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Die Stunden vergehen unter dem Ticken der großen korallenroten Uhr, die den Saal beherrscht. Klauseln werden modifiziert, Paragraphen angepasst, Leerstellen gefüllt. Die Papiere nehmen im gleichen Maße Form an, wie wir sie verlieren.
»Endru«, sagt Giuseppe und fährt sich mit dem Handrücken über die Wange. »Der Bart.«
»Der Bart?«, wiederhole ich.
»Du hast dich nicht rasiert«, erklärt er leise.
»Ich weiß, Giuseppe.« Ich zucke mit den Achseln. »Heute Morgen bin ich nicht aus dem Bett gekommen.«
»Sicher, kann ich gut verstehen. Aber das sind Zeichen für Schwäche.«
»Schwäche? Giuseppe, glaub mir, ich …«
»Endru«, unterbricht er mich und schlägt leise mit der Hand auf den Tisch. »Ich habe dir noch so viel beizubringen. Sieh das doch einfach ein.«
Das Blau des Himmels ist immer dasselbe, ein makelloser Auftrag, das Produkt hochwertiger Handwerkskunst. Die um den Tisch versammelten Gesichter beobachten erstaunt die eigenen Hände, die Fotokopien stapeln, mit dem Finger über Notizen gleiten, mit dem Stift auf Armlehnen klopfen, sich hektisch unter den Achseln kratzen. Aus den Mündern kommen die letzten schwachen Einwände, und während die Arbeit immer frenetischer vorangeht, macht sich überall ein Gedanke breit: Heute Abend wird alles ein Ende haben. Egal wie es ausgeht, heute Abend wird alles ein Ende haben. Die Rückflüge sind gebucht, die Koffer liegen halb gepackt auf den Fußböden, die ein oder andere nicht adressierte Postkarte steckt in den Innentaschen der Jacketts und manch einer hat schon zu Hause angerufen, damit er am Flughafen abgeholt wird – in Linate, denk dran, nicht in Malpensa, hast du das notiert?
Wie immer gibt es für alles einen Weg, und letztlich werden die Übereinkünfte im Namen von Interessen erzielt, die zu kennen ich nicht verpflichtet bin. In meinem Fall reicht es, wenn ich Seite um Seite den Vertrag durchgehe, bis ich im angespannten Schweigen, das jetzt herrscht, mit dem Finger auf das letzte Blatt tippe: »Das Fax. An was für eine Faxnummer schicken wir Meyon & Tolsen die Sachen?«
»Das Fax?«, erkundigt sich Boraletti, der nicht wirklich versteht.
»Die Faxnummer ist wie die vom Telefon«, erklärt Emily seufzend. »Nur die Zwanzig statt die Zehn am Schluss.«
»Zwanzig statt zehn«, wiederhole ich mechanisch. »Was fehlt sonst noch?«
Die Stille verdichtet sich, und es ist kaum zu begreifen, wie wir es schließlich doch noch geschafft haben.
»Ich weiß nicht«, antwortet Boraletti und schaut in die Runde. »Könnte es sein, dass …«
Pause.
»… wir fertig sind?«
Es ist acht Uhr abends, als Tiziano mit einem Schlüsselchen in der Hand zur Rezeption geschickt wird, um alles auszudrucken. Ich schaue Giuseppe an, dann Boraletti, dann die anderen. Wir haben es geschafft, denke ich zerstreut und weiß nicht, was für ein Gesicht ich machen soll.
