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Vom Himmel fallen die letzten Tropfen eines furchtbaren Gewitters. Die Straßen riechen nach nassem Asphalt. Es ist Nacht. Ich laufe über verlassene Bürgersteige, verloren in meinem um einige Nummern zu großen Trenchcoat mit dem hochgeklappten Kragen, auf dem Kopf ein zerbeulter Hut. Mein Schritt ist sicher, die Finsternis ist mein Freund, die leere Straße macht mir keine Angst. Der verhangene Blick von Letizia Moratti verfolgt mich aus der Höhe eines alten Wahlplakats. Ich ziehe an der Zigarette, huste und werfe sie weg. Nicht weit von mir entfernt bewegt sich im Licht einer Laterne der Schatten eines Mannes, unsicher. Ich drücke mich an die Wand, verstecke mich in der Dunkelheit. Die Gestalt des Mannes wird deutlicher erkennbar. Ich spüre, wie meine Spannung wächst. Er kommt näher, immer näher, ist kaum mehr als einen Schritt von mir entfernt. Schwungvoll stürze ich mich auf ihn, zerre ihn in einen Hauseingang und drehe ihn gewaltsam zu mir um. Ich packe ihn am Kragen und presse ihn gegen die Wand. Aus Richtung einer Mülltonne erklingt der erstickte Schrei einer Katze und lässt mich schaudern. Ich betrachte den Mann, der vor mir kauert. Er ist zu Tode erschrocken. In den ängstlichen Augen erkenne ich den sonst so scharfen Blick des Mitarbeiters der französischen Geschäftsbank. In seiner panischen Angst bringt er nichts raus als ein Stammeln: »Non-non-non-je-t-en-prie-non-non-non-non-non.« Er fleht mich an, ihn gehen zu lassen, ihm nichts anzutun, aber ich sehe ihn ohne jedes Mitleid an. Dann ziehe ich ein zerknittertes Dokument aus der Tasche. »Hier, hier, schauen Sie genau hin. Klausel 8.4 des Vertrags, den wir soeben unterschrieben haben, enthält eine Garantie zugunsten der Gegenpartei, eine Garantie zu Ihren Lasten, eine Garantie, die ich ohne Ihre Zustimmung eingefügt habe. Schauen Sie.« Der Mann stößt einen unmenschlichen Schrei aus. Ich lasse ihn los, verschwinde, reiße die Arme nach oben und breche in ein teuflisches Lachen aus.
»Haaa…«
Unvermittelt öffne ich die Augen und schieße hoch. So bleibe ich sitzen, keuche, starre an die Wand. Das Herz beruhigt sich. Ich schüttle den Kopf. Dann presse ich die Knöchel auf die Augen, lege mich wieder hin und ziehe den Vorhang beiseite. Draußen vor den Fensterschlitzen scheint die Nacht eben erst begonnen zu haben.
»Irgendetwas muss mit mir passieren«, murmle ich, während ich mit dem Fuß nach einem Pantoffel angele. Ich stehe auf und gehe in die Küche. Im Kühlschrank finde ich eine Scheibe Roastbeef, stecke sie zwischen zwei Toasts und esse ein paar Bissen. Dann trinke ich das Bier, das geöffnet auf dem Tisch steht, und gehe zurück ins Bett. Als ich den Kopf aufs Kopfkissen lege, denke ich, dass ich am liebsten für einen Moment in diese Straße zurückkehren würde, um dem Bankmenschen auch noch ein paar Rechtschreibfehler zu zeigen, die ich in Klausel drei eingeschmuggelt habe.
Ich schlafe wieder ein.
Meine Wohnung geht auf einen großen, üppig begrünten Hof hinaus. Es ist einer dieser wenigen Orte in Mailand, die von Rummel und Lärm verschont bleiben. Der gepflegte Rasen wird von verschiedenen Wegen durchzogen, über die sich die älteren Bewohner von ihren Hunden schleifen lassen. Gegenüber von meinem Fenster steht eine Baumgruppe. Von Blüten keine Spur. Der gründliche Beschnitt, dem die Bäume jeden Herbst zum Opfer fallen, lässt sie auch jetzt im Frühling eher wie Gliedmaßen aussehen, die sich gen Himmel recken. Mitten im Hof steht ein ausgetrockneter Brunnen. Das ist nicht gerade ein Panorama, das es auf den Titel von National Geographic schaffen würde, aber es ist eine Insel des Friedens, und sie gehört mir.
Gelegentlich passiert es, dass die Frau von gegenüber mit dem Nachbarn aus dem Stockwerk darunter streitet. Sie erhebt Anspruch auf das Recht, die Tischdecke auf dem Balkon ausschütteln zu dürfen, weil sie sich auf diese Weise – erstens – der Überreste des Mittagessens entledigen kann und weil diese Reste – zweitens – auf dem Rasen landen und so den Vögeln, diesen armen Wesen, die schließlich Geschöpfe Gottes sind, als Nahrung dienen. Nachdem der Nachbar die Vögel zum Teufel gewünscht hat, nimmt er aus dem Geranienkasten eine Handvoll Erde und bewirft die Frau. Das misslingt gründlich, und die Erde fällt ihm selbst ins Gesicht. Von solchen Episoden mal abgesehen, ist die Atmosphäre friedlich.
