19

Chane platschte durch den dunklen Kanalisationstunnel, mit Wynn auf der Schulter, und folgte dem Strom des knöcheltiefen Schmutzwassers in Richtung Bucht. Er wollte in einem Armenviertel des dritten Kreises nach oben zurückkehren und in den dunklen Straßen verschwinden. Mit ein wenig Glück fiel Toret der Dhampir und dem Halbelf zum Opfer, was für ihn die lang ersehnte Freiheit bedeuten würde.

Wynn würgte mehrmals, entweder wegen des Gestanks oder weil seine Schulter immer wieder gegen ihren Magen stieß, als er durch das dreckige Wasser stapfte.

»Chane, bitte«, brachte sie hervor. »Setz mich ab.«

Er blickte zurück, sah aber nur kahle Steinwände, und so kam er Wynns Aufforderung nach. In der einen Hand hielt sie noch immer den glühenden Kristall.

»Wir müssen uns beeilen«, drängte Chane. »Wenn Toret entkommt und uns folgt, tötet er dich. Oder er befiehlt mir, dich zu töten, und ich bin gezwungen, seinen Anweisungen zu gehorchen.«

Er griff nach Wynns Unterarm – in der anderen Hand hielt er nach wie vor das lange Schwert – und zog sie weiter. Die Brust schmerzte noch immer dort, wo ihn der Armbrustbolzen getroffen hatte, und die von den Zähnen des Hunds stammenden Wunden in den Beinen brannten. Wynn versuchte, sich loszureißen, aber er schloss die Hand noch fester um ihren Unterarm und erlaubte nicht, dass sie stehen blieb.

»Was sagst du da?« Furcht und Verwirrung erklangen in ihrer Stimme. »Lass mich los. Ich behindere dich nur. Allein kommst du schneller voran.«

Chane wünschte, er könnte sie allein mit der Kraft seines Willens dazu bringen, ihren Widerstand aufzugeben. Doch dann verließ ihn der Ärger.

Der Saum ihres Umhangs war durchnässt, was ihn schwerer machte, und Chane spürte, wie Wynn zitterte. Kaltes Wasser blieb ohne Wirkung auf ihn, aber sie lebte und litt daran. Ein Blick in ihr rundes, weiches Gesicht teilte ihm mit, dass die Kälte nur ein Grund für ihr Zittern war.

Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, und die Lippen bebten. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Die braunen Augen erwiderten Chanes Blick, sahen ihn aber nicht so an wie den Besucher, der aus intellektueller Neugier gekommen war, mit dem Wunsch, mehr zu erfahren und in aller Ruhe eine Tasse Tee zu trinken.

Furcht lag in Wynns Blick.

Chane ließ sie nicht los.

»Das Wesen, das dich auf der Treppe angegriffen hat, ist mein Schöpfer«, sagte er. »Es hat mich zu seinem Artgenossen und Sklaven gemacht, und ich muss allen seinen Befehlen gehorchen. Es kann spüren, wohin sein Diener verschwunden ist, und wenn er uns folgt und findet … Dann stirbst du, so oder so.«

»Du bist also ein … Vampir?«, fragte Wynn leise. »Du hast … Menschen getötet und ihr Blut getrunken?«

»Um zu überleben«, sagte Chane. »Toret machte mich zu einem lebenden Toten, weil er Geld und Schutz brauchte. Ich konnte ihm beides gewähren. Ich habe nicht darum gebeten, zu einem Vampir zu werden, aber ich akzeptiere, was ich bin, wie jedes andere Geschöpf.«

»Es ist also nicht deine Schuld?«, fragte Wynn.

Konnte sie verstehen?

»Es ist eine Frage des Blickwinkels«, sagte Chane. »Etwas für die Philosophen deiner Gilde.«

Er sah erneut durch den Tunnel zurück, fühlte sich von neuer Unruhe erfasst und ging weiter. Diesmal versuchte Wynn nicht, hinter ihm zurückzubleiben.

»Du könntest mich beim nächsten Gitter nach oben klettern lassen«, sagte sie zwischen schnaufenden Atemzügen. »Bitte, Chane, lass mich gehen.«

»Toret oder Saphir versuchen vielleicht, zu uns aufzuschließen«, antwortete er. »Es ist zu gefährlich.«

»Aber du hast gesagt, dass du Toret gehorchen musst, wenn er dich findet.« Als Chane still blieb, rief Wynn: »Wenn du ein Mörder bist, warum beschützt du mich dann?«

Chane zog sie schneller durchs schmutzige Wasser.

»Weil du dein Leben nicht mit sinnloser Arbeit vergeudest«, brummte er, als läge die Antwort auf der Hand. »Die meisten Menschen sind kaum mehr als Vieh, und ihr Tod bleibt ohne Folgen.«

Wynn wich zurück und überraschte Chane so sehr, dass er fast stehen geblieben wäre.

»Du hast mich gerettet, weil ich zu den Weisen gehöre?«, fragte sie. »Weil mein Kopf voller Wissen ist, das du nützlich findest?«

»Natürlich«, sagte Chane.

Aber es war nur die halbe Wahrheit, und für die andere Hälfte war dies weder die richtige Zeit noch der geeignete Ort. Als Chane noch einmal zurücksah, bemerkte er weit hinten im Tunnel ein flackerndes Licht.

»Eine Fackel«, sagte Wynn. »Würden Saphir oder Toret eine Fackel tragen?«

»Nein.«

»Dann ist es Magiere oder Leesil. Oder sie sind es beide. Lass mich frei und flieh.«

Chane sah Wynn an.

Wenn er sie gehen ließ … Vielleicht gewann er dadurch der Dhampir und dem Halbelf gegenüber ein wenig Zeit. Aber sie würden jetzt nicht umkehren, nicht einmal wenn sie Wynn fanden. Chane hatte bisher nicht daran gedacht, Wynn als Werkzeug oder Geisel zu verwenden, aber vielleicht ergab sich eine solche Notwendigkeit.

Er zog Wynn einmal mehr mit sich, bis er eine Stelle erreichte, wo der Tunnel auf einen breiteren Kanal stieß. Es schien einer der Hauptkanäle zu sein, die zur Bucht führten, mit erhöhten Gehwegen auf beiden Seiten. In einer fernen Ecke sah Chane eine rostige Leiter, die durch einen Schacht nach oben führte, vermutlich zu einem weiteren Abwassergitter in einer Straße der Stadt. Er hob Wynn auf den linken Gehsteig und trat neben sie.

