21
Leesil stand früh am Morgen auf, mit einem flauen Gefühl im Magen. Nur tiefe Erschöpfung hatte in der Nacht Schlaf gebracht und dafür gesorgt, dass sich seine Gedanken in Träumen verloren – oder in Albträumen. Sie betrafen nicht den Tod oder die schrecklichen Lektionen der Kindheit, sondern seine Mutter, über viele Jahre hinweg irgendwo eingesperrt, und Magieres traurig und verwirrt blickende Augen, als er sie auf der Bettkante zurückließ. Deshalb war es nur ein kleiner Schock für ihn, als Magiere verkündete, dass es noch mehr zu tun gab, bevor sie mit den Untoten von Bela fertig waren.
Seiner Ansicht nach mussten sie nur den Kopf des Vampirs holen, auf den sie im ersten Stock des Hauses gestoßen waren. Wynn und Chap kamen mit, als eine Kutsche sie erneut zu dem zweistöckigen Gebäude brachte. Als Magiere eintrat, begann sie sofort damit, die Einrichtung mit ihrem Falchion zu zertrümmern.
»Bei der Jagd auf diese Geschöpfe sind wir immer wieder auf Falsches gestoßen, wie der Pflock in Saphirs Herz«, erklärte sie. »Wir müssen sicher sein, dass alles erledigt ist.«
Die Schulterwunde bereitete ihr noch immer Schmerzen, aber wie zuvor genas sie schneller, als es eigentlich der Fall sein sollte. Als sie die Reste eines Sofas auf die Straße warf, mit Öl übergoss und anzündete, verstand Leesil, obwohl er bezweifelte, dass dies der beste Ort war. Wynn beobachtete sie bestürzt, doch Magiere schüttelte den Kopf und kam damit Einwänden der jungen Weisen zuvor. In der Vergangenheit hatten sie es immer wieder mit falschem Aberglauben zu tun bekommen, und Leesil begriff, dass Magiere nichts dem Zufall überlassen wollte.
»Ich hole mehr Holz«, sagte sie leise. »Bring du die Leichen nach draußen.«
Leesil nickte und bedeutete Chap, ihm zu folgen. Bevor er ins Haus zurückkehrte, sah er noch einmal zu Magiere zurück. Sie stand neben dem Feuer, das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und im Licht des frühen Morgens schufen die Flammen blutrote Reflexe in ihrem schwarzen Haar. Ihr Lederhemd zerrissen, das Falchion am Gürtel … sie wirkte müde und mitgenommen, als sie ins Feuer blickte. Leesil befürchtete plötzlich, dass er sie in der vergangenen Nacht zu sehr belastet hatte.
Er ging ins Haus.
Vor dem Salon mit Saphirs Leiche blieb er stehen und sah zur Kellertreppe. Wenn es Ungewissheit in Hinsicht auf das Ende eines Untoten gab, so wollte er insbesondere bei einem ganz sicher gehen. Er eilte hinunter und stieg in die Kanalisation hinab.
Leesil freute sich nicht darüber, in die stinkenden Abwässerkanäle zurückzukehren, aber der Weg schien diesmal kürzer zu sein. Chap lief voraus, und schon nach kurzer Zeit fanden sie Rattenjunges Leiche auf dem Gehsteig, unweit der Abzweigung, wo Leesil ihm den Kopf abgeschlagen hatte. Die abgetrennte Hand schien vom schmutzigen Wasser fortgetragen worden zu sein.
»Für mich sieht er tot aus«, sagte Leesil.
Chap kläffte einmal, doch niemand von ihnen wollte sich auf eine Auseinandersetzung mit Magiere einlassen. Leesil schleppte die Leiche den ganzen Weg zurück und legte sie neben Saphir in den Salon. Anschließend wollte er in den ersten Stock hochgehen, zögerte jedoch und ging stattdessen neben Saphir in die Hocke.
