28

»Entschuldigung, aber wie spät habt ihr es?«

»Viertel nach fünf.«

Boraletti wägt die Information ab wie ein Polizist, der soeben ein wenig glaubwürdiges Geständnis gehört hat. Dann steht er auf, stützt die Hände auf den Tisch des Sitzungssaals und wiegt zufrieden den Kopf hin und her.

»Meine Herren.« Er atmet würdevoll ein. »Wir dürfen uns gratulieren, denn wir haben großartige Arbeit geleistet.«

Es ist Freitag, der letzte der drei vorgesehenen Verhandlungstage, und Bewegungen und Worte haben etwas Schleppendes bekommen. Der Kampfgeist der Anfangsphase ist einer Unerbittlichkeit gewichen, die Ton und Initiative dämpft. In den Gesten ist eine gewisse Mattheit zu spüren. Knicke und Flecken verunstalten die lindgrüne Mappe. Boraletti steht immer noch. Er beugt sich über den Tisch, ordnet seine Papiere und stopft sie dann energisch in sein Köfferchen. Seine Brille steckt er ins Brillenetui, seinen Stift steckt er in die Brusttasche, dann geht er zum Garderobenständer. Ich beobachte Donato, der Emily beobachtet, die ihren Chef beobachtet, der wiederum gerade seinen Mantel anziehen will.

»Franco«, fragt Emily. »Darf man mal erfahren, wo du hinwillst?«

»Emily. Beziehungsweise …« Er legt seinen Mantel über die Rückenlehne seines Stuhls. »Ich wende mich wohl besser an euch alle. Meines Erachtens ist es wichtig zu begreifen, wann der Moment zum Aufhören gekommen ist. Das waren drei intensive Tage, und wir haben viele Fortschritte gemacht …«

»Oh Gott«, falle ich ihm ins Wort. »Fortschritte. Ich habe wirklich nicht den Eindruck, als …«

»Entschuldigung, Andrea, es ist eine schöne Sitte, jemanden nicht zu unterbrechen, bevor er nicht zu Ende geredet hat. Danke. Ich sagte, dass wir viel und gut gearbeitet haben, und wenn jemand anderer Meinung ist …«, Boraletti wendet sich mir zu, »dann kann er das niemandem als sich selbst zuschreiben. Oder Giuseppe, der schon vor Stunden gegangen ist …«

»Giuseppe«, falle ich wieder ein, »hatte eine andere berufliche Verpflichtung.«

»An diesem Punkt«, fährt Boraletti unbeirrt fort, »sollten wir zweifellos die Notwendigkeit erkennen, innezuhalten und die Gedanken zu sortieren. Zu viele Eisen im Feuer erzeugen Verwirrung, und Verwirrung sollten wir unbedingt vermeiden, das sage ich aus Erfahrung, vor allem wenn es um ein so heikles Projekt wie das unsere geht.«

»Ich bin ganz deiner Meinung, Franco«, sagt Emily versöhnlich, obwohl ihr Tonfall eine gewisse Verärgerung verrät. »Dennoch. Es ist erst fünf …«

»Viertel nach fünf, Emily«, stellt Boraletti klar und lässt das Schloss seines Köfferchens zuschnappen.

»Viertel nach fünf, okay. Es ist erst Viertel nach fünf.« Emilys Stimme ist jetzt lauter geworden. »Und wir wissen alle, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben und wie wenig Zeit uns dafür bleibt. Am ersten Tag habe ich von den Kollegen vollen Einsatz gefordert, denn voller Einsatz ist das, was wir in diese Geschichte zu investieren bereit sind. Wir sind alle müde, Franco, alle. Ich erwarte aber, dass sich das nicht auf unsere Arbeit auswirkt. Deshalb bitte ich dich, wieder Platz zu nehmen und weiterzumachen.«

»Unmöglich.« Boraletti streicht sich über den Bart.

»Was heißt unmöglich?«, platzt Emily heraus, sichtlich irritiert.