»Sei still«, sagte er. »Und steck deinen Kristall ein.«

»Chane, bitte nicht«, erwiderte Wynn in einem flehentlichen Ton.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und hob das lange Schwert. Wynn kauerte sich an der Wand nieder und ließ den Kristall in ihrer Tasche verschwinden. Chane bezog vor ihr Aufstellung, beobachtete den Tunnel, durch den sie gekommen waren, und hielt nach Licht Ausschau, nach Anzeichen dafür, dass die Verfolger näher kamen.

Sein Plan hatte vorgesehen, dass die Dhampir Toret tötete und ihm damit die Freiheit gab, doch dazu war es nicht gekommen. Jetzt musste Chane diesen Plan aufgeben.

Toret sprang aus dem Kellergang in den Kanalisationstunnel. Im Dunkeln sah er in beide Richtungen, ohne eine Spur von Saphir zu entdecken. Sie hatte einen guten Vorsprung, und er musste nun eine Entscheidung treffen.

Sollte er sich in Richtung der ärmeren Stadtviertel beim Außenkreis wenden, oder war es besser, die Bucht als Ziel zu wählen? Welchen Weg hatte Saphir genommen? Er hatte sie aufgefordert, in Richtung Bucht zu fliehen, aber sie konnte manchmal … eigensinnig sein.

Toret schloss die Augen, stellte sich Saphir vor … und fühlte nichts.

Saphir hatte sich bestimmt gegen die Armenviertel entschieden. Sie mochte die reichen Teile der Stadt nach Sonnenuntergang. Toret hatte gehofft, dass Saphir vielleicht versuchen würde, einen Bereich der Stadt aufzusuchen, wo weniger Leute unterwegs waren. Zum Beispiel den mittleren Händlerdistrikt, wo die meisten Läden abends schlossen.

Er wandte sich im Tunnel nach Süden.

Durch das Waten im Schmutzwasser kam er nur langsam voran, aber Saphirs langes Gewand hatte sich bestimmt vollgesaugt und wurde damit zu einer erheblichen Behinderung für sie. Sicher war er schneller als sie, doch er sah sie nicht und spürte nicht einmal ihre Präsenz. Hatte er die falsche Richtung gewählt? War sie so dumm gewesen, nach Norden zu fliehen, hinauf zum Innenkreis?

Toret drehte sich nachdenklich um und sah Fackelschein im Tunnel weiter hinten.

Saphir trug keine Fackel.

Hatte der Hund das Halbblut in den Keller geführt? In Miiska hatte das Tier Rashed bis zum Lagerhaus verfolgt. Auf schreckliche Weise ergab es einen Sinn. Toret spannte die Muskeln, gefangen zwischen Furcht und Zorn.

Ausgerechnet Leesil folgte ihm.

Er floh weiter durch den Tunnel und suchte nach einer Stelle, wo er warten und sich auf die Lauer legen konnte. Wenn er diesmal entkommen wollte, so musste er sicherstellen, dass niemand in der Lage war, ihm zu folgen.

Er würde dafür sorgen, dass der Hund zusammen mit den Abfällen der Stadt verrottete.

Chap sprang aus Torets Keller und landete mit einem Platschen in der Mitte des Abwasserkanals.

»In welche Richtung?«, fragte Leesil.

Der Hund knurrte und wandte sich nach Süden, gegen den Strom des Wassers. Leesil sprang ebenfalls nach unten, und Gestank erwartete ihn, vermischt mit dem Geruch von Salzwasser. Er rückte die Tasche mit Saphirs Kopf an seinem Gürtel nach hinten und folgte Chap.

Rattenjunge würde die Stadt nicht verlassen – zumindest nicht in einem Stück.

Die weißen Härchen an Leesils Nacken richteten sich auf, als er das Gefühl bekam, beobachtet zu werden. Er sah nach hinten und hob die Fackel, doch ihr Licht fiel nur auf feuchte Wände und langsam Richtung Bucht fließendes Wasser.

Nach einer Weile fragte sich Leesil, ob Chap wirklich einer Fährte folgte. Magieres Topas-Amulett hing an seinem Hals, und ein mattes Glühen ging davon aus. Ein Untoter befand sich hier unten, aber sie schlossen nicht zu ihm auf. Wie konnte Chap Rattenjunge durch fließendes Wasser folgen?

Weiter vorn führte der Tunnel durch einen breiten Torbogen und stieg abrupt an. Als Leesil näher kam, bemerkte er oben am Torbogen spitze Zacken, die sich bei einem weiteren Tor am Ende der Steigung wiederholten. Erhöhte Gehwege säumten das nach oben führende Tunnelstück, und Leesil hörte das Plätschern von Wasser. Chap passierte das erste Tor und setzte den Weg fort. Ein gelbes Glühen wurde neben Leesil von der Wand reflektiert, und er senkte den Blick.

Das Topas-Amulett leuchtete heller.

»Komm zurück, Chap!«, rief er.

Ketten rasselten im Tunnel, und die Spitzen eines Falltors zielten auf Leesils Kopf. Rasch sprang er zurück.

Leesil glaubte, einen Schemen zu sehen, der sich unter dem Eisentor zur anderen Seite rollte, bevor es heruntersauste. Salzwasser spritzte, und er schirmte seine Augen ab. Weiter oben an der Steigung hob Chap den Kopf, und sein Heulen hallte weit durch die Kanalisation.

Leesil leuchtete mit der Fackel und sah durchs Tor. Hinter dem oberen Tor kehrte der Tunnel in die Horizontale zurück und führte in einen großen, runden Raum. Es ließ sich nicht erkennen, ob es dort weitere Tunnel gab. Er hörte Chaps Knurren, doch der Hund befand sich inzwischen hinter der höchsten Stelle, außer Sicht.

Eine vertraute Stimme erklang.

»Schade, dass dich das Tor nicht getroffen hat.« Rattenjunges fast schrilles Lachen hallte von den steinernen Wänden wider. »Jetzt kannst du beobachten, wie ich das Tier töte – du wirst nie wieder mit seiner Hilfe meine Spur finden.«

»Chap, komm zum Tor!«, rief Leesil, aber er hörte bereits das Platschen von Füßen in seichtem Wasser und wusste, dass sich Rattenjunge dem Hund näherte.