Eine dünne Linie in der geronnenen schwarzen Flüssigkeit auf dem Teppich hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Leesil holte ein Stilett hervor, schob die Spitze unter das Etwas und hob es an.
Es handelte sich um eine Halskette, von schwarzem Blut verschmiert. Er wischte sie am Saum des blauen Kleids ab und sah einen goldenen Anhänger mit einem Saphir so groß wie der Nagel seines kleinen Fingers.
Leesil betrachtete ihn nachdenklich und stellte sich Magieres Reaktion vor, wenn sie ihn beim Bestehlen der Toten – beziehungsweise Untoten – erwischt hätte. Lange Monate standen ihnen bevor, und Miiska brauchte das Geld, das sie von Belas Stadtrat erwarteten.
Kriegsbeute, dachte er und wischte die Halskette noch etwas gründlicher ab, bevor er sie unters Kettenhemd steckte. Er würde die Sache später mit Magiere klären, wenn Einwände keinen Sinn mehr hatten. Dann fiel ihm etwas anderes ein.
Ein Kleid mit einem dazu passenden Stein. Und wenn es noch andere Kleider gab?
Leesil wollte nach oben gehen, als Wynn durch die Eingangstür kam.
»Du musst dafür sorgen, dass dies aufhört«, drängte sie. Entsetzen stand in ihrem Gesicht. »Du darfst nicht zulassen, dass Magiere mitten auf einer öffentlichen Straße Leichen verbrennt!«
Leesil setzte zu einer Antwort an, als Magiere hinter der jungen Weisen ins Haus trat.
»Hast du Rattenjunge gefunden?«, fragte sie.
Leesil nickte. »Er liegt im Salon. Ich hole jetzt die dritte Leiche. Den Mann, den wir bereits tot vorgefunden haben.«
»Es wird Zeit, dies zu Ende zu bringen«, sagte Magiere. »Es sind bereits Leute unterwegs, was eigentlich nicht weiter schlimm ist – aber vielleicht sind sie nicht mit dem einverstanden, was wir hier machen.«
Sie kehrte nach draußen zum Feuer zurück.
Leesil spürte, dass es ihr um mehr ging als nur darum, die Untoten zu verbrennen und sicherzustellen, dass wirklich keine Gefahr mehr von ihnen ausging. Wynn sah ihn voller Unbehagen an. Die kleine Gelehrte respektierte Magiere, aber dies verstand sie nicht und konnte es auch gar nicht verstehen.
»Sie würde es nie zugeben«, sagte Leesil. »Aber tief in ihrem Innern mag sie das Drama einer guten Schau. Sie ist zornig, weil diese Geschöpfe eine angenehme, unbeschwerte Existenz unter den Reichen führten und niemand von diesen Narren begriff, was wirklich geschah. Wir rütteln sie aus ihrer Selbstgefälligkeit.«
»Oh …«, erwiderte Wynn. »Ist sie noch immer böse auf mich, wegen Chane?«
Für einen Moment suchte Leesil nach einer Möglichkeit, ihre Gefühle zu schonen und Verständnis für das aufzubringen, was sie getan hatte. Aber er brachte es nicht fertig.
»Es war ein Fehler, Wynn. Du hättest alles tun sollen, um Magiere dabei zu helfen, ihn zu köpfen.«
Wynn wich zurück, und Leesil beobachtete zum ersten Mal, wie sie ihm gegenüber Ablehnung zeigte.
»Ich bin an dieser Sache beteiligt gewesen«, sagte sie. »Du, Magiere und Chap … Ihr habt mehr Kraft und Mut als alle anderen, die ich kenne, aber euch fehlt ein Gewissen. In der vergangenen Nacht bin ich dieses Gewissen gewesen. Nicht alle Geschöpfe einer Art sind gleich, Leesil. Und ich glaube, das gilt auch für die Edlen Toten.«
Ihre Antwort überraschte ihn. Er wusste es zu schätzen, dass sie für ihre Überzeugungen eintrat, wenngleich mit einer gehörigen Portion Naivität.
