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Ich schalte den Fernseher ein. Menü Music&Sound. Eine Liste von Kategorien zieht an meinen Augen vorbei, Rock, Rap, Blues, Adult Listening, New Wave, Instrumental, Techno, Speedcore, Gabber, Meeresrauschen, Waldesstimmung, arktische Stille und so weiter. Ich wähle den Titel und stelle den Ton lauter. Ta-tta-ta-ra-tà. Ta-tta-ta-ra-tà. Durchs Fenster dringt das Licht einer blanken, ultramodernen Sonne. In dem seidenen Morgenmantel, den ich im begehbaren Kleiderschrank gefunden habe und an dem ein eingeschweißtes Schild hängt – Take me with you. Just pay $ 450 –, gehe ich ins Bad. Meine Füße folgen dem Rhythmus der Blasinstrumente, die aus den großen Lautsprechern neben dem Fernsehbildschirm dröhnen.
Start spreading the news
I’m leaving today
I want to be a part of it
New York, New York …
Noch einmal lese ich das Kärtchen, das mir Emily geschrieben hat, bevor sie verschwunden ist, um sich für die heutige Sitzung fertig zu machen: Ich wollte dich nicht wecken, wo du doch wie ein Kind schläfst. Und wie ein Walross schnarchst. ;-)
Was denn für ein Walross?, denke ich. Sicher habe ich mich nur geräuspert. Die klimatisierte Luft schlägt mir auf die Stimme. Mit dem Walross hört die Nachricht auf. Als ich die Hand ausgestreckt und auf Emilys Seite eine leere Stelle ertastet hatte, war ich in Panik verfallen. Ich hatte mich umgedreht, mit vernebeltem Blick ins Zimmer gestarrt und mich sofort beruhigt. Emily hatte am Schreibtisch gesessen, einen Stift in der Hand und nur einen Slip am Leib. Wenige Sekunden später trug sie nicht einmal mehr den. Daran muss ich jetzt denken, als ich mich im Badezimmerspiegel betrachte, das Kinn mit Rasierschaum bedeckt, die Haare im Nacken abstehend, die Augen die eines gegrillten Fischs. Ich. Emily. Ist das wirklich passiert?
I want to wake up in that city that never sleeps
To find I’m a number one, top of the list, king of the hill
A NUMBER ONE…
Im Golden Breakfast Room herrscht allgemeines Gewusel. Als ich ins dritte Croissant beiße, stellt Giuseppe seinen großen schwarzen Kaffee hin und räuspert sich.
»Wie kommt es, dass du einen solchen Hunger hast?«
»Ich habe gute Laune.«
Giuseppe mustert mich misstrauisch.
»Du? Gute Laune? Was geht hier vor, Endru? Verheimlichst du mir etwas?«
»Nein, wieso? Darf ich keine gute Laune haben?«
»Sicher doch, sicher doch. Aber sonst wirkst du immer ein wenig wie ein gestrandeter Wal. Na ja, vergessen wir es. Wieso du allerdings gestern hinter diesen Säulen herumgehüpft bist und wie ein Irrer gelacht hast, das würde ich schon gerne wissen.«
Vor Schreck schießt mir der Kaffee in die Nase.
»Ich? Hinter Säulen? Nein, nein, nein«, wiederhole ich und stecke ohne ersichtlichen Grund einen Finger in die Sahneschüssel auf dem Servierwagen, den ein Kellner soeben vorbeischiebt. »Gestern war ich den ganzen Abend auf dem Zimmer. Mir ging es nicht gut. Hörst du nicht, dass ich ein wenig heiser bin?«
»Heiser? Endru, was redest du bloß für ein Zeug?«
»Wo ist denn überhaupt Donato?«, versuche ich, das Thema zu wechseln.
Giuseppe pustet gegen die Pflanze, die auf dem Tisch steht.