Chap war ein geborener Verfolger und Kämpfer, wie die Bärenhunde der Kriegsländer, die von Lords und Tyrannen für die Jagd auf Bären gezüchtet wurden. Jene Hunde scheuten keine Mühen, um der Beute zu folgen, und sie stürzten sich Hals über Kopf in den Kampf, wenn man sie nicht zurückhielt. Viele starben bei der ersten Jagd. Chap war sogar noch eigensinniger als die Bärenhunde.

Leesil fragte sich, welchen Zweck das Tor eigentlich erfüllen sollte. Weiter zur Bucht hin gab es andere, die von den Stadtwächtern geschlossen worden waren. Er suchte nach einer Möglichkeit, es zu öffnen, entdeckte aber nur Halterungen zu beiden Seiten. Eine von ihnen nahm die Fackel auf, und dann griff Leesil mit beiden Händen nach dem Tor und versuchte, es zu heben.

Es rührte sich nicht von der Stelle.

Chaps Knurren wurde lauter, ebenso das Platschen.

»Lass ihn in Ruhe!«, rief Leesil. »Komm zu mir.«

Selbst wenn Chap von seinem Gegner abließ – Rattenjunge verzichtete bestimmt nicht auf die Chance, den Hund zu töten.

Etwas huschte am zweiten Torbogen vorbei und ließ Leesil innehalten. Dort war es so dunkel, dass selbst er keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. Er nahm die Fackel und warf sie durch den Tunnel auf den erhöhten Gehweg, so weit er konnte. In ihrem Schein beobachtete er, wie Rattenjunge im oberen Tor um Chap herumsprang, dessen Fell durch das Licht der Fackel einen goldenen Ton bekam.

Rattenjunge wich zur Seite aus, schlug mit einem kurzen Schwert zu und verfehlte nur knapp Chaps Hals.

»Valhachkasej’â!«, fluchte Leesil und bedauerte, Vàtz nicht die Armbrust abgenommen zu haben, bevor der Junge losgelaufen war.

Chap sprang auf Rattenjunge zu und hinter ihn, schnappte nach seinem Knie. Der Untote schrie, wirbelte herum, trat und traf den Hund an der Seite. Chap fiel und geriet außer Sicht.

Das laute Platschen wiederholte sich.

Rattenjunge fauchte, hob sein Schwert und machte Anstalten, dem Hund zu folgen.

Leesil zog seine rechte Klinge und schlug auf die Gitterstäbe des Tors ein. Stahl traf auf Eisen, hinterließ aber nur eine kleine Scharte.

Rattenjunge sah in seine Richtung und grinste spöttisch, wandte sich dann wieder dem Hund zu. Leesil schlug erneut aufs Tor ein, und noch einmal, doch der Untote schenkte ihm keine Beachtung mehr.

Hinter dem Tor sauste ein silbriger Schemen von rechts heran.

Rattenjunges Kopf ruckte zur Seite, und er taumelte. Er richtete sich wieder auf und hob die freie Hand.

Ein Stilett aus hellem Metall steckte in seinem Hals.

Leesil beendete das sinnlose Einschlagen auf das Gitter und starrte verwundert. Auf diese Weise hätte er ebenfalls von einem Stilett Gebrauch gemacht, wenn es ihm sinnvoll erschienen wäre.

»Hör auf«, erklang eine glatte, fast melodische Stimme.

Durch das Echo des runden Raums konnte Leesil nicht feststellen, woher sie kam. Dann zeigte sich eine geisterhafte Erscheinung.

Rechts neben dem oberen Tor stand eine graue Gestalt, eine Kapuze über den Kopf gezogen und die unteren Zipfel des Mantels an der Taille miteinander verknotet. Zwischen den Fingern der linken Hand glänzte ein silberner Draht im Fackelschein. Er erinnerte Leesil an den Garrottendraht in seinem Werkzeugkasten, und plötzlich begriff er, um wen es sich handelte.

Um den Anmaglâhk aus der vergangenen Nacht.

Der Elf war ihm gefolgt und musste der Schatten gewesen sein, der sich zuvor unter dem herabkommenden Tor hindurchgerollt hatte. Das Stilett diente allein dazu, Rattenjunges Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Wer bist du?«, fragte Rattenjunge und zog sich die Klinge aus dem Hals. »Ein neuer Spielgefährte?«

»Du interessierst mich nicht«, sagte der Elf. »Lass den Hund in Ruhe.«

Die Worte schienen Rattenjunge zu verunsichern, aber Leesil glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Er zog seine zweite Klinge aus der Scheide.

»Töte ihn!«, rief er. »Feuer oder Enthauptung, es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.«

Der Elf achtete nicht auf ihn. Er drehte den Kopf unter der Kapuze und blickte in den runden Raum. »Bitte komm zu mir.«

Chap geriet in Sicht, kam näher und blieb ein oder zwei Schritte neben dem Tor stehen. Der Mann sah zum Hund, hielt die Hände offen an den Seiten und sagte etwas auf Elfisch, das Leesil nicht verstand.

»Er ist ein Untoter!«, stieß Leesil hervor. »Schlag ihm den Kopf ab!«

Zwei oder drei Sekunden lang war nur das leise Zischen der Fackel zu hören.

Rattenjunge schrie, ließ Schwert und Stilett fallen und stürzte sich auf den Elfen. Er prallte gegen ihn, und beide fielen ins schmutzige Wasser.

Leesil erwartete, dass Chap sich in den Kampf stürzte, doch der Hund blieb stehen, knurrte und beobachtete die beiden miteinander ringenden Gestalten. Rattenjunge hob die Hand, krümmte die Finger und schlug nach dem Hals seines Gegners – die Fingernägel zerrissen die Seite der Kapuze. Das von grauem Stoff umhüllte Bein des Elfen kam nach oben und traf Rattenjunges Kehle.

Leesil sah kaum mehr als aufspritzendes Wasser, als Rattenjunge fiel, und es folgte ein wildes Durcheinander, in dem sich keine Einzelheiten erkennen ließen. Als es endete, stand der Elf hinter Rattenjunge, der saß oder kniete, den Würgedraht um den Hals geschlungen.

Der Elf bewegte die Hände, und der Draht schloss sich fester um Rattenjunges Hals.

»Lass nicht los!«, rief Leesil. »Erledige ihn!«

Selbst im schwachen Licht der Fackel sah er, wie die Linie an Rattenjunges Hals dunkler wurde, als schwarze Flüssigkeit durch den Riss in der Haut quoll.