Ich schaue zu Donato hinüber, der die Szene mit gesenktem Kopf verfolgt und in sich hineinkichert. »Typisch Frau. Das ist wirklich typisch Frau.«

»Unmöglich, weil ich um neun im O’Batti in Santa Margherita einen Tisch bestellt habe, und um dorthin zu kommen, braucht man hübsche eineinhalb Stündchen«, antwortet Boraletti mit der heiteren Gelassenheit desjenigen, der ein unausweichliches Schicksal verkündet und sich gar nicht erst dagegen zu wehren gedenkt.

Emily öffnet den Mund, aber es kommt nur Luft heraus. Boraletti beugt sich zu ihr hinunter, küsst sie auf die Wangen und bittet sie, wenn sie irgendwann wieder zu Hause sein sollte, London von ihm zu grüßen. Ich wende mich an Donato und frage, was wir denn nun tun. Donato lockert die Krawatte, seufzt und sagt: »Tja, eine Menge.« Dann steht er auf, verzieht sich in die äußerste Ecke des Sitzungssaals und telefoniert. Boraletti verlässt derweil mit einer großen Abschiedsgeste den Raum.

Ich bleibe sitzen, die Hände auf den Schenkeln und den Blick auf Emily gerichtet. Hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, hatte Eleonora zu mir gesagt. Emily beugt sich vor und zieht das Netzgerät von ihrem Laptop aus der Steckdose. Sorgfältig wickelt sie das Kabel auf und steckt das Ganze in das vordere Fach ihrer Computertasche. Ich würde es lieben wie mein Eigenes. Emily sammelt ihre Papiere zusammen und steckt sie in eine Plastikmappe, die sie auf den Laptop legt. Dann schließt sie den Reißverschluss. Bei dir hat immer alles mit der Arbeit zu tun. Emily nimmt den gelben Trenchcoat vom Garderobenständer. Mit fließenden Bewegungen zieht sie ihn an und schließt den mittleren Knopf. Zur Zeit ist eine schwierige Phase, oder irre ich mich? Emily zieht einen Kakaobutterstift aus der Tasche und kremt sich die Lippen ein. Sie nimmt den Riemen ihrer Laptoptasche und hängt sie sich über die Schulter. Jetzt wendet sie sich an Donato, um sich von ihm zu verabschieden, aber der telefoniert immer noch, beobachtet dabei eine Taube, die auf dem Balkon herumhüpft, und schreit ein wiederholtes Nein in den Hörer. Seine Hand fährt in einer angespannten Geste durch die Luft. Hi, Andrea. Es ist ja schon eine Weile her … Emily zuckt mit den Achseln und wendet sich mir zu. Ich schaue in ihre braunen Augen. Puderzucker oder Zitronenbaiser?

»Ich werde mich jetzt auch verabschieden, Andrea.«

»Emily«, sage ich und springe auf.

»Was denn?«, fragt sie und tritt bei so viel Überschwang unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Äh, nichts.« Ich bin nicht vorbereitet. »Gute Reise. Das wollte ich nur sagen.«

»Danke, aber ich fliege heute Abend noch gar nicht. Ich gehe ins Hotel zurück. Und morgen fahre ich zu meiner Familie nach Mantua, um das Wochenende mit ihr zu verbringen. Ich werde mir deinen Wunsch aber für Sonntagabend aufheben.«

Puderzucker oder Zitronenbaiser?

»Emily?«

»Ja?«

»Was machst du heute Abend?«, frage ich mit tonloser Stimme.

»Heute Abend schlafe ich. Keine Ahnung, wie es dir geht, aber diese drei Tage waren nicht gerade ein Kinderspiel. Und obwohl Boraletti es anders hinstellt, bin ich nicht allzu optimistisch. Ich glaube, dass noch eine Menge Arbeit auf uns wartet. Zu viel Arbeit, fürchte ich.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Wir werden das schon hinbekommen. Giuseppe sagt immer: Muss ich es hinbekommen? Ich werde es hinbekommen!«

»Klar«, sagt sie und senkt den Blick.

