18
Der Kellner ist soeben fortgegangen und hat uns eine Flasche edlen Grappa di Sangioveto dagelassen, der – wie die gedünstete Krake, die Spaghetti in Pergament, die gegrillte Goldbrasse und das Mandarinen-Kaffee-Sorbet – dem Mandanten in Rechnung gestellt werden wird, als Giovannino plötzlich ernst wird und einem unbesiegbaren inneren Drang nachzugeben scheint.
»Kinder«, sagt er und nimmt die Serviette von seinen Knien. »Ich habe schon seit einhundertneunundachtzig Tagen nicht mehr gevögelt.«
Das Restaurant ist fast leer. Die Kellner, die dem Ende ihrer Schicht entgegensehen, räumen Gläser und Gedecke ab und falten Tischdecken zusammen. Gelegentlich werfen sie uns einen Blick zu, in dem ich eine deutliche Botschaft zu lesen vermeine: Irgendwann ist wirklich der Zeitpunkt gekommen, an dem man sich auch mal vom Acker machen könnte. Im Hintergrund singt Frank Sinatra eine herzzerreißende Liveversion von Strangers in the Night. Wir sitzen am Tisch in der Nähe der Toiletten. Ich will die drei Schnapsgläser nachfüllen und stelle fest, dass niemand von uns Grappa mag.
»Aber der Mandant zahlt.«
»Dann nehme ich noch einen Tropfen.«
Giovannino wiederholt ernst, einhundertneunundachtzig Tage, und die Zahl hallt wie ein Schuss im stillen Raum wider.
Ich lege eine Hand an die Stirn. Oh Gott, erspar mir deine intimen Bekenntnisse, so möge der Abend bitte nicht enden. Giovannino sagt aber auch gar nichts mehr. Die Krawatte über die Schulter gelegt, zupft er an seinem Hemd, um sich in der stickigen Hitze Luft zuzufächeln. Das Schweigen bekommt etwas Erwartungvolles, eine Spannung, die Nicola und ich zu brechen uns bemüßigt fühlen. Ernst schauen wir uns an. Nicola verdreht die Augen und misshandelt sein linkes Ohrläppchen. Ich ziehe das Blackberry aus der Tasche und studiere meinen Terminkalender. Die Zeit fließt rückwärts. Nebelhafte Erinnerungen umfangen mich, und plötzlich taucht in aller Schärfe Francescas Zimmer daraus hervor, totales Chaos, auf dem Boden überall Kleider und Schuhe.
Francesca habe ich bei dem Essen eines Exkollegen kennen gelernt.
»Aha, du bist also Anwalt?«
»Wirtschaftsanwalt.«
»Aha. Wirtschaftsanwalt.«
»Genau.«
»Was für eine Art Wirtschaft?«
»Wirtschaft eben.«
»Aha, Wirtschaft.«
»Genau, Wirtschaft.«
Zwischen einem Gang und einem Toast kamen wir uns allmählich näher, bis Francesca unvermittelt mit der Frage herausrückte, die den endgültigen Übergang von Gleichgültigkeit zu Interesse signalisierte: »Was für ein Sternzeichen bist du?«
»Rat mal«, antwortete ich in der Pose des Verführers, der Ausgang hat.
»Komm schon«, sagte sie kokett. »Wie soll ich das anstellen? Ich kenne dich doch gar nicht.«
»Folge einfach deinem ersten Eindruck. Wenn du wirklich an so eine – wie soll ich sagen – Geschichte glaubst, kannst du es ja mal versuchen.«
»Das ist keine Geschichte«, empörte sie sich. »Das ist etwas Ernsthaftes. In jedem Fall würde ich sagen … äh … Fische.«
Ich riss die Augen auf und ließ das Glas in meiner Hand zittern.
»Das ist ja unglaublich«, sagte ich erstaunt.
»Wirklich? Du bist wirklich Fische?«
»Fische, genau. Jetzt musst du mir aber erklären, wie du das gemacht hast.«
»Hab ich doch gesagt. Es gibt bestimmte Charakterzüge, bestimmte Eindrücke, man muss nur aufmerksam sein. Ich hatte mal einen Freund, der Fische war.«
Ich kippte das Glas in einem Zug hinunter. Der Weg schien frei. Die Vorstellung, dass ein Sternzeichen unsere Begegnung begünstigte und sie selbst mit einer ganz außergewöhnlichen Sensibilität gesegnet war, zudem die Zufriedenheit darüber, dass sie meine Sicherheiten zerstört hatte, ließen Francescas Züge in besänftigtem Stolz zerfließen. Meiner Sache sicher, fragte ich sie nach ihrer Telefonnummer.
»Aber nein, ich werde dir doch nicht meine Nummer geben. Dir mit deinem schlauen Fischgesichtchen.«
Ich hielt nach einer spiegelnden Oberfläche Ausschau und erblickte dort nur den üblichen Flunsch eines verirrten Koalas, vielleicht noch ein wenig finsterer als sonst wegen des vielen Rauchs, den Francesca mir ins Gesicht blies. Dessen ungeachtet ließ ich noch ein paar Kommentare über unsere von den Göttern gesegnete Leidenschaft fallen, versuchte es erneut und schrieb dann ein paar Zahlen auf eine Papierserviette, auf der ich mir, bevor ich das Essen verließ, auch noch eine Gedächtnisstütze notierte: Du hast ihr gesagt, dass du Fische bist. Als Schütze war ich zu dieser kleinen Lüge möglicherweise berechtigt. Armleuchter hingegen waren Schützen nicht.