Der Untote griff nach hinten, bekam die Seite des Mantels zu fassen und zog den Elfen über sich hinweg. Als er ihn vorn hatte, trat Rattenjunge zu, und sein Gegner stieß gegen den Torbogen. Doch der Elf ließ nur einen der beiden Garrottengriffe los, und als sich der Draht abrupt vom Hals löste, hinterließ er einen tiefen Schnitt.

Rattenjunge taumelte zurück und hob beide Hände zur Kehle. Sein Blick blieb auf die große graue Gestalt gerichtet, als er im Wasser nach dem Schwert tastete.

»Geh«, sagte der Elf. »Geh und jage Menschen. Lass den Majay-hì in Ruhe.«

Chap schob sich langsam auf den kleinen Untoten zu.

Mit den Händen an der Kehle warf Rattenjunge Leesil einen letzten hasserfüllten Blick zu, drehte sich um, lief los und verschwand in der Dunkelheit.

»Nein!«, heulte Leesil und schlug mit seiner Klinge erneut auf das Gitter des Tors ein.

Gier nach Blut stieg in Magiere auf.

Mit hoch erhobener Fackel näherte sie sich der Stelle, wo der Tunnel auf den Hauptkanal traf, hielt mit der anderen Hand die Armbrust bereit. Als die Klinge von links kam, schlug sie sie mit der Fackel beiseite und trat rasch in den größeren Kanal.

Chane stand auf dem Gehsteig, Wynn direkt hinter ihm. Er zog sie nach vorn und hielt ihr dabei den Mund zu. Die junge Weise war so klein, dass ihr Kopf dem großen Untoten kaum bis zum Schlüsselbein reichte. Magiere spürte, wie ihre Zähne zu schmerzen begannen.

»Lass sie los«, forderte sie Chane auf.

Sie warf die Fackel zum Gehsteig auf der anderen Seite und zog ihr Falchion. Chanes Stimme überraschte sie mit einem ruhigen, höflichen Klang.

»Ist Toret tot?«

Magiere interessierte sich nicht für seine Frage. Sie dachte nur daran, ihm den Kopf abzuschlagen, und mit dieser Absicht watete sie durchs Wasser auf ihn zu.

»Lass sie los. Es sei denn, du willst dich mit nur einem Arm zur Wehr setzen.«

»Wie willst du gegen mich kämpfen, ohne zu riskieren, deine Freundin zu verletzen?«

Magiere antwortete, indem sie mit der Armbrust schoss. Der Bolzen bohrte sich in Chanes entblößte Wade, und er schrie auf, als Rauch aus der Wunde quoll. Schmerzerfüllt krümmte er sich zusammen, löste die Hand von Wynns Mund und griff nach dem Bolzen. Die junge Weise sprang davon.

Magiere warf die leere Armbrust vor Wynn auf den Gehsteig. Es wäre ein perfekter Moment gewesen, Chane anzugreifen, aber erst musste Wynn besser geschützt sein. Als Chane den Bolzen aus der Wade zog und ins fließende Wasser des Tunnels trat, schnitt Magiere mit ihrem Falchion den Riemen des Köchers durch und warf ihn der Armbrust hinterher.

»Lade die Waffe«, wies sie Wynn an und trat vor, zwischen den untoten Adligen und die junge Frau.

In Chanes Gegenwart veränderte sich etwas. Zuvor, im Gasthaus und in dem zweistöckigen Gebäude, hatte sie Blutgier und den Willen zur Flucht gefühlt. Nun spürte sie Entschlossenheit.

»Hört auf, ihr beide!«, rief Wynn. »Chane, sie ist einzigartig – tu ihr nichts. Magiere, dies ist nicht seine Schuld. Toret hat ihn gegen seinen Willen zum Vampir gemacht.«

Sinnlose Worte. Doch als Magiere ihr einen Blick zuwarf, sah sie, dass Wynn die Armbrust mit einem der beiden letzten Bolzen lud.

»Schieß auf ihn, wenn ich es dir sage«, brummte Magiere.

Wahrscheinlich konnte Wynn gar nicht mit der Waffe umgehen, aber die Worte galten auch Chane. Der Untote ging langsam auf sie zu und hielt nach einer Blöße Ausschau.

»Sie wird nicht auf mich schießen«, sagte er mit ruhiger Gewissheit.

Bisher hatte sie Wynn für eine Geisel gehalten, aber offenbar gab es mehr zwischen ihnen. Und doch: Aus den Augenwinkeln sah Magiere, dass die junge Weise die Armbrust auf Chane richtete.

Er hob den Arm und schlug zu, versuchte wie vor ihm Rashed, Magieres Verteidigung allein mit Kraft zu durchbrechen. Die Wucht des Hiebes war enorm, und Magiere sank auf ein Knie, als sie ihn parierte. Chane spielte nicht mehr.

Sie selbst hatte es von Anfang an ernst gemeint.

Magiere schlug ebenfalls zu und zielte auf Chanes Beine. Als er auswich, sprang sie zurück, um etwas Distanz zu gewinnen. Er griff sofort wieder an, schwang das lange Schwert und schlug zu. Diesmal versuchte Magiere nicht, den Hieb abzublocken. Sie duckte sich zur Seite und stieß das Falchion wieder in Richtung der Beine. Er trat zurück, aber nicht schnell genug: Die Spitze der Klinge drang ins linke Knie. Er zog eine Grimasse, als Schmerz in der Wunde entflammte, und riss sein Schwert nach oben.

Die Schneide traf Magieres Lederhemd dicht unter dem Kragen und schnitt in die linke Schulter. Sie wankte zurück.

Chane verlagerte das Gewicht aufs unverletzte Bein, und Magiere spürte, wie Blut aus ihrer Schulterwunde quoll. Um ihren Gegner von sich abzulenken, rief sie:

»Wynn, schieß auf ihn!«

Chane versuchte, auf ihre andere Seite zu gelangen, aber er hinkte jetzt. Als er ihr Blut sah, veränderten sich seine Augen. Magiere fühlte die Gier in ihm, und auch noch etwas anderes.

Begehren.

Chane fand Befriedigung darin, seine Opfer zu töten und in den letzten Momenten des Lebens ihr Blut zu trinken.

Warum hatte Wynn nicht geschossen?

Chane sprang vor, holte im letzten Augenblick mit dem Schwert zu einem tiefen Schlag aus.

Als Magiere ihr Falchion senkte, um den Hieb abzuwehren, schloss er die freie Hand um ihren Unterarm, nutzte das eigene Bewegungsmoment und stieß sie gegen die Wand.

