31
Eine Woche ist vergangen, und ich bin gealtert, als Giuseppe jetzt vor mir steht und den Kopf schüttelt. Die geladene Stimmung, der gesprengte Zeitplan, die allgemeine Nervosität, die unterschwellige Ungeduld des Mandanten, die Verzögerung trotz der knappen Zeit lassen die Welt für ihn in weite Ferne rücken. Giuseppe spricht aus einem Universum, dem ich nicht angehöre und in welchem Arbeit, Aufstieg und success Metaphern für etwas Wichtiges sind, das es noch näher zu bestimmen gälte.
»Du wirkst apathisch auf mich, Endru. A-pa-thisch. Herrgott im Himmel, es bedarf der Entschlossenheit, um zum Ziel zu gelangen. Zum Gipfel.« Giuseppe zeigt mit dem Finger nach oben und bleibt so stehen.
»Nein, Giuseppe«, erwidere ich schwach. »Mit Apathie hat das nichts zu tun. Seit Tagen schlafe ich nicht länger als vier Stunden die Nacht. Boraletti ist nicht kooperativ. Donato tut nichts, als ständig Das ist ein Wahnsinn zu schreien. Und die due diligence … Vergessen wir es.«
»Wir haben doch von Anfang an gewusst, dass es nicht leicht werden wird. Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Zur Zeit ist keine gute Phase, wahrlich nicht. Wir verlieren Mandanten und Projekte. Weißt du, dass uns die Rankings auf Platz vier in Italien setzen? Was soll ich meinen Kindern erzählen?«
»Sag ihnen, it’s allucinating.«
»Im Übrigen sind bestimmte Ziele nicht für alle gleichermaßen erreichbar. Wir verstehen uns doch recht, Endru? Die Zukunft ist nicht für alle da. Möchtest du eine Zukunft?«
»Ich denke schon.«
»Was heißt hier, ich denke schon. Du musst brennen, mein Junge. Ja, ich will. Du musst energisch sein, voranpreschen. Draußen drängeln sich die Leute und krempeln die Ärmel hoch. Du musst über dich hinauswachsen.«
»Über mich hinaus.«
»Sicher. Über dich hinaus. Wer A sagt, muss auch Z sagen.«
»War es nicht B?«
»Ich rede wirklich gegen eine Wand.«
Giuseppe verlässt mein Büro und wirkt verbittert. Der Mailänder Himmel will vom Frühling nichts wissen und präsentiert sich täglich wie eine verblasste Kopie des Himmels vom Vortag. Die lindgrüne Mappe, die hart an der Schreibtischkante liegt, ist dicker geworden und scheint nicht hinabfallen zu wollen. Giovannino hat mich zum Mittagessen eingeladen. Ich habe angenommen.
»Guck mal, die geile Frau da.«
Giovannino stößt mir seinen Ellbogen in die Hüfte und zeigt mit dem Kinn auf eine Dame, die jenseits der Glasfront der Bar aus dem Taxi steigt.
»Komm schon, Giovannino«, sage ich, kneife ihn in die Wange und zwinge ihn, in Richtung Theke zu schauen. »Die wird so um die fünfzig sein, vergiss es. Lass uns irgendein Brötchen kaufen und dann gehen. Dieses Gedränge hier macht mich ganz verrückt.«
»Was ist denn da drauf?«, fragt ein Mann und zeigt auf ein Tablett, ohne sich um die Schlange hinter ihm zu scheren.
»Bresaola vom Pferd, Eichblattsalat aus dem Piemont und sauce spéciale«, antwortet der kahle Kellner.
»Mhm«, überlegt der Mann. »Können Sie noch ein paar Falcetto-Kirschtomaten dazugeben?«
»Falcetto-Kirschtomaten für den Herrn. Vielleicht noch eine Messerspitze logliolo?«
»Logliolo wäre wunderbar.«
»Soll ich es Ihnen warm machen?«
»Unbedingt.«
Ich schaue Giovannino sprachlos an.
