber Toret folgte Chane nicht nach draußen. Am Ende der Treppe drückte er auf eine bestimmte Stelle der Wand, worauf sich die verborgene Tür zum Geheimgang öffnete. Rasch schlüpfte er hindurch, schloss die schmale Tür und hörte das Knurren des Hunds auf der anderen Seite der Wand.
Toret eilte nach unten, während der Hund oben an der Stelle kratzte, wo sich eben die Tür geschlossen hatte. Kurz darauf erreichte er den Keller.
Mehrere Übungsschwerter hingen an den Wänden. Toret nahm das größte, das er handhaben konnte, und lief in den offenen Tunnel, der zur Kanalisation führte.
Saphir konnte nicht weit sein. Er würde sie einholen, und anschließend würden sie Bela verlassen. Toret wollte keine Rache mehr. Es ging ihm nur noch ums Überleben.
»Steh auf!«, rief Vàtz und zog an Magieres Arm. »Steh auf!«
Sie schnappte nach Luft, kam auf alle viere und hatte das Gefühl, von einer Eisenkeule getroffen worden zu sein. Ihr Kopf schmerzte, aber noch schlimmer stand es um ihren Unterkiefer. Dann kam sie wieder ganz zu sich und begriff, dass Vàtz sie ansah.
Magiere schloss die Lippen, tastete schnell mit der Zunge und stellte erleichtert fest, dass ihre Zähne wieder normal waren.
»Schnell!«, drängte Vàtz. »Er hat Wynn entführt, und Leesil kämpft einen Stock weiter unten gegen den anderen.«
Magiere stand auf und nahm ihr Falchion. Vàtz wartete nicht, lief ums Ende des Geländers herum und stürmte mit der Armbrust in der Hand die Treppe hinunter. Sie folgte ihm rasch, und bei jedem Schritt wurde ihr Kopf klarer. Als sie den ersten Stock erreichte, kam Leesil unter der Leiche hervor, doch Chap fehlte. Magiere half Leesil auf die Beine.
»Wo ist Wynn?«, fragte sie.
»Er hat sie mitgenommen.« Leesil lief los. »Der verdammte Untote, den wir gesucht haben – er hat sie.«
Vàtz versuchte, vor Magiere zu bleiben, aber sie schob ihn nach hinten. »Du bleibst zurück.«
Am Ende der Treppe warf sich Chap mehrmals gegen die Wand und schenkte der offenen Tür des Haupteingangs keine Beachtung. Er unterbrach sein lautes Knurren nur, wenn er gegen die Wand prallte und jaulte. Wynns Armbrust lag vor der letzten Stufe.
Leesil eilte durch die Tür, verharrte auf der Veranda und sah über die Straße.
»Hör auf!«, rief Magiere, hielt Chap fest und hinderte ihn daran, erneut zu springen.
Der Hund entwand sich ihrem Griff, drehte den Kopf und schnappte nach ihr. Magiere wich zurück. Vàtz trat eine Stufe die Treppe hoch – er wollte offenbar nicht in ihre Nähe kommen.
»Was ist mit dir?«, fuhr Magiere den Hund an.
Chap lief um sie herum und starrte auf eine bestimmte Stelle der Wand.
»Wohin ist der große Untote verschwunden?«, fragte Magiere. »Finde seine Spur, verdammt!«
Chap starrte sie kurz an, wandte sich dann wieder der Wand neben dem Ende der Treppe zu. Er schnüffelte am Boden, lief dann los und durch die Tür nach draußen. Magiere folgte ihm zusammen mit Leesil und beobachtete, wie der Hund sein Schnüffeln auf dem Kopfsteinpflaster fortsetzte.
Mit gesenktem Kopf verharrte er und sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aus seinem dumpfen Grollen wurde ein lautes Knurren.
»Chane ist in Panik geraten«, sagte Leesil. »Ich wette, er will wieder durch die Kanalisation fliehen.«
Chap lief zu ihnen zurück und wollte ganz offensichtlich, dass ihm jemand folgte. Aber er sah auch durch die Eingangstür zur Wand, gegen die er immer wieder gesprungen war.
Leesil blickte in die gleiche Richtung, und für einen Moment verwandelte sich der Zorn in seinem Gesicht in Verwirrung. Magiere achtete nicht darauf und wandte sich an den in der Tür stehenden Vàtz.
»Kennst du die neue Kaserne der Stadtwache beim Wehrwall des Innenkreises?«
Der Junge nickte.
