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Ich schlurfe durchs Foyer und betrete einen kleinen Raum an der Rückseite, wo ich mich niederlasse und frühstücke. Der holzgetäfelte Minisaal mit seinen fünf Tischen öffnet sich auf einen Hofgarten, in dem sich eine fette Katze das Fell leckt. Ich schaue sie an. Sie schaut mich an. Einige Sekunden vergehen, dann bin ich es, der den Blick senkt.

Ungekämmt und unausgeschlafen nehme ich einen Schluck kalten Cappuccino und überfliege die Schriftstücke zum Dreifürzwei-Project. Neben mir lässt eine Frau ein paar Tabletten in ein Glas Wasser fallen. Mit ironischer Lebhaftigkeit sprudeln sie auf.

Ich versuche mir ein Bild von dem Projekt zu machen: Zeus Investments (im Folgenden: Zeus Investments oder der Mandant) ist ein Unternehmen, das auf dem Gebiet von real estate tätig ist, Bereich Entwicklung und Verwaltung von Einkaufszentren. Die zwanzig kunststoffbeschichteten Seiten der Präsentationsmappe sprechen von einem klar definierten Ziel: in den italienischen Markt eindringen. Es heißt dort nicht: den italienischen Markt erobern. Geschmacksfrage, denke ich. Das Projekt soll gekrönt werden durch ein Joint Venture mit einer englischen Geschäftsbank, der Meyon & Tolsen Bank (im Folgenden: Meyon & Tolsen oder die Bank), die im selben Bereich operiert und über Bogomin S.r.l. (im Folgenden: Bogomin oder das Zielobjekt), dem Eigentümer von drei Einkaufszentren im Nordosten, bereits auf dem italienischen Markt präsent ist. Zu Bogomin werde ich mich heute Morgen begeben. Wenn alles läuft, wie es laufen soll (»Und es wird alles laufen, wie es laufen soll«, hatte Giuseppe die Sache auf den Punkt gebracht), wird am Ende der Verhandlungen das Aktienpaket der Bogomin auf eine new-co übertragen, eine neu gegründete Gesellschaft, an deren Aktien Zeus Investments fünfzig Prozent halten wird, bei abschließender Bildung eines Joint Venture mit paritätischen Beteiligungsstrukturen. Routine.

Ich rufe mir die nötigen Fachbegriffe ins Gedächtnis – mall, gla, anchor, brand, effort rate – und ein paar statistische Daten, von denen ich mich im Verlaufe der Sitzung angenehm überrascht zeigen werde, um Interesse, Motivation und Identifikation mit den gemeinsamen Zielen zum Ausdruck zu bringen. Gelegentlich verweile ich bei den Bildern, die zwischendurch eingestreut sind: glückliche Familien, die über lange Flure mit totalverglasten Läden laufen, zufrieden lächelnde Gesichter von Angehörigen einer Klasse, für welche die Geschichte nichts zu wünschen übrig lässt, brillante Farben einer Werbung, die nicht Bedürfnisse, sondern Sehnsüchte weckt.

Seufzend schließe ich die Mappe und versuche, Glaubwürdigkeit auszustrahlen. Dann stehe ich auf, kehre in mein Zimmer zurück, hole den Trolleykoffer und gehe hinunter, um auszuchecken. Der Mann mit dem grau melierten Bart erkundigt sich nach meinem Verbrauch aus der Minibar und erstellt die Rechnung.

»Soll ich alles auflisten?«, fragt er augenzwinkernd.

»Aber natürlich«, sage ich verdutzt. »Wo kämen wir denn da hin.«

Der Mann reicht mir eine Rechnung, auf der neben den Spesen auch die Worte Pay-per-view Euro 12.00 erscheinen. Ich zahle und frage mich, wie ich dem Mandanten den Zusammenhang zwischen einer gewissen Filmgattung und dem zu leistenden juristischen Beistand erklären soll.

»Entschuldigung«, sage ich und halte ihm die Rechnung hin. »Könnte ich vielleicht doch, äh, eine andere bekommen?«

»Jetzt behalten Sie mal schön diese hier«, sagt der Mann und schließt meine Hand um das Blatt. »Für wen halten Sie uns eigentlich?«

Ich lasse mir ein Taxi rufen, nehme den Trolley und gehe.

Bogomin befindet sich ein paar Kilometer außerhalb von Treviso. Ich lehne mich auf der Rückbank zurück und sehe die Landschaft an meinen halb geschlossenen Augen vorbeiziehen. Die wohldosierte Mischung an atmosphärischen Gasen taucht den Himmel in ein gedecktes Azurblau, vor dem sich am Ende einer langen Allee der Betonklotz des Firmensitzes abhebt.

»Sind Sie geschäftlich hier?«, fragt mich der Taxifahrer, als er mir hilft, den Trolley aus dem Kofferraum zu holen.