Plötzlich geraten meine Worte außer Kontrolle – eine ohnehin mehr als prekäre Kontrolle – und sprudeln hemmungslos aus mir heraus, um mit einer Färbung, die ich selbst nicht kenne, an meine überraschten Ohren zu dringen. Gespannt höre ich mir zu und feuere mich an. Und hoffe, nicht enttäuscht zu werden.

»Ich habe zwei Karten«, sage ich.

»Zwei Karten?«

»Äh, ja. Zwei Karten für ein … äh … ein … ein … ein ganz großartiges Konzert. Die hatte ich schon vor Ewigkeiten gekauft. Zwischen all den Sitzungen, mark-ups und dem ganzen anderen Kram hatte ich das vollkommen vergessen. Na ja, letztlich hatte ich das Konzert schon abgeschrieben. Aber jetzt, keine Ahnung, es ist erst halb sechs. Wenn wir wollten, hätten wir sogar noch alle Zeit der Welt, um uns fertigzumachen. Ich meine, wenn wir wollten … In letzter Zeit war ich nicht sehr gut organisiert, und jetzt habe ich, wie soll ich sagen, niemanden, mit dem ich dorthingehen könnte. Wenn du, äh, wenn du wollen würdest, also, wenn es dir vielleicht gefallen würde, irgendwie, mich zu begleiten. Ein ganz unverbindliches Angebot, das. Keinerlei Interessenkonflikte.«

Das hätte er besser machen können.

In meinem Innern tobt ein heftiger Streit zwischen verschiedenen misstönenden Stimmen.

Klar, das kann ich nur unterschreiben, das hätte er besser machen können, aber wir wollen nicht vergessen, dass er improvisieren musste.

Sicher, Improvisation, Eingebung, was immer ihr wollt. Aber diese ganze Aufregung war vollkommen überflüssig, diese Ähs und Na jas und Wenn du wollen würdest. So ein Murks.

Wie streng ihr seid. Ich finde, dass er sich sehr geistesgegenwärtig verhalten hat, auch mit der Erfindung dieses Konzerts. Ein Geniestreich.

Sie wird ihm sowieso einen Korb geben. Sie wird ihm sowieso einen Korb geben.

Ich glaube, dass noch alles offen ist.

Okay, aber diese Geschichte mit dem Interessenkonflikt hätte er sich sparen können.

Ja, das schon.

Still, still, sie sagt etwas.

»Wer?«, fragt Emily.

»Wie wer?«

»Wer singt?«

Tja, wer singt? Jetzt möchte ich aber mal hören, was er sich ausdenkt.

Hier ist Schlauheit gefragt.

Kommt schon, wir sollten ihm Zeit zum Nachdenken geben.

Risiko, Risiko! Bleiben Sie dran bitte!

Sie wird ihm sowieso einen Korb geben. Sie wird ihm sowieso einen Korb geben.

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Das kannst du mir nicht sagen? Und warum nicht?«

»Um nicht alles kaputtzumachen.«

»Alles was?«

»Die Überraschung, verdammt. Eine Riesenüberraschung.«

Emily betrachtet mich, ohne eine gewisse Verblüffung zu verbergen. Ich kratze mich an der Wange, rücke die Krawatte zurecht, schaue auf meine Schulter hinab.

»Okay.«

Auf ihrem Gesicht zeigt sich nicht die geringste Aufregung.

»Okay?«, frage ich ungläubig.

»Wenn du sonst niemanden hast.«

»Ich habe sonst niemanden.«

»Dann solltest du dich nur dazu durchringen, mir irgendwann ein paar Dinge mitzuteilen. Wo ich mich einzufinden habe, zum Beispiel.«

»Okay.« Ich lausche auf meine Gedanken, aber dort herrscht Schweigen. »Ach, Emily, noch was.«

»Schieß los. Danach muss ich dann aber gehen.«

Die ganze Zeit über lächelt sie. Eine Sekretärin kommt, um den Wagen mit den Snacks abzuräumen, aber Donato gestikuliert in ihre Richtung und reibt sich mit der Hand den Bauch.