Magiere gab sich dem Zorn hin, der in ihr loderte, hob die Faust und rammte sie gegen Chanes Unterkiefer.

Der Schlag warf seinen Kopf zurück und war so wuchtig, dass auch sein Oberkörper nach hinten kippte. Dadurch löste sich seine Hand von Magieres Schwertarm. Er riss die Augen auf, als er taumelte, und an seinen Zähnen zeigte sich die eigene schwarze Flüssigkeit.

Magiere schlug mit dem Falchion nach seinem Kopf.

Chane hob das Schwert, und Metall prallte gegen Metall. Die lange Klinge zielte auf Magieres Kehle, und sie wich zur Wand zurück.

Während Schwert und Falchion sich noch gegenseitig blockierten, streckte Magiere die freie Hand nach Chanes Kehle aus, und die Finger bohrten sich in kaltes Fleisch. Ihr Rücken löste sich von der Wand.

Chane verlor langsam an Boden, blieb dann wieder stehen, drückte stärker mit dem Schwert gegen das Falchion, um das Gesicht seiner Gegnerin zu erreichen.

Plötzlich zuckte er zusammen, öffnete den Mund, schrie und wich so plötzlich zurück, dass Magiere das Gleichgewicht verlor und stolperte. Sie fing sich und beobachtete, wie Chane nach einem Bolzen tastete, der in seinem Kreuz steckte und von dem Rauch aufstieg. Sein Schock schien größer zu sein als der Schmerz.

»Wynn …?«, brachte er fassungslos hervor.

Magiere sah, wie die junge Weise den letzten Bolzen in die Armbrust legte. In diesem einen Moment der Ablenkung schlug Chane mit seinem Schwert zu und traf sie am rechten Oberschenkel.

Das Bein gab unter ihr nach, und sie sank im Wasser aufs Knie. Doch Chane konnte seinen Vorteil nicht nutzen, denn er taumelte, und noch qualmte die Wunde in seinem Rücken. Er stöhnte und griff danach.

Magiere stützte sich mit dem Falchion ab und kam wieder hoch, konnte das verletzte Bein aber nicht lange belasten. Chane war in keiner besseren Verfassung. Wenn sie nahe genug für einen Hieb an ihn herankam …

»Ziel auf den Kopf!«, rief sie Wynn zu.

Aber die junge Weise stand wie erstarrt da. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Die Welt schien stillzustehen. Alle drei musterten einander schweigend.

Wenn Wynn schoss, würde der Schmerz für Chane so groß werden, dass er sich nicht mehr verteidigen und auch nicht fliehen konnte. Wenn sie keinen Gebrauch von der Armbrust machte … Dann hinderte das verletzte Bein Magiere vielleicht daran, Chane zu erledigen.

Der große Untote sah die junge Weise an und schien in ihrem Gesicht nach etwas zu suchen.

»Wenn du dich Magiere näherst oder versuchst, deine Magie einzusetzen …«, sagte Wynn drohend. »Dann schieße ich.«

Chane wich überrascht und ungläubig einen Schritt zurück.

»Er ist ein Mörder, ein Ungeheuer!«, rief Magiere. »Schieß!«

Sie befand sich in einer ungünstigen Position: Um Chane zu erreichen, musste sie in Wynns Schussfeld treten.

»Schieß endlich, verdammt!«

Doch Wynn reagierte nicht, und ihr Blick blieb auf den Untoten gerichtet.

Chane sah sie an. Wieder veränderten sich seine Augen, und Trauer erschien in seinem Blick, als hätte er etwas Kostbares verloren. Der große Untote drehte sich um und floh durch den Tunnel.

Magiere wollte ihm folgen, doch schon nach dem ersten Schritt wäre sie fast ins Wasser gefallen. Sie drehte sich zu Wynn um.

»Was hast du getan?«

»Er ist vielleicht ein Mörder«, sagte Wynn leise und ließ die Armbrust sinken. »Aber ich nicht. Er hat mir das Leben gelassen – und dir ebenfalls.«

»Ihm blieb gar keine Wahl!«, erwiderte Magiere scharf.

Wynn verzog das Gesicht und ließ die Armbrust so fallen, als wäre sie etwas Ekliges. Dann trat sie vom Gehsteig hinunter ins Wasser und legte sich Magieres freien Arm um die Schulter.

»Du hast mir gesagt, dass wir wilde Tiere jagen«, sagte die junge Weise vorwurfsvoll.

»Du dummes … Mädchen«, entgegnete Magiere. Welche seltsamen Vorstellungen von der Welt hatte Wynn aus ihren staubigen Büchern gewonnen? »Sie sind nichts anderes.«

»Warum hat er mich dann am Leben gelassen?«

»Du warst sein Werkzeug.«

»Nein«, erwiderte Wynn mit Nachdruck. »Wir müssen jetzt die Kanalisation verlassen und deine Wunden behandeln.«

Magiere atmete tief durch und wollte dieser Närrin sagen, was sie von ihrer großen Ethik hielt. Das Geräusch von Schritten hinderte sie daran.

»So viel zum Thema Gnade«, sagte sie. »Er kommt zurück, um dies zu Ende zu bringen.«

Sie wollte gerade Wynn beiseiteschieben, als sie begriff: Die Schritte näherten sich nicht durchs Wasser, sondern über den Gehsteig. Sie waren ruhig und gleichmäßig, kamen durch den breiten Kanal und nicht aus dem Tunnel, durch den Chane geflohen war.

Magieres Nachtsicht war fast verschwunden. Der Zorn, der die Veränderungen in ihr herbeigeführt hatte, war Erschöpfung gewichen. Sie sah nur eine schemenhafte Gestalt auf dem linken Gehsteig, und einige Sekunden später hörte sie die Stimme.

»Einen Moment, wenn du gestattest …«

Es war ein dumpfe, kultivierte Stimme, und auf eine Weise vertraut, die Magiere veranlasste, sich zu versteifen.

Ein mittelgroßer Mann trat in den Lichtkreis der Fackel. Er trug einen schwarzen Mantel über schwarzer Kleidung – dadurch schien er mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen, und mit ihnen schlug er die Kapuze zurück. Magiere bemerkte weiße Flecken an den Schläfen.

Ihr Bein gab nach, und sie stützte sich auf Wynn.