»Mein lieber Kollege«, wendet sich Boraletti an Giuseppe, während er aufsteht und zum Servierwagen mit den Snacks geht. »Was darf ich dir anbieten, während wir darauf warten, dass der Junge zurückkommt?«
»Mein lieber Kollege.« Giuseppe hebt die Hände. »Erst unterschreiben wir. Dann werde ich es sein, der dir einen Brandy und eine kubanische Zigarre anbietet. Feinster Tabak. Einhundertzwanzig Euro. Aber erst unterschreiben wir.«
»Tja, Giuseppe«, mische ich mich ein und klinge besorgter, als ich es beabsichtigt hatte. »Was die Unterschrift betrifft … Es gibt nur eine Person, die dazu berechtigt ist, und das ist Donato.«
»Aber sicher doch«, bestätigt Giuseppe. »Natürlich wird er es sein, der unterschreibt. Er wird diesem Schritt zur Eroberung des Abendlandes seinen Stempel aufdrücken. Unser großer Donato. Wo ist er übrigens?«
»Genau das meine ich«, sage ich und breite die Arme aus. »Er ist noch nicht wieder zurück.«
Giuseppe wirft mir einen strengen Blick zu.
»Und sein Handy ist schon seit Stunden ausgestellt«, füge ich hinzu, ohne ein Zittern in meiner Stimme unterdrücken zu können.
Giuseppe hebt einen Finger, will etwas sagen, bremst sich dann aber.
In den folgenden Minuten stellen wir die fantastischsten Hypothesen über seinen Verbleib an, um uns schließlich mit einiger Nervosität die rechtliche Situation klarzumachen. Wir studieren die Vollmacht, wagen uns mit Vorschlägen vor, schauen uns irritiert an.
»Vielleicht hat er das Flugzeug verpasst«, sagt jemand.
»Dann hätte er uns Bescheid gegeben.«
»Vielleicht sitzt er im Flugzeug«, sagt ein anderer.
»Das müsste schon vor Stunden gelandet sein.«
»Vielleicht hat es Verspätung.«
»Verspätung? Was für eine Verspätung?«, ruft Giuseppe, der jetzt wieder ganz der Alte ist. »Wir sprechen hier von den Emirates. Nicht von Alitalia.«
»Wisst ihr, was Alitalia auf Englisch bedeutet? Always Late In Take-off, Always Late In Arrival«, sagt der Ingenieur. »Hebt immer zu spät ab und landet immer zu spät, bedeutet das. Wegen der Anfangsbuchstaben. Das nennt man ein Akrostichon.«
»Still«, schreie ich. »Es klingelt.«
Aus meinem Handy dringt eine Reihe von Signalen, ohne dass sich jemand meldet. Als ich schon wieder auflegen möchte, spricht in weiter Ferne eine Frauenstimme, die ich nicht verstehe.
»Donato?«, rufe ich und hebe einen Finger, damit die anderen still sind. »Kann ich mit Donato sprechen?«
Ich höre, wie die Stimme schluckt, ein raues Stöhnen, dann spricht sie weiter, immer noch in weiter Ferne. Das Handy ans Ohr gepresst, konzentriere ich mich, habe aber größte Mühe, etwas zu verstehen. Plötzlich verschlägt es mir die Sprache, mein Mund ist trocken, mein Körper schwer. Langsam setze ich mich und spüre, wie mir ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft. Schließlich beende ich das Gespräch.
»Und?«, fragt Giuseppe zerstreut, während er sich Mandelmilch einschenkt.
»Das war die Frau«, sage ich.
»Die Frau?«
»Ja. Donatos Frau.«
Ich schaue Cardellini an, der Tiziano ein paar Papiere reicht, und Rashid, der sich nicht rührt, und Giuseppe, der sein Glas leert, und den Ingenieur, der sich mühsam wach hält, und Nathan, der sich ein Bonbon in den Mund steckt, und Emily, die mich anstarrt, und versuche, das Lied zu erkennen, das vom Hotelswimmingpool zum offenen Fenster hereindringt.
»Donato«, sage ich.
Und räuspere mich.
»Ist tot.«
Auf den Gesichtern um mich herum zeichnet sich tiefe Bestürzung ab. Es folgt ein langes Schweigen, das es mir erlaubt, das Lied zu identifizieren – eine Tanzversion von The Winner Takes It All von ABBA –, bis schließlich Giuseppes Stimme zu reden beschließt.
»Und jetzt?«, fragt sie und klingt leicht panisch. »Wer soll nun unterschreiben?«