Seit einiger Zeit wird die Glückseligkeit um ein weiteres Element urbaner Poesie bereichert: die Klänge eines Klaviers. Der Pensionär, der sich an dem Instrument versucht, lässt eine Vorliebe für Scherzi und Balladen von Chopin erkennen. Auch an diesem Morgen dringen, zusammen mit den Sonnenstrahlen, die mächtigen Klänge durch die Fensterläden. Das ist schon etwas anderes, so geweckt zu werden, statt vom Klingeln dieses Geräts, und indem ich mich mühsam auf die Seite drehe, strecke ich die Hand nach dem Radiowecker auf dem Nachttisch aus. Die blinkende Zeitanzeige verrät: 7.09. Seufzend schleppe ich mich zum Fenster. Die Augen noch schlafverkrustet, öffne ich umständlich die Läden und schaue hinaus.
»Hallo«, beginne ich zu schreien. »Was ist denn das für ein Hurensohn? Müssen wir uns wirklich jeden Morgen dieses Geklimper anhören? Und pling und plang und pling und plang. Es gibt Leute, die ihren Schlaf brauchen, weil sie Tag für Tag den Buckel krumm machen. Können wir uns da vielleicht mal ein wenig beherrschen? Verdammte Scheiße.«
Ein sanfter Schleier des Schweigens senkt sich über den Hof.
»Das ist doch wirklich ein Rüpel«, ruft dann eine brüchige Stimme.
»Komm her, Eugenio. Hör gar nicht auf diesen ungehobelten Menschen.«
Ich halte die Augen geschlossen, lasse den Kopf aufs Kopfkissen sinken, strecke die Beine aus und bleibe im Halbschlaf liegen.
Als ich die Wohnung verlasse, kracht ein Donner.
Auf der Fußmatte binde ich mir die Krawatte um und gehe im Geiste noch einmal die Aufgaben des Tages durch. Im Treppenhaus begegne ich der Hausmeisterin, die mich, auf ihren Besen gestützt, finster mustert. Sie ist klein, kaum mehr als vierzig Jahre alt und hat die aufdringliche Stimme dieser Leute, die sich mit Protagonisten von Talkshows streiten. Stur beharrt sie darauf, dass unser Haus jede Mahnung wegen fehlerhafter Mülltrennung nur mir zu verdanken hat.
»Guten Morgen, Herr Staatsanwalt«, sagt sie und starrt auf meine Schuhe, die über die frisch geputzten Stufen laufen.
»Ich bin nicht Staatsanwalt.«
»Haben Sie denn kein Examen gemacht?«
»Ein solches Examen gibt es nicht mehr. Heute gibt es nur noch ein Anwaltsexamen. Und genau das bin ich: Anwalt.«
»Mein Schwiegersohn ist aber Staatsanwalt.«
»Hören Sie, Signora, dieses Spielchen haben wir schon oft genug gespielt. Wir hatten das doch besprochen: Sie sagen Guten Morgen, und ich grüße gerne zurück. Titel brauchen wir nicht, das ist schon in Ordnung so. Erkundigen Sie sich lieber, warum ich kein warmes Wasser habe.«
»Ich werde Garlini anrufen.«
»Besten Dank.«
»Leider muss ich Sie davon unterrichten, Herr Anwalt, dass schon wieder eine Mahnung eingegangen ist.«
Auf dem Rest der Treppe nehme ich immer zwei Stufen auf einmal und bin schon weit weg. Als ich auf den Bürgersteig trete, denke ich an Signor Umberto Garlini, einen pensionierten Italienischlehrer, der unser Haus verwaltet. Ich dachte, er sei schon längst tot.
Ich schaue hoch.
Der Himmel ist schwer von Regen, ein kalter Wind bläst, in den Straßen drängen sich die Autos. Eine Mutter reißt am Arm ihrer Tochter, die sich weigert, in den Wagen zu steigen, während der Vater hinter dem Lenkrad sitzt und in ein Headset brüllt: »Das ist mir scheißegal, ich möchte Sie heute Mittag dort erscheinen sehen.« Dann zu dem Kind: »Veronica, verdammt, steig in den BMW und hör auf damit.« Dann wieder ins Headset: »Punkt Mittag und keine Minute später.«, »Veronica, verdammt«, fügt er geistesabwesend hinzu, während er im Rückspiegel überprüft, ob er sich anständig rasiert hat. Ein Hupkonzert bildet den Soundtrack für diese Szene.
Ich gehe zur Bushaltestelle und betrachte mich in den Schaufenstern. Mofas schlängeln sich zwischen Autos und Flüchen hindurch, und ich stelle fest, dass ich dicker geworden bin.