»Lauf zu Hauptmann Schetnick«, wies Magiere ihn an. »Sag ihm, was passiert ist und dass sich mindestens ein Vampir in der Kanalisation befindet. Er soll die Wachen bei den Abflusskanälen in der Bucht verdoppeln, aber niemanden hineinschicken. Hast du verstanden?«
Vàtz begriff, dass es sich um eine wichtige Aufgabe handelte, und er nickte. »Ja. Ich laufe so schnell wie möglich.«
Magiere warf ihm den Geldbeutel mit den restlichen Münzen zu. »Fahr mit der Kutsche, wenn du eine findest. Schnelligkeit ist oberstes Gebot.«
Der Junge stob davon. Magiere kehrte ins Haus zurück und hob die zurückgelassene Armbrust auf.
»Gib mir deine restlichen Bolzen, Leesil.«
Er löste den Köcher vom Rücken und reichte ihn ihr. Einige der Bolzen waren am mit Federn ausgestatteten Ende gesplittert oder abgebrochen, aber drei ließen sich noch verwenden. Leesils Blick blieb auf die Wand des Foyers gerichtet.
»Gehen wir«, sagte Magiere.
»Nein«, widersprach er.
Er näherte sich der Wand, der Chaps Interesse gegolten hatte, und strich mit den Fingerkuppen langsam darüber hinweg. Dann trat er wieder durch die Tür nach draußen und sah sich die linke Seite des Gebäudes an.
»Leesil!«, stieß Magiere verärgert hervor.
Er hob die Spitze der linken Klinge wie einen Zeigefinger vor den Mund und bedeutete ihr damit, still zu sein.
»Die Mauer ist zu breit«, flüsterte er, und zeigte zur linken Seite des Hauses.
Magiere folgte ihm nach draußen und sah sich die linke Flanke des Gebäudes an. Kein Zweifel: Dort war die Wand links neben der Tür ein ganzes Stück länger als drinnen. Sie runzelte verwundert die Stirn und fragte sich nach dem Grund dafür.
Magiere sah Leesil an. Was versuchte er ihr mitzuteilen? Vorsichtig deutete er mit der Spitze der Klinge auf ihre Brust, und sie senkte den Blick.
Noch bevor sie das Glühen des Topas-Amuletts sah, fühlte sie ein Brennen in sich, den Beginn der Veränderung.
Ein Geräusch kam aus dem Foyer, von Stein, der langsam über Stein schabte. Ein Teil der Wand neben der Treppe schob sich nach vorn.
Ein von dunkelblonden Locken gesäumtes Gesicht spähte aus der Öffnung. Die Untote namens Saphir sah in Richtung Salon, lächelte erleichtert und trat durch den getarnten Zugang.
Als sie sich der Eingangstür zuwandte, schnappte sie erschrocken nach Luft und schrie: »Toret!«
Magiere zuckte zusammen und wirbelte herum. Sie hatte angenommen, dass Rattenjunge ebenfalls nach draußen gelaufen war, auf der Suche nach einem Weg in die Kanalisation, aber vielleicht befand er sich noch im Haus. Warum sonst rief seine übertrieben geschminkte Mätresse nach ihm?
Saphir wollte zur Tür in der Wand zurückspringen, aber Magiere trat sie zu.
Der Zugang schloss sich, klemmte Saphirs Arm ein, und Magiere holte mit ihrem Falchion aus. Saphir kreischte, duckte sich und riss den Arm frei – Magieres Klinge traf nur Stein.
Dies war die kleine Hure, die auf Leesils Schoß gesessen hatte.
»Durchsuch die oberen Stockwerke«, sagte sie zu Leesil. »Sie ist nicht allein.«
»Aber Chane …«, begann Leesil.
»Ich will nicht, dass mich jemand von hinten angreift!«, rief sie und folgte der durch den Flur fliehenden Saphir.
Die Untote stürmte am Geländer der in den Keller führenden Treppe vorbei. Magiere schlug erneut mit ihrem Falchion zu, aber Saphir wich zur Seite, und die Klinge zerfetzte das Holz des Geländers. Torets Flittchen erreichte den Salon und huschte an der Wand entlang, hinter ein Samtsofa. Magiere folgte ihr dichtauf und schwang ihre Waffe – die Klinge schnitt in die Rückenlehne des Sofas.
Als sie das Falchion aus dem Diwan zog, versuchte Saphir, den Torbogen des Salons zu erreichen, aber Magiere trat ihr in den Bauch. Saphir taumelte in ihrem langen Gewand, packte eine cremefarbene Porzellanvase und warf sie.