»Puderzucker oder Zitronenbaiser?«

»Was?«

»Nichts. Vergiss es.«

»Okay. Wir sind uns also einig, du sagst noch Bescheid wegen heute Abend.«

Emily verlässt den Raum. Ich höre, wie sie die Dame am Empfang bittet, ihr ein Taxi zu rufen. Dann wird das Geräusch ihrer Absätze auf dem Marmorboden wieder lauter und sie erscheint im Türrahmen.

»Puderzucker übrigens.«

»Puderzucker, Puderzucker«, juble ich. »Das war mir klar. Ich hätte auch Puderzucker genommen.«

Vom Balkon aus sehe ich Emily in ein Taxi steigen und davonfahren. Sobald der Wagen um die Ecke gebogen ist, stürze ich in mein Büro und ziehe meinen Mantel an. Nicola fragt mich, ob ich schon die PowerPoint-Präsentation von den Frauen in den nassen Badeanzügen gesehen habe. Ich bitte ihn, mir viel Glück zu wünschen. Er schaut mich verständnislos an. Dann empfiehlt er mir, ich möge mir doch so bald wie möglich die PowerPoint-Präsentation von den Frauen in den nassen Badeanzügen anschauen.

Mailand, Kultur und Unterhaltung. Mailand, die Hauptstadt der Sitten. Mailand, eine kosmopolitische Stadt. Es ist Freitagabend, und da wäre es doch gelacht, wenn ich nicht zwei Konzertkarten finden würde. Am besten etwas Internationales, das würde Emily sicher gefallen. Oder Jazz, das hat Atmosphäre und verleiht mir einen gewissen Stil. Eine Nachwuchsband wäre auch nicht schlecht, irgendetwas Abgefahrenes aus der englischen Szene, wovon Giovannino immer erzählt. Optimistisch stelle ich mich in die Schlange an der Vorverkaufsstelle in der Galleria Vittorio Emanuele. Am Schalter bedient mich eine junge Frau mit kahl rasiertem Schädel. In ihrem Nacken windet sich ein Drachen.

»Bitte sehr?«

»Guten Abend. Ich hätte gerne zwei Konzertkarten für heute Abend. Für ein schönes Konzert.«

»Welches denn?«

»Keine Ahnung. Was es so gibt. Vielleicht etwas Internationales. Oder Jazz. Hauptsache schön. Eine englische Szeneband zum Beispiel.«

»Mhm. Für heute Abend sehe ich schwarz«, sagt das Mädchen und zuckt mit den Achseln. »Die Rolling Stones wären da …«

»I can’t get no paraparaparapà. Perfekt. Zwei Karten.«

»… aber das Konzert ist schon seit Monaten ausverkauft. Und etwas anderes gibt es meines Erachtens nicht. Aber warten Sie, ich schaue noch mal nach.«

»Hören Sie, es kann alles sein, wirklich. Musik ist immer schön, wenn sie mit Leidenschaft ausgeübt wird.«

Die Frau verzieht die Oberlippe und würdigt meine Bemerkung keines Kommentars. Sie starrt auf den Bildschirm, scrollt mit der Maus weiter und bewegt langsam ihren Kopf hin und her, die Zunge zwischen den Zähnen. Nein, nichts.

»Bitte«, sage ich. »Zur Not geht es auch ohne Leidenschaft.«

»Ich kann leider nichts finden, tut mir leid. Es scheint wirklich, als würden …« Die Frau unterbricht sich. »Nein, warten Sie. Vielleicht gibt es doch etwas. Lassen Sie mich nachschauen.«

»Egal was, ich nehme es.«

»Da. Da ist es.« Sie lächelt zufrieden vor sich hin.

»Super. Zwei Karten.«

»Oh.« Das Lächeln erlischt und verwandelt sich in eine bedenkliche Grimasse.

»Zwei Karten, zwei Karten«, beharre ich.

»Warten Sie.«

Das Mädchen zögert.

»Sind Sie wirklich sicher?«