»Ja, geschäftlich.«

»Unternehmer?«

»Anwalt.«

»Ah«, sagt er und spuckt aus. »Das ist wirklich ein schöner Beruf. Da können Sie sich mit meiner Exfrau zusammentun. Sogar den Fernseher habt ihr mir weggeschleppt. Das Sofa und den Fernseher. Großartig. Wirklich großartig«, ruft er, tritt ein Stück zur Seite und applaudiert mir.

Ich nehme den Koffer und reiche ihm einen Taxigutschein. Ohne etwas zu sagen, gehe ich zum Gitter, das den Betonklotz umgibt, und klingle. Eine schrille Stimme übertönt das Motorengeräusch des sich entfernenden Taxis.

»Ja?«

»Mein Name ist Campi. Von der Kanzlei Flacker, Grunthurst and Kropper.«

»Bitte noch einmal.«

»Campi … Flacker, Grunthurst and Kropper.«

»Nein, hören Sie, immer mit der Ruhe. Sie müssen langsam und deutlich sprechen. Deut-lich.«

Allmählich werde ich nervös.

»Cam. Pi. Flak. Ker. Ich habe einen Termin bei …« Aus meiner Mappe fische ich eine Visitenkarte. »Signor Carugato, dem Ingenieur.«

»Warten Sie.«

Die Stimme verschwindet.

Ich bücke mich und pflücke eine Margerite.

»Hier ist kein Termin verzeichnet.«

»Was soll das heißen, kein Termin? Ich bitte Sie, das noch einmal zu prüfen. Dies ist doch Bogomin S.r.l., oder?«

Die Stimme schnaubt genervt. »Hören Sie, ich habe das überprüft. Für den Vormittag sind keine Termine vorgesehen, und ich bin nicht befugt, die Ingenieure zu stören. Außerdem muss ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir schon mit Lieferanten unseres Vertrauens zusammenarbeiten, Menckel Stones, Toretti, Tys & Gutt …«

»Aber …« Ich zögere. »Was reden Sie denn da, verdammt? Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas zu verkaufen. Ich bin Anwalt. Ich kaufe.«

»Entschuldigen Sie bitte?«

»Ich kaufe. Haben Sie verstanden? Ich kaufe alles.«

Technisch gesehen ist das gar nicht mal falsch. Ich bin der Anwalt der Käufer, und wenn wir das Unternehmen auch nicht ganz kaufen, sondern nur zu fünfzig Prozent, so macht das doch keinen großen Unterschied. Macht überhaupt etwas einen Unterschied? Das Klicken, mit dem die Verbindung unterbrochen wird, bestätigt zumindest, dass gewisse Ungenauigkeiten nicht folgenlos bleiben.

Ich klingle erneut. Dieselbe Stimme sagt jetzt noch schriller: »Hören Sie gut zu. Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Carabinieri.«

»Beruhigen Sie sich doch, Herrgott noch mal. Ich kann Ihnen das Ganze erklären.«

»Beruhigen Sie sich erst einmal, was erlauben Sie sich denn?«

»Ich bin die Ruhe selbst.«

»Ach ja? Und wieso hämmern Sie dann gegen das Gitter?«

Unwillkürlich schaue ich hoch und entdecke über dem Tor eine blinkende Kamera, die auf die Sprechanlage gerichtet ist. Ich öffne die Faust, mit der ich gegen die Metallstäbe geschlagen hatte, hebe zögerlich die Hand und wage einen bescheidenen Gruß.

»Na, sehen Sie mich?«, frage ich mit einem idiotischen Grinsen in die Kamera und winke mit meiner roten Krawatte.

»Ich bin es. Ein Profi, ein Anwalt. Flacker, Grunthurst and Kropper. Ich habe eine Verabredung mit Signor …« Erneut greife ich zu der Visitenkarte. »Carugato, dem Ingenieur. Für zehn Uhr. Seien Sie so nett, und sagen Sie dem Herrn Ingenieur Bescheid. Sie werden sehen, dass sich das Missverständnis klärt.«

»…«

»Ich verspreche es Ihnen«, füge ich unterwürfig hinzu.

Ein langes Schweigen.

Ich bücke mich und reiße alle Margeriten heraus. Dann fällt mir die Kamera wieder ein, und ich stelle sie zu einem hübschen Sträußchen zusammen. Ein Summen verkündet, dass sich das Tor öffnet.

Hinter der Drehtür wartet ein großer, korpulenter Mann auf mich.

»Sie sind von Flachergrunt?«, fragt er unsicher.

»Bis jemand die Ablösesumme zahlt.«

Einen Augenblick lang ist der Mann perplex, dann fasst er sich wieder.