»Wenn du noch immer helfen willst …«, sagte er. »Geh nach draußen und halt die Leute so gut wie möglich von Magiere fern. Ein falsches Wort, und … Nun, du kennst sie gut genug, um zu wissen, was geschehen könnte.«
Wynn seufzte tief. Sie war noch immer nicht zufrieden, nickte aber und ging nach draußen auf die Straße.
Leesil blieb nicht bei der Leiche im ersten Stock stehen. Er öffnete die Türen und sah kurz in die Zimmer, doch keins von ihnen enthielt das, wonach er suchte. Erst im letzten Raum des zweiten Stocks erreichte er sein Ziel. Er trat ein, zog die schweren Vorhänge beiseite und öffnete die Fensterläden, um das Tageslicht hereinzulassen.
Das Zimmer war pfirsichfarben und weiß, und Leesil schnitt eine Grimasse, als er sich umsah. Der Inhalt des Schranks bestätigte seine Vermutungen: Kleider in verschiedenen Farben, alle aus teurem Stoff und mit vielen Verzierungen. Er vergeudete keine Zeit, durchsuchte den Schrank und wurde bald fündig. Die Walnussschatulle war relativ schlicht und enthielt Schmuck: Ohrringe und Halsketten, alle mit glitzernden Edelsteinen, von denen er einige nicht identifizieren konnte.
Leesil schloss die Schatulle.
Niemand würde sie vermissen, nicht an einem solchen Ort, aber er dachte an Magiere und die schreckliche Szene auf der Straße. Er dachte an die Leute, die nie erfahren würden, wohin ihre Freunde und Verwandten des Nachts verschwunden waren. Er dachte an den Stadtrat, der ohne das von Magiere entzündete Feuer versucht hätte, alles vor den Bürgern zu verbergen.
Leesil legte die Schatulle in den Schrank zurück – es gab einen besseren Verwendungszweck dafür.
Wieder bei der Leiche im ersten Stock öffnete er die Tasche mit den beiden Köpfen und wollte ihnen den dritten hinzufügen, als er etwas unter Torets Schädel bemerkte. Er holte das Objekt hervor und stellte fest, dass es sich um einen Geldbeutel handelte.
Er enthielt Münzen, unter ihnen sogar ein Goldtaler. Etwa die eine Hälfte der Münzen bestand aus Silber, die andere aus Gold. Eine weitere Sache, über die sich Magiere ärgern konnte – Leesil ließ den Geldbeutel wie zuvor die Kette unter seinem Hemd verschwinden.
Er stopfte den dritten Kopf in die Tasche und zog den Leichnam die Treppe hinunter. Im Foyer ließ er ihn liegen und brachte zuerst Toret nach draußen.
Leute schauten aus den Fenstern, und einige standen in sicherer Entfernung auf der Straße, doch niemand näherte sich. Als Leesil zum Feuer trat, packte Magiere Torets Beine, und gemeinsam warfen sie die Leiche ins Feuer.
Funken stiegen auf, und Wynn wich zurück. Chap saß einfach nur am Straßenrand und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Leesil kehrte ins Haus zurück.
Als der letzte Leichnam den Flammen übergeben war, drängten sich an beiden Enden der Straße Menschen zusammen. Der Rauch wurde dichter, und es roch nach verbranntem Fleisch.
Plötzlich bellte Chap und stand auf.
Leesil sah, dass Hauptmann Schetnick mit einem Wagen zu ihnen kam. Vàtz saß neben ihm, und hinter ihnen hatten mehrere Wächter Platz genommen. Das Klappern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster war im Donnern des großen Feuers untergegangen.
Der Wagen hielt an, und Schetnick wirkte fassungslos, als er das Spektakel auf der Straße sah. Er sprang herunter, imposant in seinem weißen Waffenrock und mit dem großen Federhelm. Mit langen Schritten näherte er sich Magiere.