»Welstiel?«

»Dies ist nicht unbedingt das, was ich erwartet habe«, sagte der Mann, achtete nicht auf Magieres Verwirrung und sah in den Tunnel, durch den Chane entkommen war. »Aber deine Fähigkeiten verbessern sich, und ich schätze, dies war trotz allem eine nützliche Lektion. Verlass dich auf niemanden, nur auf dich selbst, mit Ausnahme vielleicht des Halbbluts und seines Majay-hì

Seine Stimme. Sie klang vertraut, aber Magiere hörte auch einen drängenden Unterton darin.

»Was machst du hier?«

Er ging nicht auf die Frage ein und wandte sich an Wynn. »Geh.«

Magiere fühlte, wie die junge Weise den Arm etwas fester um ihre Taille schlang. Welstiel hob eine Hand und deutete in den Seitentunnel.

Seine ersten Worte fielen Magiere ein: Einen Moment, wenn du gestattest.

Sie schob Wynn in die Richtung, in die Welstiel zeigte, hinkte einige Schritte, hob die Armbrust auf und stützte sie auf den Schwertarm.

»Lauf«, wies sie die junge Weise an. »Such Leesil.«

Wynns Blick huschte verwirrt zwischen Magiere und Welstiel hin und her. Dann drehte sie sich um und stapfte durch den Tunnel.

Magiere richtete die Armbrust auf Welstiel.

In hilflosem Zorn beobachtete Leesil, wie Rattenjunge verschwand.

Chap lief die Steigung hinab, erreichte das Tor und steckte den Kopf durchs Gitter. Zum Glück war mit ihm alles in Ordnung. So sehr der Elf auch Dank dafür verdiente – Leesil war viel zu wütend.

»Öffne das verdammte Tor!«, rief er.

Der Elf stand unter dem zweiten Torbogen, warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich dann zur Seite und geriet außer Sicht. Leesil hörte das Rasseln von Ketten, und langsam glitt das Tor empor. Es hatte sich kaum zur Hälfte geöffnet, als Leesil sich darunter hinwegduckte, die Steigung hinaufeilte und dabei die Fackel aufhob. Chap folgte dicht hinter ihm.

Der Raum hinter dem zweiten Torbogen war halbrund, und der Zugang befand sich an der geraden Seite. Rechts und links davon zweigten schmale Tunnel ab. Rattenjunge war vermutlich durch den linken geflohen. Der Elf stand auf der rechten Seite, drehte ein Rad aus Metall. Er betätigte einen Hebel und blockierte damit den Mechanismus, mit dem das untere Tor gehoben und gesenkt werden konnte.

Die Wände waren viermal so hoch wie ein durchschnittlicher Mensch groß. Hoch oben zeigte sich eine Öffnung; Wasser strömte dort hervor, platschte auf den Boden. Der Geruch nach Salz war hier stärker, und Leesil vermutete, dass sie sich unter der Salzmühle befanden, die vermutlich überschüssiges Salzwasser in die Kanalisation ableitete.

»Wir folgen ihm«, sagte Leesil zu dem Elfen. »Kommst du mit?«

Chap knurrte leise an der Öffnung des linken Tunnels, und der Elf beobachtete ihn verwundert.

»Ihr habt nur ein Ziel«, sagte er. »Ihr wollt die Untoten zur Strecke bringen. Warum?«

Leesil hatte keine Zeit dafür. Mit jeder verstreichenden Sekunde gewann Rattenjunge einen größeren Vorsprung.

»Weil sie die Lebenden töten«, antwortete er schnell. »Niemand sonst will und kann sie jagen, und deshalb machen wir das.«

»Menschen«, sagte Sgäile, und es klang abfällig. »Die Untoten trinken das Blut von Menschen und stammen von ihnen ab. Jenes Wesen erfüllt seinen Zweck, indem es die auf dieser Welt lastende Fäulnis verringert. Die Menschen haben sogar ihren eigenen Wahnsinn vergessen, mit dem sie die Welt einmal an den Rand des Abgrunds brachten.«

»Warum hast du mich, einen halben Menschen, dann nicht getötet?«, fragte Leesil. »Warum bist du mir überhaupt gefolgt?«

»Es kam zu einer Fehleinschätzung – unsere eigene Art töten wir nicht«, sagte der Elf. Offenbar fiel es ihm nicht ganz leicht, diese Worte zu sprechen, und dass sein Blick dabei auf Chap gerichtet blieb, ließ Leesil vermuten, dass noch mehr dahintersteckte.

»Du meinst morden« erwiderte er. »Du mordest, ebenso wie jene Ungeheuer.« Er deutete in den Tunnel, durch den Rattenjunge geflohen war.

»Hast du deshalb deine Eltern verlassen – um die Toten der Menschen zu jagen?«

Leesil versteifte sich. Was wusste dieser Elf von seiner Vergangenheit?

»Ich bin gegangen, weil mein Leben entsetzlich war und ich nicht mehr tun konnte, wozu Darmouth mich immer wieder zwang. Ich weiß, dass meine Eltern deshalb hingerichtet wurden.«

»Es ist mir gleich, was mit deinem menschlichen Erzeuger geschah«, sagte der Elf. »Aber Cuirin’nên’a ist eine Verräterin an ihrem Volk und seiner Zukunft. Sie wird nie wieder andere unsere Methoden lehren. Und es spielt keine Rolle, wenn du deine Zeit mit so bedeutungslosen Dingen wie dieser Jagd vergeuden willst.«

Chap knurrte leise und sprang Sgäile entgegen, der daraufhin zwei Schritte zurückwich. Aber Leesil achtete kaum darauf. Für einige Sekunden konnte er kaum atmen.

Sein Vater hatte seine Mutter Nein’a genannt, und das kam dem vom Elfen ausgesprochenen Namen sehr nahe.

Chap sprang erneut vor, fletschte dabei die Zähne, und der Elf drückte sich an die Wand. Er sah Leesil an, als wäre er etwas Unangenehmes, das sich nicht ignorieren ließ.

»Ich bin aus einem bestimmten Grund zu dir gekommen«, sagte er widerstrebend, ohne Chap aus den Augen zu lassen. »Du sollst wissen: Stell dich uns nie in den Weg, oder unser gemeinsames Blut wird dich nicht vor dem Schicksal eines Verräters bewahren.«

Leesil winkte Chap zurück, und der Hund ließ von Sgäile ab. Der Elf löste sich von der Wand und wandte sich zum abschüssigen Teil des Tunnels.

»Wie heißt du?«, fragte Leesil.