Vor ihrer Haustür am Abend danach, unter den Sternen mit all ihrer gasförmigen Gleichgültigkeit, war die Stimmung vergnügt. In der Spannung der ersten Kontaktaufnahme näherte ich mich Francescas Ohr und spürte ein wachsendes Verlangen. Ich spielte mit dem Gedanken, einen Aszendenten zu erfinden – oder auch zwei –, beschränkte mich aber auf ein schlichtes Säuseln, das sie, ohne in übertriebenen Romantizismus zu verfallen, mit einem »Okay« beantwortete. Alles verlief nach dem besten aller denkbaren Drehbücher, verlegenes Lachen im Hauseingang, leichte Berührungen im Innenhof, ein sich Lösen, ein sich Wiederfinden, bis ich, als ich den Leuchtsymbolen des langsam aufsteigenden Fahrstuhls folgte, plötzlich von einer merkwürdigen Angst gepackt wurde.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich Francesca.
»Klar«, antwortete ich, drückte sie an mich und fühlte mich auf einmal schwach und um Jahrzehnte gealtert.
Der Vertrag.
Die aktualisierte Version.
Die am Nachmittag eingetroffen war.
Eine eiskalte Schlange kroch an meiner Hüfte hoch.
Mit welcher Version hatte ich gearbeitet?
Hatte ich den richtigen Vertrag verschickt?
Der Zweifel schlich sich in jede Ader. Mein Atem beschleunigte sich unmerklich. Der Herzschlag wurde schneller.
»Hallo, was ist?«
»Was? Ach so. Nein … Ich bin nur ein wenig aufgeregt.«
»Süß.«
Francescas Stimme erreichte mich wie aus dem Innern einer Blase.
Ich versuchte, die quälenden Ängste abzuschütteln und mich in die Aussicht eines großartigen Abends zu flüchten. Lass dich nicht ablenken, sagte ich mir in Giuseppes Tonfall, be focused. Dennoch wäre ich am liebsten fortgelaufen und hätte das Blackberry angeschaltet, um zu kontrollieren, zu prüfen, sicherzustellen. Glücklicherweise blieb mir noch die nötige Klarsicht, um mir Fragen von moralischer Würde vorzulegen: Was für ein Bild würdest du abgeben? Was für ein Mensch bist du? Ist dir eigentlich bewusst, dass dein Hemd offen steht?
Das Blackberry schaltete ich später an, als ich zusammengesunken im Taxi saß. Erleichtert entdeckte ich, dass alles in Ordnung war und ich mich gar nicht geirrt haben konnte, eine Gewissheit, die ich allerdings nicht mehr im Griff habe, sondern beim erstbesten Zweifel zu verlieren drohe. Die Angst, einen Fehler zu machen, klebt wie ein durchschwitztes Hemd an meinem Körper, feuchtwarmes Ergebnis jahrelanger Suggestion: Wir. Machen. Keine. Fehler. Bevor ich eine E-Mail abschicke, lese ich sie so oft, bis ich sie nicht mehr verstehe, überprüfe mit manischer Genauigkeit die Adresse und öffne dreimal die pdf-Dateien, um sicherzustellen, dass es sich auch wirklich um die richtigen handelt.
Ich schaltete das Blackberry aus.
Du bist schlimmer als ein kleiner Lügner, du bist ein Armleuchter. Und während der Taxifahrer mich nach Hause fuhr, dachte ich an die vergangenen Stunden. In Francescas Zimmer hatte der Abend seinen Lauf genommen, auch wenn ein Teil von mir – wir machen keine Fehler – diese beiden sich wälzenden Körper zu hassen begonnen hatte. Jener Teil von mir, der, je mehr ich dem Höhepunkt entgegenstrebte, desto stärker die Kontrolle über meinen Körper zu erlangen suchte. Jener Teil von mir, der am Ende triumphierte und mich zwischen einer Schulter und einem Kissen zu sprechen drängte.
»Wo habe ich meine Unterhose hingelegt?«
Das war nicht ich.
Das war jener Teil von mir.
»Möchtest du nicht hier schlafen?«
»Äh … Morgen früh … Sitzung … Unterhose.«
Jener Teil von mir.
»Siebenundneunzig«, rufe, oder besser gesagt, schreie ich. »Siebenundneunzig Tage.«
Ein Kellner dreht sich besorgt nach mir um.
»Sie hieß Francesca«, beginne ich. »Erstes und letztes Mal. Seither hat sie …«
»Nein, Andrea«, unterbricht mich Giovannino. »Fang nicht mit deiner depressiven Tour an, das kann ich überhaupt nicht vertragen. Und du?«, wendet er sich an Nicola, der bis zu diesem Moment still geblieben war.
Giovannino, ich und ein paar Kellner, die am Nebentisch sitzen, sehen Nicola an.
»Und du?«, frage auch ich und dehne das u länger als nötig.
Reglos und mit starrem Blick belauern wir Nicola, der sich zurücklehnt, dann wieder vorbeugt, dann die Ellbogen aufstützt, sie wieder hochnimmt, sich mit den Händen die Oberschenkel reibt und dann plötzlich, als würde es ihn schaudern, hochspringt.
»Ich habe verloren, okay?«, ruft er schrill. »Ich habe verloren. Ihr habt gewonnen.«
Er geht zur Klotür, öffnet sie und verschwindet.
»Aber was haben wir denn gesagt?«
»Ihm geht jede Selbstironie ab.«
»Wohl wahr.«
»Lass dir die Rechnung geben.«
»Du musst zahlen. Ich habe mein Portemonnaie in der Kanzlei gelassen.«
»Wie gehen einfach, und wenn Nicola rauskommt, übernimmt er das.«
»Wenn er rauskommt.«