»Hast du vollkommen den Verstand verloren?«, fragte er.
Magiere stand mit verschränkten Armen vor dem Feuer.
Leesil griff in die Tasche und holte Rattenjunges Kopf hervor. »Sieh in den Mund.«
Schetnick wandte sich von Magiere ab. Er hatte nur selten mit Leesil gesprochen und zögerte unsicher. Vorsichtig streckte er die Hand aus, strich die leblosen Lippen zurück und sah die langen, spitzen Eckzähne.
»Wir müssen die Leichen verbrennen«, sagte Leesil. »Es ist die einzige Möglichkeit, ganz sicher zu sein.«
Schetnick sah zu Leesil auf, und dann wanderte sein Blick zu Magiere.
»Ihr hättet einen diskreteren Ort wählen können. Das wäre viel besser gewesen.«
»Ja«, erwiderte Magiere kühl. »Es wäre besser gewesen, wenn wir uns mit den Beweisen still und leise davongemacht hätten, nicht wahr? Dann hätte niemand zugeben müssen, was passiert ist.«
Schetnick fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, sich wieder zu fassen. »Ich verstehe.«
Leesil begriff plötzlich: Unter all den Menschen, mit denen sie es in dieser Stadt zu tun bekommen hatten, gehörte Schetnick zu den wenigen Personen, die wirklich Anteil nahmen am Schicksal der Bürger, selbst der einfachen unter ihnen. Mit der Zeit würde sich das mit dem Feuer und den verbrannten Leichen herumsprechen, und dann wussten die Leute, was geschehen war. Keine Geheimnisse und Lügen mehr vom Stadtrat. Leesil stellte sich vor, wie die Familienangehörigen und Freunde der Vermissten erneut zu Schetnick kamen – er beneidete ihn nicht.
»Muss sonst noch etwas getan werden?«, fragte der Hauptmann widerwillig.
»Wir müssen sofort zum Stadtrat«, sagte Leesil. »Kannst du uns zu ihm bringen?«
Schetnick seufzte. »Steigt in den Wagen. Heute Morgen findet eine Versammlung statt.«
Magiere wandte sich wortlos vom Feuer ab. Wynn und Vàtz folgten ihr in sicherem Abstand. Als sich der Hauptmann ihnen hinzugesellen wollte, nahm Leesil ihn beiseite.
»Im zweiten Stock des Hauses befindet sich das Zimmer der Frau. Wenn der Rest dieser Angelegenheit erledigt ist … Geh nach oben und sieh nach, was du dort finden kannst. Verkauf alles und verwende das Geld für jene, die am meisten gelitten haben. Ihre Toten bringt es nicht zurück, aber es hilft ihnen vielleicht dabei, ihr Leben fortzusetzen. Vom Stadtrat dürfen sie vermutlich nicht viel erwarten, nicht einmal dann, wenn alles bekannt wird.«
Schetnick musterte ihn, zunächst mit Argwohn, presste dann die Lippen zusammen und nickte.
Als sie wegfuhren, verkohlten die Leichen bereits in den Flammen. Schetnick ließ zwei Wächter beim Feuer zurück, mit der Anweisung, es brennen zu lassen, bis sich alles in Asche verwandelt hatte.
Magiere folgte dem Hauptmann durch den langen Flur zum Versammlungssaal des Rates. Leesil ging neben ihr. Chap, Wynn und Vàtz bildeten den Abschluss.
»Ich vermute, dies wird so hässlich wie das, was du auf der Straße inszeniert hast«, knurrte Schetnick über die Schulter hinweg.
Magiere gab keine Antwort.