»Herr Anwalt.« Er fuchtelt mit den Armen herum, als würde plötzlich Leben in ihn fahren. »Verdammter Mist. Entschuldigung, verzeihen Sie, dass wir Sie die ganze Zeit da draußen haben warten lassen. Ich stecke mitten in der Arbeit und hatte darum gebeten, dass man mich nicht stört. Ich habe Gäste, müssen Sie wissen. Wichtige Gäste.«

»Campi, Andrea Campi«, sage ich und reiche ihm die Hand.

»Verdammter Mistdreck, ich muss mich noch einmal entschuldigen, schlecht erzogen, wie ich bin. Sehr erfreut. Severino Carugato, Ingenieur und verantwortlicher Direktor.«

»Herr Ingenieur, es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Ich, äh … kann warten, bis Sie fertig sind. Am besten warte ich hier.«

Der Ingenieur schaut mich an, und sein Gesichtsausdruck verändert sich.

»Ich habe aber noch den ganzen Vormittag zu tun.«

»Aha.«

»Das tut mir wirklich leid. Wenn Sie vorher Bescheid gesagt hätten, wäre es mir vielleicht möglich gewesen, Ihnen ein Gespräch mit einem meiner Mitarbeiter zu vermitteln. Wenn ich übrigens so direkt sein darf, was …« Er unterbricht sich und schaut mich schief an.

»Ja?«

»Was wollen Sie eigentlich hier?«

»Wie, was ich hier will?« Ich werde jetzt lauter. »Wir hatten eine Verabredung. Zehn, halb elf.«

»Aber der Termin wurde doch abgesagt. Hat Ihnen Ihr Kollege das nicht mitgeteilt? Ettore?«

»Achille.«

»Achille.«

»Davon hat er nichts verlauten lassen. Mir hat er nur gesagt, dass …«

Ich gerate ins Stocken. Plötzlich fühle ich mich sehr müde. Die Farben verblassen. Die Umrisse verschwimmen. Ich würde gerne über Blowjobs reden, über jene, denen sich Achilles Frau mittlerweile verweigert, weil sie herausgefunden hat, dass er die Hälfte seines Gehalts in Nutten steckt, selbst an Weihnachten. Und ich würde gerne sagen, dass ich ein Idiot bin, weil ich jetzt hier im Friaul stehe – oder vielmehr in Venetien – und ein Ingenieur mit blauen Hosenträgern sich fragt, ob die Empfangsdame nicht vielleicht doch Recht hatte und man die Carabinieri rufen sollte.

»Schauen Sie, Herr Ingenieur, es muss wohl ein kleines Missverständnis gegeben haben. Ich möchte wirklich nicht stören, aber wo ich nun schon einmal hier bin, wäre es Ihnen da nicht möglich, mich in Ihren data room zu führen, damit ich mir einen ersten Eindruck vom Material verschaffen und die check list abarbeiten kann. Schon in Hinblick auf die due diligence

Der Ingenieur schaut mich verblüfft an.

»Ich will versuchen, es besser zu erklären«, setze ich noch einmal an. »Wenn ich mich nicht irre, haben Sie einen data room, einen Raum, in dem Sie alle Papiere aufbewahren, die Ihr Unternehmen betreffen. Wäre es möglich, einen Blick hineinzuwerfen?«

»Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Sie müssen sich klarer ausdrücken, Herr Anwalt, schließlich kommen nicht alle Menschen aus Mailand. Folgen Sie mir.«

Der Ingenieur führt mich in einen Raum im ersten Stock, wo er verkündet, dass er jetzt wirklich verschwinden müsse, die Arbeit staple sich, die Zeit laufe davon, holen Sie sich aber ruhig einen Kaffee an der Kaffeemaschine, kostet nur sechzig Cent. Dann drückt er mir die Hand.

»Und lassen Sie nichts mitgehen.« Er versucht zu zwinkern, schließt aber beide Augen gleichzeitig.

In Aluminiumregalen stehen in perfekter Ordnung lange Reihen von aufsteigend nummerierten Akten: das gesamte Unternehmensarchiv – von der Gründungsurkunde bis zu den Protokollen der Verwaltungsratssitzungen, von den Bilanzen bis zu den Handels- und Finanzierungsverträgen, von den Arbeitsverträgen bis zu den Umweltzertifikaten, von den Patenten bis zu den Gerichtsakten –, alle relevanten Daten, um die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Unternehmens analysieren zu können, Daten, die wir, die Anwälte des Käufers, brauchen. Ich setze mich, hole einen Block aus der Außentasche meines Trolleys und beginne, mir Notizen zu machen. Die Sonne scheint immer heißer auf die Berge herab. Irgendwo in der Ferne bewegt sich etwas im Gras, und ich denke an den geplatzten Termin, an Achille, an seine Frau und an Pay-per-view-Filme.