»Sgäilheilleache á Oshâgäirea gan’Coilehkrotall«, sagte er, und es klang fast wie eine Herausforderung an Leesil, den Namen zu wiederholen. »Sgäile, wenn das leichter für dich ist, obwohl es dir nichts nützt. Wem auch immer du begegnest, niemand wird mich kennen.«

Er ging einige Schritte den Tunnel hinunter und sah dann zurück.

»Du warst mein Auftrag, aber du bist keine Gefahr für uns. Du bist ein Anmaglâhk und doch kein Verräter. Geh deinen Weg und störe nicht den unseren.«

Sgäile drehte sich um und verschwand in der Kanalisation.

Chaps Knurren holte Leesils Aufmerksamkeit zurück. Der Hund stand vor dem Tunnel, durch den Rattenjunge entkommen war. Leesil wollte ihn betreten, zögerte aber und sah noch einmal dem Elf hinterher.

Sgäiles Worte hallten in ihm wider und schufen einen Schmerz, der ihn fast schreien ließ. Er lief ihm nach, und seine Füße platschten durchs Wasser, aber der Elf war bereits fort.

Unsere eigene Art töten wir nicht … Sie wird nie wieder andere unsere Methoden lehren.

Wenn die Elfen keine Angehörigen ihres Volkes töteten, Verräter aber bestraften …

Wo befand sich Cuirin’nên’a? Was war mit seiner Mutter geschehen?

Toret lief, und seine Arme schwangen wild vor und zurück – er schaffte es gerade so, das Schwert festzuhalten.

Elfen. Überall verdammte Elfen.

Er ließ sich vom fließenden Wasser den Weg zeigen und floh in Richtung Bucht.

Die Bolzenwunde im Kopf brannte noch immer, und der Draht des Elfen hatte ihm tief in den Hals geschnitten. Das eine Auge war noch immer nicht ganz geheilt, und er brauchte dringend Blut.

Chanes Lektionen … Sie erschienen ihm jetzt nutzlos. Herr der eigenen Familie und des Hauses – er hatte wie Rashed sein wollen, und eine solche Rolle erforderte Waffengeschick. Doch selbst mit überlegener Kraft und Schnelligkeit konnte er in zwei Monden nicht erreichen, was ein Schwertkämpfer über Jahre hinweg lernte. Welch ein Narr er gewesen war.

Chane andererseits … Er konnte sich sehr gut verteidigen, aber er hatte ihn einfach der Dhampir und dem Halbblut überlassen. Toret wünschte sich nur eins: Er wollte Saphir finden und diesen Ort verlassen.

Er lief so schnell er konnte. Saphir musste unweit der Bucht wieder in die Stadt hinaufgestiegen sein, doch er spürte ihre Präsenz noch immer nicht, wohin er sich auch wandte. War es ihr irgendwie gelungen, die Stadt ganz zu verlassen? Das hätte erklärt, warum es ihm nicht gelang, sie zu fühlen.

Weiter vorn neigte sich der Tunnel nach unten. Kurz darauf stellte Toret fest, dass er ziemlich steil in die Tiefe führte das Wasser floss schneller. Als er die Stelle erreichte, wo das starke Gefälle begann, sah er das Ende des Tunnels und die Bucht.

Ein eisernes Tor versperrte den Ausgang, und Stimmen erklangen dort – viele Stimmen.

Toret schlich noch etwas weiter durch den Tunnel, ging dann in die Hocke und horchte. Stadtwächter standen draußen und bewachten die Öffnung des Abflusskanals. Es mussten mindestens sieben Männer sein. Toret kehrte nach oben zum horizontalen Tunnel zurück und ging in die Richtung, aus der er gekommen war.

Die anderen Öffnungen bei der Bucht waren sicher ebenfalls bewacht, und daraus schloss er, dass Saphir in die Stadt entkommen sein musste. Wenn sie den gleichen Weg eingeschlagen hatte wie er … Er war an mehreren nach oben führenden Schächten vorbeigekommen. Vermutlich war sie so weit wie möglich durch die Tunnel geflohen und dann durch den letzten Schacht geklettert, um sich in der Stadt zu verbergen. Er dachte daran, wie sehr sie sich fürchtete, so ganz allein.

Bei der nächsten Abzweigung fand Toret die eisernen Sprossen einer Leiter. Ihm war mittlerweile jeder Weg nach oben recht. Als er die Hand nach einer Sprosse ausstreckte, tanzte ein gelbes Licht über die Wand.

Toret wich zur Mauer zurück und blickte durch den Tunnel.

Das Licht ging von einem glühenden Edelstein am Hals des Halbelfs aus, der gerade mit dem Hund die Abzweigung erreichte.

Leesil warf die Fackel auf den Gehsteig des nächsten Tunnels und lieg auf Toret zu, beide Klingen gezückt. Der Hund knurrte, sein Fell war nass und verfilzt.

Toret scherte sich nicht mehr darum, ob das Halbblut starb oder nicht. Er hatte dies alles satt, wollte nur noch Saphir finden und die Stadt verlassen. Im Sumanischen Reich würden seine Geliebte und er sicher sein und so oft auf die Jagd gehen, wie sie wollten. Er brauchte nur die Leiter hochzuklettern – dann konnte er in die Stadt entwischen, bevor ihn das Halbblut erreichte. Er vertraute dabei auf seine Schnelligkeit.

Leesil sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Ich habe etwas für dich.«

Er nahm beide Klingen in eine Hand und holte eine dunkelblaue Tasche hinter dem Rücken hervor. Verwirrung erfasste Toret, als der Halbelf etwas aus der Tasche zog und hob.

Das Halbblut hielt Saphirs Kopf in der Hand. Schwarze Flüssigkeit klebte am weit aufgerissenen Mund und an den blassen Wangen.

Leesil bereitete sich innerlich auf Rattenjunges Angriff vor.

Der kleine Untote senkte nur den Schwertarm, bis die Spitze der Klinge ins schmutzige Wasser eintauchte. Fassungslos starrte er mit dem einen unverletzten Auge und schüttelte langsam den Kopf.

»Unmöglich«, brachte er hervor. »Sie ist vor mir durch die Kanalisation geflohen. Du kannst sie nicht gefunden haben. Es ist ein Trick.«

Leesil warf ihm den Kopf zu und nahm die zweite Klinge in die freie Hand.

Saphirs Kopf traf Rattenjunge am Bauch, und er schloss die Arme darum, ohne das Schwert fallen zu lassen.