Der Hauptmann nickte. »Na schön.«
Der Sekretär Doviak eilte ihnen hinterher. »Herr!«, rief er. »Du kannst sie nicht ohne Terminvereinbarung hineinführen!«
Schetnick schenkte ihm keine Beachtung, und zum Glück versuchte der kleine Mann nicht, ihnen den Weg zu versperren.
Magieres Respekt dem Hauptmann gegenüber wuchs. Belas Ratsherren waren ein abscheulicher Haufen, aber das Oberhaupt der Wache zeichnete sich nicht nur durch Verantwortungsbewusstsein aus, sondern war auch intelligent und hatte Rückgrat. Dieser Mann weckte noch mehr Schuldgefühle in Magiere für all die Jahre, die Leesil und sie damit verbracht hatten, arme Bauern zu betrügen.
Schetnick öffnete die große Doppeltür. Magiere und Leesil gingen geradewegs zum Ende des langen ovalen Tisches.
Die Stadträte von Bela schnappten nach Luft, als sie hereinkamen. In erlesenes Schwarz gekleidete Männer mit perfekt gekämmtem Haar hoben erstaunt und empört die Brauen, als sie die bunte, lumpige Schar sahen. Die Überraschung wich schnell aus einigen Gesichtern und machte Zorn Platz. Entrüstete Stimmen erklangen.
Am anderen Ende des Tisches erhob sich Lanjow.
Seit dem Morgen, an dem Au’shiyns Leiche gefunden worden war, hatte Magiere ihn nicht mehr gesehen. Er wirkte hohlwangig, und sein Haar schien noch grauer zu sein als bei ihrer Begegnung an dem ersten Tag in Bela.
»Fräulein Magiere …«, sagte Lanjow freundlich. »Normalerweise muss für eine Audienz ein Termin vereinbart werden, und das weiß der Hauptmann.«
»Der Termin findet gerade statt«, erwiderte Magiere schlicht. »Wir wollen das Geld und außerdem die Garantie, dass die Stadt dem Onkel dieses Jungen …« Sie deutete auf Vàtz. »… den Wiederaufbau seines Gasthauses bezahlt. Während wir unserem Auftrag nachgingen, setzte ein Untoter das Gebäude in Brand.«
Stimmen erklangen am Tisch. Lanjows Gesicht zeigte Sorge und Hoffnung, als er Magiere ansah.
»Hast du Chesnas Mörder gefunden und das Geschöpf unschädlich gemacht, das sich in Bela herumtrieb?«
»Geschöpfe«, berichtigte Magiere.
»Ach, tatsächlich?« Ein älterer, verärgerter Mann stand auf. »Und habt ihr Beweise für die Existenz der Vampire, die ihr angeblich getötet habt?«
Magiere sah Leesil an, und ihr Partner lächelte. Seine Reaktion ließ sie kurz frösteln. Es gab noch immer eine dunkle Seite in ihm, wie auch in ihr.
Leesil hob die Tasche und entleerte sie auf dem Tisch.
Drei Köpfe rollten über die glänzende Oberfläche und blieben an verschiedenen Stellen liegen. Schwarzes, geronnenes Blut klebte in den Gesichtern, im Haar und an den Halsstümpfen; tote Augen starrten die feinen Herren an. In Rattenjunges halb geöffnetem Mund waren deutlich die Vampirzähne zu sehen.
Mehrere Männer standen auf, taumelten zurück und hoben die Hände oder Taschentücher vor den Mund. Lanjow sank langsam auf seinen Stuhl und blieb wie erstarrt sitzen. Hauptmann Schetnick verschränkte die Arme und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Möchte noch jemand Lanjows Angebot infrage stellen?«, fragte Magiere ruhig.
Zu Leesils großer Zufriedenheit hatten es die Stadträte plötzlich sehr eilig damit, ihre Forderungen zu erfüllen – und sie brachten höflich Erleichterung zum Ausdruck, als Magiere darauf hinwies, dass sie die Stadt sofort verlassen wollten. Als sie nach draußen zurückkehrten und das königliche Gelände verließen, hielt Wynn sowohl die Geldanweisung in der Hand als auch eine kurze Nachricht, die Leesil für Karlin geschrieben hatte. Ohne weitere Beweise konnte Pojesk nicht bestraft werden, aber wenn Karlin die Mitteilung erhielt, war er wenigstens gewarnt.