»Donato ist mit Cardellini weg. Ich seh schon, du hast die Mails von heute Nacht noch gar nicht gelesen. Das lässt sich ja gut an. Ich kann das Wichtigste aber noch einmal für dich zusammenfassen: Rashid trifft sich mit seinen Leuten. Die Sitzung wurde auf vierzehn Uhr verschoben. Den Vormittag haben wir frei.«
»Und wo sind die anderen?«
»Den Praktikanten habe ich nicht gesehen. Cardellini hat Donato gefragt, ob er ihn in die Mall of the Gods begleitet. Er möchte offenbar einen Teppich kaufen.«
»Einen Teppich? Cardellini kann doch nicht einmal eine asphaltierte Straße von einem englischen Rasen unterscheiden. Du magst ihn verteidigen, wie du willst, Giuseppe – die Erfahrung, der Einsatz, was auch immer –, aber dieser Typ ist ein Arschkriecher, wie er im Buche steht.«
»Bähhh.« Giuseppe dreht den Kopf weg. »Was für ein unerträglicher Gestank, Mamma mia. Der Gestank von morschen Werten. Arschkriecher. Was soll denn bitte schön ein Arschkriecher sein? Du bist ein aufgewecktes Bürschchen, Endru, und ich frage mich ernsthaft, warum du dich immer zu solchen Dummheiten hinreißen lässt. Was ist das für eine Reinheit und Würde, die du immer zu verteidigen müssen glaubst? Du klebst zu sehr an alten, verrotteten Maßstäben, lass dir das gesagt sein. Weg damit, radikal. Die Welt dreht sich weiter, und du hockst immer noch wie ein Japaner auf deinem Inselchen, weil dich niemand davon in Kenntnis gesetzt hat, dass der Krieg aus ist. Ich sage es dir hiermit: Der Krieg ist aus. Komm zurück, Endru, komm. Und fang endlich an.«
»Teppiche zu kaufen?«
»Modern zu sein.«
Das Echo der letzten Worte hallt noch nach, als Giuseppe sich erhebt. Er wischt sich mit der Serviette über den Mund und wirft sie auf den Tisch.
»Okay, ich gehe in die Sauna, um die alten Knochen aufzuwärmen. Punkt vierzehn Uhr, denk dran.«
»Punkt vierzehn Uhr.«
»Ach, Endru?«
»Was denn?«
»Irre ich mich, oder ist hinter den Säulen noch jemand herumgehüpft?«
Ich liege auf dem Bett, schlage die Zeit tot und warte auf Rashids Rückkehr und die tägliche Infusion an Zweifeln an der Möglichkeit einer besseren Welt. Zerstreut folge ich den bunten Bildern, die über den an der Wand befestigten Bildschirm laufen, nachdem ich erfolglos versucht habe, ihn auszustellen. Die Frage, die sich heute Nacht in meinem Kopf festgesetzt hat, summt jetzt wieder mit neuer Intensität darin herum: Warum mache ich das?
Ich strecke die Hand aus, nehme das Handy vom Nachttisch und tippe eine Nummer.
»Hallo, Andrea«, sagt eine Stimme, die ich kaum wiedererkenne. »Wurdest du schon von einem Kamel gefickt?«
»Ah, ganz der Alte. Hallo, Giovannino.«
»Klar ganz der Alte. Was denn sonst?«
»Keine Ahnung. Ich verstehe dich schlecht. Deine Stimme klingt wie ein Gurgeln.«
»Du erwischst mich nur gerade in einem ungewöhnlichen Moment. Ich hocke unter Nicolas Schreibtisch.«
»Was machst du denn unter Nicolas Schreibtisch?«
»Antonio ist auch hier. Nicola ist in einer Sitzung. Wir schrauben eine Rolle von seinem Schreibtischstuhl.«
»Das klingt vernünftig. Hör mal, Giovannino, ich habe eine Frage.«
»Schieß los.«
»Warum machst du das alles?«
»Damit er mit dem Arsch auf dem Boden landet.«
»Ich spreche nicht von dem Schreibtischstuhl, du Idiot. Alles, meine ich. Die Arbeit, die vielen Überstunden, der Verzicht …Warum machst du das alles?«
»Was ist denn das für eine Frage?«
»Ich bin nur neugierig. Belastet dich das nicht? Glaubst du nicht, dass …«
»Moment mal. Was willst du denn sonst tun? Den Hühnern den Hintern abwischen?«
Das sitzt.