Magiere wich aus, und die Vase zerschellte an Saphirs großem Porträt. Entschlossen näherte sie sich der Untoten. Saphir kreischte erneut und flüchtete sich hinter ein anderes Sofa. Magieres Falchion zerschlug erneut ein üppiges Polster und trieb die Untote damit zur gegenüberliegenden Ecke des Raums.
In Magieres Mund nahm der vertraute Schmerz zu, aber sie versuchte, nicht darauf zu achten. Diesmal sollte es keinen wilden Zorn geben, keinen Verlust an Kontrolle über sie selbst. Sie wollte bei vollem Bewusstsein bleiben und jeden einzelnen Moment erleben. Sie räumte dem inneren Brennen und der Blutgier gerade genug Platz ein, um in der Dunkelheit besser sehen zu können.
Dieses Geschöpf hatte auf Leesils Schoß gesessen.
Saphir sah sich verzweifelt um.
Magiere schlug zu, und ihr Falchion zertrümmerte den kleinen Eichentisch rechts von Saphir, die zurückwich und wieder schrie.
Magiere kannte ebenso wenig Erbarmen wie Saphir ihren Opfern gegenüber. Diese Untote hatte einen Hauswächter des »Eschenwald« gedankenlos getötet, und jetzt flehte sie um Gnade, so wie ihre Opfer um Gnade gefleht hatten. Wie war es diesem armseligen Geschöpf gelungen, in der Nacht zu überleben?
Saphir trat gegen die Reste des Tischs, doch das lange Kleid behinderte sie, und Magiere stieß die Überbleibsel des Tischs einfach beiseite. Die Untote wollte erneut loslaufen, zum nahen Torbogen, aber mit der freien Hand packte Magiere ihr Haar und riss sie zurück.
»Dreh dich um«, sagte sie. »Sieh mich an.«
Saphir starrte in Magieres schwarze Augen und schluchzte mit bebenden roten Lippen. Doch seltsamerweise lösten sich keine Tränen aus den Augen der Untoten.
Mit der linken Hand hielt Magiere Saphirs Haar fest, und mit der rechten schwang sie das Falchion.
Nein!, formten Saphirs Lippen, und sie hob einen Arm, um sich zu schützen.
Magiere schlug mit aller Kraft zu. Ihre Klinge traf den Unterarm der Untoten und durchtrennte ihn, schnitt dann durch den Hals – ein letztes Schluchzen verklang abrupt. Die Hand mit dem Armstumpf fiel zu Boden.
Magieres linke Hand hielt noch immer das Haar, und ihr Blick blieb auf das blasse, geschminkte Gesicht gerichtet, als der Körper der Hand folgte. Der Kopf hing in ihrer Hand, und schwarze Flüssigkeit tropfte auf den Teppich.
Magiere stand da und hörte plötzlich ihr eigenes Keuchen. Hasserfüllt starrte sie in das bleiche, leere Gesicht.
Dieses Ding hatte es auf Leesil abgesehen gehabt.
Der Raum trübte sich um sie herum, obwohl sie mit ihrem verbesserten Sehvermögen noch immer Einzelheiten in der Dunkelheit erkennen konnte. Als sie den Blick senkte, stellte sie fest: Ihr Topas-Amulett glühte nicht mehr.
Magiere ließ den Kopf auf die Leiche fallen.
Das Geräusch von Schritten lenkte sie ab – Leesil eilte ins Zimmer, gefolgt von Chap. Er ging sofort neben der Toten in die Hocke, starrte auf sie hinab und streckte die Hand nach dem Schädel aus.
Magiere wollte ihn daran hindern – dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, Beweise für den Stadtrat zu sammeln –, aber er schüttelte den Kopf.
»Vielleicht brauche ich dies«, sagte er schlicht.
Er nahm die dunkelblaue Handtasche der Toten, steckte den Kopf hinein und band sich die Tasche an den Gürtel. Dann holte er einen Feuerstein hervor, schlug ihn gegen seine Klinge und entzündete die mitgebrachten Fackeln. Eine reichte er Magiere.
»Such Chane und hol Wynn zurück«, sagte Leesil. »Chap hat seine Spur gefunden und ist ihm zum ersten Abflussgitter in der Straße gefolgt. Ich weiß, wohin Rattenjunge verschwunden ist.«
Magiere bekam gar keine Gelegenheit, eine Frage an ihn zu richten. Leesil richtete sich auf, verließ den Salon und betrat das Foyer. Magiere folgte ihm zur Öffnung in der Wand. Dahinter führten schmale steinerne Stufen nach oben und unten.