»Nehmt den Wagen und die Pferde«, sagte Schetnick und lächelte schief. »Ich schätze, die Wache kann es verkraften, und ihr braucht das Gespann, wenn ihr über Land reisen wollt. Eins steht fest: Dies war ein interessanter Morgen.«
Leesil sah den Hauptmann überrascht an und streckte dann die Hand aus. Schetnick nahm sie. Er wollte sich an Magiere wenden, überlegte es sich dann aber anders.
»Nun, ich kümmere mich jetzt besser um die andere Angelegenheit, die du erwähnt hast«, sagte er, nickte Leesil noch einmal zu, ging dann über die Straße und winkte seine Wächter zu sich.
Magiere stand still da und sah landeinwärts. Ihr Blick reichte über das offene Gelände jenseits der äußeren Verteidigungsmauer.
»Wann bekomme ich meinen Anteil?«, fragte Vàtz plötzlich.
»Du bekommst ihn«, brummte Leesil.
»Wir brauchen neue Vorräte«, sagte Magiere. Die Erschöpfung in ihrer Stimme wies darauf hin, dass die Worte sie große Mühe kosteten. »Wir brechen heute Nachmittag auf, verlassen Bela und suchen uns einen Gasthof. Vàtz, was ist von den Münzen übrig, die ich dir gegeben habe?«
Der Junge reichte ihr den Geldbeutel, den Magiere ihm am Abend zuvor gegeben hatte, und zuckte dabei mit den Schultern. Der Beutel war leer. Leesil beobachtete, wie Magiere noch müder zu werden schien. Erst mit Widerstreben und dann resignierend griff er unter sein Kettenhemd, holte den blutbefleckten Geldbeutel hervor und reichte ihn Magiere.
Sie öffnete ihn, sah hinein und war zunächst erleichtert. Dann erwachte Argwohn in ihr, aus dem sehr schnell Zorn wurde.
»Frag nicht, ich erkläre es später«, sagte Leesil, bevor sie etwas sagen konnte.
Sie brauchte dringend Zeit für sich selbst, das sah er deutlich, und deshalb wollte er ihr die alltäglichen Dinge abnehmen.
»Ich fahre mit dem Wagen los und besorge, was wir brauchen«, sagte Leesil. »Du nimmst den Hauptweg durchs Seitentor auf der Landseite der Stadt. Warte beim ersten Gasthof an der Hauptstraße, wenn ich dich nicht vorher erreiche.«
Magiere entspannte sich ein wenig. Sie nickte kurz, drehte sich um und ging die Straße hoch, ohne sich von Wynn oder dem Jungen zu verabschieden. Sie zögerte nur kurz und blickte noch einmal zu Leesil zurück; dann war sie fort.
»Steigt in den Wagen«, wandte sich Leesil an Wynn und Vàtz. »Ich bringe euch zur Kaserne zurück.«
Er rief Chap, der die Pferde beschnüffelte, und der Hund sprang hinauf und setzte sich zwischen Vàtz und Wynn.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Mit Wynns Hilfe brachten sie Magieres Truhe und einige andere Habseligkeiten in den Wagen, zusammen mit etwas Proviant und Decken. Domin Tilswith war zu einem offiziellen Besuch beim Stadtrat aufgebrochen, wo er erneut auf die Notwendigkeit besserer Unterkünfte hinweisen wollte, und so stand Leesil nur mit Wynn und Vàtz vor der alten Kaserne. Er griff unter sein Kettenhemd, holte Saphirs Halskette hervor und gab sie der jungen Weisen.