Ich kratze mich an der Schläfe.
Den Hühnern den Hintern abwischen.
Das ist wirklich kein schöner Beruf.
Plötzlich bin ich erleichtert, und alles bekommt einen tieferen Sinn.
Giovannino schreit unterdessen Antonio an.
»Kannst du mir nicht mal helfen. Wenn jemand hereinkommt, wird er sich bestimmt fragen, was ich hier unten mache.«
»Komm schon, Giovannino«, mische ich mich ein. »Du bist einen Meter und ein paar Zerquetschte groß und kaufst Kinderkrawatten, damit sie dir nicht wie eine Federboa bis zu den Knien herabhängen. Wer soll den Unterschied schon groß bemerken?«
»Leck mich.«
Um zwei sitzen wir in der Versammlung, und schon zehn Minuten später steckt die Diskussion bei der black ball clause fest. Cardellini blättert lautstark in seinen Papieren und weist Giuseppe manchmal auf einzelne Wörter hin, woraufhin der widerwillig nickt. Boraletti berät sich mit Nathan. Ich suche Emilys Blick, sie sucht den meinen.
»Ja was denn«, sage ich heftig und schlage mit der Hand auf den Tisch. »Don’t trouble trouble trouble … Nein, wartet … Wie war das noch gleich?«
Fragende Blicke richten sich auf mich. Nur Emily senkt den Blick und lächelt.
»Endru«, zischt Giuseppe. »Was zum Teufel erzählst du da?«
»Keine Ahnung«, antworte ich und wende mich dann an alle: »Aber ja doch, wir reden hier von ungelegten Eiern.«
Giuseppe rückt näher. Sein Flüstern ist jetzt bohrend.
»Ich zerquetsche dir die Eier, wenn du dich nicht zusammenreißt. Es würde mich wirklich interessieren, was heute Nacht mit dir passiert ist. Diese gute Laune, dieser ganze Unsinn …«
»Einen kleinen Augenblick mal, einen kleinen Augenblick mal«, mischt sich Cardellini von der anderen Tischseite her ein. »Nur einen kleinen Augenblick mal bitte.«
Jetzt sind es schon drei kleine Augenblicke, denke ich, und vielleicht sage ich es auch, denn wieder drehen sich alle zu mir um.
»Kollege Campi ist wie gewöhnlich ein wenig unpräzise«, fährt Cardellini fort. »Was er sagen wollte, ist: Wir sollten die ratio bedenken, die der fraglichen Klausel zugrunde liegt. Rationale auf Englisch.«
Donatos Augen fangen an zu leuchten.
Hör mal, du kleines Stück Scheiße, shit auf Englisch, möchte ich schon sagen, als mir Giuseppe die Hand auf den Arm legt wie ein kleines Mädchen, das im Kino während des Vorspanns plötzlich Lust auf Popcorn bekommt.
»Endru«, säuselt er süßlich. »Während wir diesen Punkt klären, könntest du mir einen Riesengefallen tun. Keine Ahnung, wo Tiziano steckt, aber könntest du ein Dutzend Kopien von diesem side letter machen. Wenn wir den später diskutieren, haben alle meine Kommentare schön vor der Nase.«
Er drückt mir zwei zerknitterte Zettel in die Hand. Der Anhang 8.1 ist mit verschiedenen Randbemerkungen und verstreuten Kommentare wie Milan vor – Nieder mit Inter gespickt. Ich stehe auf.
»Sehr freundlich«, sagt Giuseppe.
Alle Augen folgen mir, und ich fühle mich plötzlich wie ein Kleidungsstück, das aus der Mode gekommen ist.
Bevor die Tür hinter mir ins Schloss fällt, dringt Cardellinis Stimme an mein Ohr.
»Perfekt. Dann können wir ja weitermachen. Wo waren wir stehen geblieben? Where we were?«
»Uèuèuè«, sagt Donato und klopft sich auf die Wange. »Zum Piepen.«