»Chap hat es bereits bestätigt«, sagte Leesil und sah über die nach unten führenden Stufen. »Rattenjunge gehört mir.«
»Nimm Chap mit«, erwiderte Magiere. »Und dies.«
Sie nahm die Kette mit dem Topas-Amulett ab und machte Anstalten, sie Leesil um den Hals zu legen. Er wollte sie daran hindern, doch sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, ich brauche sie nicht mehr«, erklärte sie mit einem Blick zurück in den Salon. »Ich fühle jetzt die Präsenz von Untoten, wenn sie nahe sind. Falls wir uns aus den Augen verlieren, treffen wir uns bei den Weisen.«
Leesil nickte und winkte Chap in den Geheimgang. Als Magiere zur Eingangstür gehen wollte, hielt er sie am Arm fest.
Sie sah ihn an und beobachtete, wie sein Gesicht so ernst wurde wie nie zuvor. Dies war ein Leesil, den sie nicht kannte.
»Bleib am Leben«, sagte er.
Magiere spürte plötzlich Kälte tief in ihrem Innern.
Leesil jagte nicht mehr. Dies war Rache. Oder der Wunsch eines Narren, etwas in Ordnung zu bringen, was er für einen Fehler aus der Vergangenheit hielt. Vielleicht hatte Magiere immer davon gewusst, in irgendeinem Winkel ihres Selbst, und sie begriff: Sie konnte ihn nicht aufhalten.
»Du auch«, sagte sie.
Magiere eilte nach draußen, die Stufen der Veranda hinunter und auf die Straße. Ihr Ziel war das erste Abflussgitter.
Aus den Schatten zwischen zwei Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete Sgäile die Ereignisse mit wachsender Verwirrung. Er war dem Renegaten und dem Majay-hì den ganzen Tag gefolgt, als sie sich in einem der reicheren Stadtviertel Häuser angesehen hatten. Den Grund dafür kannte er nicht.
Er hatte den Wunsch des Aoishenis-Ahâre, des Ältesten Vaters, bereits missachtet, konnte die Angelegenheit aber nicht ruhen lassen. Er hatte nicht die ganze Wahrheit erfahren und fast das Blut eines Artgenossen vergossen, auch wenn es nur ein Halbelf war. Und der Majay-hì würde keinem Verräter Gesellschaft leisten. Das war ausgeschlossen.
Als der Abend dämmerte, betraten das Renegatenhalbblut und seine Begleiter das Haus auf der anderen Straßenseite. Sgäile suchte sich einen geeigneten Beobachtungsposten und wartete. Eine ganze Zeit lang geschah gar nichts. Dann lief ein hochgewachsener Mann aus dem Haus, mit einer in einen grauen Umhang gehüllten Frau über der Schulter; er hob ein Gitter in der Straße und kletterte durch den Abwasserschacht in die Kanalisation. Kurze Zeit später erschienen der Renegat, die menschliche Frau und der kleine Junge. Letzterer lief über die Straße fort, und jetzt eilte die Frau zu dem Abwassergitter, das zuvor der hochgewachsene Mann angehoben hatte. Sie kletterte ebenfalls in die Tiefe.
Sgäile wartete noch etwas länger, aber das Halbblut kam nicht aus dem Haus. Der Majay-hì blieb ebenfalls drinnen. Schließlich schlich der Elf aus dem Versteck und näherte sich dem Gebäude, dessen vordere Eingangstür halb offen stand.
Eine kurze Bewegung brachte ein Stilett in seine rechte Hand. Auf leisen Sohlen betrat er das Haus und ging lautlos durch den Flur, vorbei an den Treppen, sah sich dabei immer wieder um. Als er einen Torbogen auf der rechten Seite passierte, bemerkte er einen kopflosen Leichnam auf dem Boden. In dem Raum herrschte ein heilloses Durcheinander.
Sgäile blieb abrupt stehen und horchte in die Finsternis, vernahm aber keine Geräusche im Haus. Als er sich wieder der Eingangstür zuwandte, glitt sein Blick über die Wand am Ende der Treppe.
Sie wies einen Riss auf.
Der dünne Spalt verriet eine getarnte Tür, die nicht ganz geschlossen war.
Sgäile zog sie auf, schob sich durch die Öffnung und ging die schmalen steinernen Stufen hinunter.