»Verkauf sie«, sagte er. »Und Vàtz, du hilfst ihr dabei, einen fairen Preis zu erzielen. Nimm als Bezahlung nur Gold, denn ich schätze, der Gegenwert in Silber wäre zu schwer für dich.«
»Kommst du zurück?«, fragte der Junge.
»Nur wenn du mich nicht dort findest, wo Magiere auf mich warten wird«, erwiderte Leesil. »Im ersten Gasthof außerhalb der Stadt. Morgen bringst du mir die Münzen dorthin.«
Er zögerte und dachte daran, wie viel sie Wynn und Vàtz verdankten.
»Von dem Erlös nimmst du zwei Goldtaler. Einer für die Gilde, Wynn, um euch hier ein wenig zu helfen, bis der Stadtrat ein Einsehen mit euch hat. Der andere ist für dich, Vàtz.«
Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung im Hafen war der Junge sprachlos und stand mit offenem Mund da. Ein Goldtaler – so viel verdiente Vàtz nicht einmal in Jahren. Leesil klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an Wynn.
»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du dabei geholfen hast, Chaps kleines Geheimnis zu lüften.«
Wynn lächelte scheu, und ihr ovales, olivfarbenes Gesicht lief rot an. Sie trat vor und umarmte ihn. Leesil ließ einen Moment verstreichen und löste sich dann aus der Umarmung.
»Hoffentlich verzeiht mir Magiere«, sagte Wynn leise. »Sie hat sich geirrt, was Chane betrifft.«
»Sie hat dir bereits verziehen.« Leesil lächelte. »Sie weiß es nur noch nicht. Manchmal ist sie in dieser Hinsicht recht schwer von Begriff.«
Er stieg auf den Wagen und nahm die Zügel. Als Chap auf den Sitz neben ihm sprang, rief er Wynn zu: »Richte Karlin unsere besten Grüße aus. Mit ein wenig Glück sehen wir dich wieder … eines Tages.«
Er trieb die Pferde an, und Wynn und Vàtz winkten, als der Wagen fortrollte, über die Straße und durchs Wachtor im mittleren Wehrwall.
Leesil besorgte die notwendigen Dinge, und den Rest des Weges durch die Stadt legte er sehr nachdenklich und in gedrückter Stimmung zurück. Nichts hatte sich geändert – zumindest nichts, das eine Rolle spielte. Natürlich stand jetzt Miiska das Geld zur Verfügung, aber Magiere blieb weit von ihm entfernt. Er hatte versprochen, bei ihr zu bleiben, auch wenn sie zwischen ihnen alles so belassen wollte, wie es gewesen war.
Die Straße wurde stiller, als sie das Tor auf der Landseite der Stadt passierten und an den Läden und Häusern außerhalb des äußeren Wehrwalls vorbeikamen. Bald erstreckten sich rechts und links der Straße kahle Felder, und nach einer längeren Fahrt erreichten sie das erste Dorf, das groß genug war, um einen Gasthof zu haben. Wie Magiere zu Fuß so weit gekommen sein konnte, blieb Leesil ein Rätsel; vielleicht hatte sie eine Kutsche genommen.
Als sie vor dem Gasthof hielten, sprang Chap vom Wagen und lief zum Gestrüpp am Rand des nächsten Feldes. Leesil zog die Truhe vom Wagen, und der Hund kehrte kurz zurück, sah ihn an und dann zum Feld.
»Lauf nur«, sagte Leesil. »Aber bleib nicht zu lange weg.«
Chap leckte ihm einmal die Hand und verschwand im hohen Gras. Leesil trug die Truhe in den Gasthof.
Die Wirtin, eine kräftig gebaute alte Frau, teilte ihm mit, dass die schwarzhaarige Schwertkämpferin bereits ein Zimmer genommen hatte. Er bat sie, sich um das Gespann zu kümmern, und die Wirtin zeigte ihm den Weg durch den Flur nach hinten. Als er sich näherte, schwang eine Tür auf.