Der Bus ist pünktlich. Im Innern – fünfzehn Sitzplätze und fünfundvierzig Stehplätze – drängen sich etwa hundert Leute, die sich aneinanderklammern und gleichzeitig giftige Blicke zuwerfen. Ich steige als Letzter ein und versiegle diese Menschenmasse, die mich gegen die Tür quetscht. Eine Dame um die sechzig rammt mir ihren Schirm in den Rücken, während sie darauf besteht, dass ein Mädchen mit Ohrstöpseln und Hello-Kitty-Rucksack ihr den Sitzplatz überlässt. Das Mädchen beachtet sie gar nicht, sondern schaut stur aus dem Fenster und dreht die Musik lauter. Eine andere Dame erklärt ihrer Freundin, dass bei der Luftverschmutzung ein wenig Regen nur guttun könne. Die Freundin antwortet, dass sie gestern Abend im Fernsehen den Papst gesehen habe, der ihr aber ein wenig mager vorgekommen sei, wer weiß, ob man ihm genug zu essen gibt, immerhin ist er so alt wie sie, auch wenn es sich um einen Deutschen handelt. Ein Mann in Jackett und Krawatte langt nach einer Halteschlaufe, pflanzt mir seine Achsel mitten ins Gesicht und tritt mir auf die Zehen. Ich mache aus meinem Unmut keinen Hehl, er entschuldigt sich, nimmt den Fuß runter und lässt die Achsel, wo sie ist. Nach ein paar Haltestellen beschließe ich auszusteigen, zu Fuß weiterzugehen und den Bus fahren zu lassen, mitsamt seinen gut bezahlten und vollkommen legalen Graffiti: Stopp dem Schweiß direkt neben der Aufforderung zum Liebesspiel mit dem Geschmack von Müller-Joghurt.
Ein Blick auf die Uhr.
Ich habe es nicht eilig, ins Büro zu kommen. Das Projekt ist abgeschlossen, mich erwartet ein ruhiger Tag, gewöhnlicher Papierkram, das eine oder andere Telefonat, mehr nicht. Vielleicht sollte ich vorher einen Cappuccino trinken, denke ich, betrete eine Bar und werde an der Theke von der Masse verschluckt. Croissants krümeln, Kaffeetassen wackeln bedrohlich, ich winde mich hindurch, bestelle beim Barmann, Bitte erst an der Kasse zahlen, unterdrücke einen Fluch, sehe mich zu Verrenkungen gezwungen, entkomme dem Gedränge schließlich, verlasse die Bar, beschleunige den Schritt und beiße in das Gebäckteil, das man mir im allgemeinen Chaos in die Hand gedrückt hat.
Ich biege in die Via Torino ein. Entschlossen gehe ich in Richtung Piazza Duomo und bleibe kurz hinter der Kreuzung mit der Via della Palla stehen, wo ich hinter einem Kiosk, der frische Kokosnuss verkauft (12 Monate im Jahr frische Kokosnuss, verspricht ein Pappschild, das mit Paketband angebracht ist.), einen Hundekopf und das Bein eines Mannes entdecke.
Hund und Bein gehören einem ewig lächelnden, dicken Obdachlosen mit einem dichten weißen Bart. Vor einiger Zeit hatte er mir mit großer Geste bedeutet näher zu kommen. Ich hatte mich umgeschaut, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich mich meint, dann nahm ich die Einladung zögernd an. Ohne Umschweife begann der Mann in gebrochenem Italienisch zu erzählen, dass er ursprünglich aus Tennessee stamme und erst Soldat und dann Sänger gewesen sei. Mittlerweile sei er zweiundachtzig. Seine zwei Töchter wohnten weit weg, und er habe keinen Kontakt mehr zu ihnen. Eine der beiden – sagte er – habe eine Cousine von Prinz Charles geheiratet. Dann verriet er mir, dass er unter anderem das Lied geschrieben habe, das Claudio Baglioni zum Erfolg verholfen habe. Niemand habe je seine Rechte daran anerkannt oder ihm auch nur einen Cent dafür gegeben. Das Lied gehe mehr oder weniger so: »Na na na na na giorni na na na …« Ich verabschiedete mich, gab ihm das Kleingeld, das ich in der Tasche hatte, und ging weiter. Damals hatte ich ihm versprochen, dass wir Baglioni, sobald ich mit der Arbeit über den Berg sei, verklagen würden.
Schweißgebadet erreiche ich die Kanzlei.
Zwei Jungen sitzen vor dem Gebäude auf ihrem Fahrrad.
»Der Maserati ist sportlicher«, sagt der eine gelangweilt und schiebt sich die Sonnenbrille auf den Kopf.
»Und der Bentley?«
»Der Bentley ist eleganter.«
»Maserati sportlich, Bentley elegant.« Der andere schaut in den Himmel und denkt nach. »Ja, du hast Recht.«
»Klar«, fährt der Erste fort. »Man könnte sagen, dass auf der Autobahn der Maserati besser ist. Aber für die Stadt, wenn du zum Beispiel mit deiner Mutter herumkutschieren willst, ist der Bentley voll korrekt.«
»Aha. Klar, korrekt.«
Die Stufen nehme ich im Laufschritt und lasse mich vom Gebäude verschlucken.