»Sieh ihn dir genau an«, sagte Leesil.

Rattenjunge starrte auf Saphirs blonde Locken, von ihrer eigenen schwarzen Flüssigkeit verschmiert. Zwei oder drei Sekunden lang reagierte er nicht und weigerte sich, die Wahrheit anzuerkennen. Dann verzog er das bleiche Gesicht zu einem lautlosen Schluchzen.

»Das ist für Beth-rae!«, stieß Leesil hervor. »Du hast ihr in Miiska mit deinen Fingernägeln die Kehle aufgerissen, erinnerst du dich? Und Eliza. Du hast sie tot hinter dem Haus zurückgelassen, wo ihr Bruder Brenden sie fand.«

In Leesil brodelte Zorn, als er an die von Rattenjunge ausgelöschten Leben dachte.

»Wie fühlt es sich an, jemanden zu verlieren?«, flüsterte er.

Rattenjunge blieb nicht länger still. Er schrie, ließ den Kopf los, sprang vor und schwang voller Wut das Schwert.

Leesil hielt seinen Zorn unter Kontrolle, als er zur Seite trat. Er brauchte nur eine Gelegenheit, Rattenjunges Hals zu treffen.

Chap heulte und näherte sich.

»Bleib zurück!«, befahl Leesil.

Der Hund knurrte verärgert, wich aber zurück.

Rattenjunge holte erneut aus, und noch einmal. Leesil parierte die Hiebe – das kurze Schwert traf auf seine gewölbten Klingen und rutschte daran entlang.

Dem mörderischen Knirps fehlte es an Geschick und Raffinesse, aber er war stark und wütend, und Leesil musste vermeiden, in einen längeren Kampf verwickelt zu werden – es hätte ihn zu viel Kraft gekostet. Der Ausdauer von Untoten schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Doch als er sich zur Seite wandte und seinen Gegner damit zwang, in Bewegung zu bleiben, beobachtete er, wie Rattenjunge kurz schwankte.

Hinter Leesil knurrte Chap, aber der Hund wahrte Abstand. Rattenjunge schlug einmal mehr zu. Leesil parierte und sank im Wasser auf ein Knie. Mit dem anderen Bein trat er zu und traf Rattenjunges Kniebeuge.

Das Gelenk gab mit einem lauten Knacken nach, aber der Untote taumelte nur und griff erneut an. Leesil richtete sich unter dem abwärts gerichteten Hieb auf und hob seine Klinge. Sie stieß nicht gegen Metall, sondern schnitt in Rattenjunges Handgelenk.

Hand und Schwert flogen fort und fielen ins Wasser. Der Untote hob den Arm zu einem neuerlichen Hieb und starrte dann ungläubig auf den Stumpf.

Leesil trat nach Rattenjunges anderem Knie, und zwar mit aller Kraft. Erneut knackte es, noch lauter als beim ersten Mal. Er folgte der Bewegung des Beins, als der Fuß den Boden berührte, verlagerte sein Gewicht und schwang die zweite Klinge in Hüfthöhe. Rattenjunge wich hastig zwei Schritte zurück.

Er taumelte und wankte jetzt, zeigte aber keine Anzeichen von Schmerz. Sein Gesicht verriet nur zornige Ungläubigkeit. Die untere Hälfte seines Kasacks war zerfetzt, und schwarzes Blut quoll aus dem Bauch.

Leesil hob die linke Klinge zur Abwehr und hielt die rechte tief und bereit. Rattenjunge sprang vor und streckte die eine Hand, die ihm noch geblieben war.

Er war so schnell, dass sich Leesil nicht rechtzeitig ducken konnte. Dünne, kalte Finger schlossen sich um seinen Hals, und spitze Fingernägel bohrten sich ihm tief in die Haut.

Der Griff lockerte sich kurz, wurde dann schmerzhaft fest und lockerte sich erneut.

Leesil rang nach Atem und wusste, was geschah. Der kleine Mistkerl verlor Blut und wurde dadurch schwächer. Die Kraft der Untoten war also doch nicht unerschöpflich.

Rattenjunge öffnete den Mund und neigte den Kopf nach vorn. Leesil sah scharfe Zähne, die nach seinem Gesicht schnappten, und stieß die rechte Klinge nach oben. Ihre Spitze bohrte sich durch Rattenjunges Unterkiefer in den Mund. Der Untote erzitterte kurz, aber dieser kurze Moment genügte – Leesil machte von der linken Klinge Gebrauch.

Sie schnitt halb durch den Unterarm der Hand, die ihn am Hals gepackt hatte, und sofort lösten sich die Finger von der Kehle.

Der Untote schwang den Stumpf des rechten Arms, und Leesil duckte sich, gelangte dadurch an Rattenjunges Seite. Er ließ die rechte Klinge fallen, schloss die freie Hand um den linken Unterarm und schwang die ihm noch verbliebene Waffe.

Rattenjunge drehte den Kopf, und schwarze Flüssigkeit tropfte aus dem Mund.

Leesil schlug zu und legte sein ganzes Gewicht hinter den Schlag. Die Klinge traf den Hals des kleinen Untoten, schnitt durch Fleisch und Knochen.

Der kopflose Körper platschte ins Wasser.

Es platschte erneut, als Leesil keuchend auf die Knie sank. Die Kälte des Wasser nahm er überhaupt nicht wahr – wilde Freude erfüllte ihn. Es war jetzt still im Tunnel, abgesehen vom leisen Plätschern, mit dem kleine Wellen an den Gehsteig schlugen.

Er hatte gesiegt. Doch die Fehler seiner Vergangenheit waren damit nur zum Teil wiedergutgemacht.

Erschöpfung lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm, und eine Weile kniete er dort im Wasser, mit gesenktem Kopf, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich nahm er die Klinge, die er fallen gelassen hatte, drehte sich um, hielt nach den Köpfen Ausschau und bemerkte Chap neben der Fackel auf dem Gehsteig. Beide Köpfe lagen direkt vor ihm, ebenso die Tasche. Leesil sammelte seine Trophäen ein, fühlte dabei keinen Triumph, nur Erleichterung.

Er hatte die Tasche gerade am Gürtel befestigt, als Chap fortsprang. Er lief durch den Tunnel, dorthin, wo sie in die Kanalisation hinabgeklettert waren. Leesil folgte, ohne die Entscheidung des Hunds infrage zu stellen.

Sie mussten Magiere finden.