Dort stand Magiere, ohne Schwert und das Haar offen. Sie trat beiseite und vollführte eine einladende Geste.
Leesil setzte die Truhe am Fußende des schmalen Bettes ab. Der kleine Raum war recht düster; das einzige Licht stammte von einer Öllampe. Die Fensterläden waren geschlossen, die einfachen Jutevorhänge zugezogen. Leesil gewann den Eindruck, dass sich Magiere nicht nur vor ihm verstecken wollte, sondern auch vor der Welt.
»Ich habe nur ein Zimmer genommen«, sagte sie leise, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Den Kopf hielt sie leicht gesenkt.
»Schon gut«, erwiderte Leesil. »Morgen bekommen wir mehr Geld.«
»Was?«, fragte Magiere. »Wie denn? Woher?«
Leesil schüttelte den Kopf. Ihm lag nichts daran, jetzt über dieses Thema zu reden.
»Ich erkläre es dir morgen, wenn wir uns auf die Reise vorbereiten«, sagte er. »Ich hole mir eine Decke vom Wagen und schlafe auf dem Boden.«
Falten der Verwirrung bildeten sich auf Magieres blasser Stirn, während sie näher kam und Leesil musterte. Er unterdrückte ein Schaudern, das seine Selbstherrschung bedrohte. Vielleicht wollte sie ihn jetzt durch die verbale Mangel drehen und einen Schlussstrich ziehen.
Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihn finster an. Bevor er fragen konnte, was er diesmal gemacht hatte, presste sie ihren Mund auf den seinen.
Leesil versteifte sich, packte Magiere an den Schultern und drückte sie weit genug zurück, um ihr in die Augen sehen zu können.
Seine Reaktion schien sie zu überraschen. Dann erschien ein weicher Glanz in ihren großen braunen Augen, und sie löste sein Kopftuch, strich ihm mit den Fingern durchs Haar.
»Wenn wir das von dir erwähnte vierte Leben führen wollen, müssen wir unsere Vergangenheit erforschen, und auch die von Chap«, flüsterte Magiere. Ihr Gesicht zeigte ein wenig Furcht und Trauer, aber auch Wärme. »Dies fühlt sich noch immer seltsam an, aber du hast dein ganzes Vertrauen in mich gesetzt, im Gegensatz zu mir. Es wird Zeit, dass sich das ändert.«
Für zwei oder drei Sekunden fühlte sich Leesil sonderbar leer, doch diese Leere machte Erleichterung Platz, als er Magiere zu sich heranzog, um sie zu küssen. Doch dann hielt er plötzlich inne.
»Ich glaube, ich brauche ein Bad.«
»Später«, sagte sie. »Jetzt ruhen wir uns erst einmal aus.«
Vorsichtig löste Magiere seinen Kragen, überprüfte den Verband am Hals und half ihm dabei, das Kettenhemd abzulegen. Sie drehte den Docht der Öllampe herunter, bis die Flamme verschwand, und Leesil fühlte erneut ihre Hand an der Seite seines Gesichts.
»Ich glaube nicht, dass wir auf diese Weise ausruhen können«, sagte er im Dunkeln.
»Leesil …« Magiere seufzte. »Sei einfach eine Weile still.«
Er wollte laut lachen und alles loslassen, bis auf sie. Wie immer in seinem Leben stimulierte die Freude seinen Humor.
»Magiere …«
»Sei still, Leesil.«
»Nur eine Kleinigkeit.«
»Was denn?«, fragte sie böse.
»Äh … nicht beißen.«
Zwei Hände trafen ihn an den Schultern, und er fiel aufs schmale Bett. Magiere sank auf ihn.
»Das ist nicht komisch.«
In ihrer Antwort erklang der Ärger, den er seit langem von ihr kannte.
Wie immer war eine verärgerte Magiere die wahre Magiere.