»Oh, die Brötchen hier sind etwas Besonderes«, sagt er zufrieden. »Die Bar ist sogar im Michelin.«
Ich verstehe nichts. Ich verstehe rein gar nichts. Ich schaue mich um. Die ausgehungerten Gesichter einer ganzen Schar von Profis drücken sich an die Scheibe, die den Menschen vom Brötchen trennt. Augen mustern sich. Münder spucken Krümel in der Gegend herum. Hände recken sich euphorisch in die Luft. Einige zeigen, einige nehmen, einige fuchteln einfach herum, und nun schreie auch ich.
»Mortadella, Mortadella.«
Eine Frau in einem Kuhmäntelchen starrt mich ausdruckslos an und schüttelt den Kopf. Ich fange wieder an.
»Mortadella, Mortadella.«
Mein Körper schüttet ein merkwürdiges Adrenalin aus, und ich gewinne Vertrauen in meine Fähigkeiten. Ich gehe in Stellung, nähere mich der Theke, folge meinen eigenen Schreien.
»Was bekommen Sie?«, fragt mich schließlich jemand.
»Mortadella, Mortadella«, schreie ich begeistert.
»Mortadella haben wir nicht.«
»Mortadella, Mortadella.«
»Haben Sie nicht gehört?«, brüllt jetzt der kahle Kellner. »Mor-ta-del-la ha-ben wir nicht.«
»Oh, Entschuldigung. Dann Pute.«
»Mit Trüffeln?«
»Wenn’s sein muss.«
»Es muss.«
Ich gehe, die Schlange drängt weiter heran.
»Und was darf ich Ihnen geben, Signorina?«
»Haben Sie Affenpfoten?«
»In Pitabrot.«
»Drei Mal bitte.«
Wir gehen den Corso Vittorio Emanuele entlang und kauen schweigend. Ein Japaner fotografiert eine Taube, die auf einem Mülleimer posiert. Die Kameras eines Lokalsenders sind auf ein H&M-Schaufenster gerichtet, wo ein Mädchen nur im Slip im Bett liegt und eine Zeitschrift liest. Eine Frau, die wie ihr Hund gekleidet ist, betrachtet sich in der spiegelnden Scheibe neben dem Bankautomaten. Die jungen Leute fühlen sich fast international.
»Hast du gehört, dass sie zwanzig Prozent des Camogli-Fonds verkauft haben?«, erkundigt sich Giovannino.
Ich schaue ihn fragend an.
Giovannino zuckt mit den Achseln. »War heute im Sole.«
Er mustert ein paar Mädchen, die aus dem Skorpion kommen und sich an ihren Sporttaschen abschleppen, dann fügt er hinzu: »Die von Chiomenti haben sie beraten.«
»Aha.« Ich nehme es zur Kenntnis und beiße in mein Brötchen.
»Komplizierte Geschichte«, fängt Giovannino wieder an. »Da waren eine Menge Fragen im Spiel, bei denen …« Er unterbricht sich, schaut zurück und murmelt: »Wahnsinn, was für eine geile Frau.«
Ich drehe mich um und sehe eine Blondine mit nacktem Rücken, die auf superhohen Hacken in Richtung San Babila stöckelt.
»Wo war ich stehen geblieben?«
»Du wolltest von einer komplizierten Geschichte erzählen.«
»Ach ja, richtig. A propos komplizierte Geschichten, hast du mitbekommen, dass Alberto Montini am Herzen operiert wurde?«
»Wer ist Alberto Montini?«
»Der Typ von der Genossenschaftsbank von Lodi.«
»Giovannino.« Ich bleibe stehen und schaue ihn an. »Wen interessiert das?«
»Es ist ein Fehler, dass dich das alles nicht interessiert«, fährt er fort, ohne einen Schritt langsamer zu gehen. »Du hast keine Ahnung, wie viele Projekte wegen Montini hereinkommen. Der ist ziemlich clever und hat den Markt immer im Blick.«
»Okay«, sage ich und hole ihn wieder ein. »Vergiss aber nicht, dein Brötchen zu essen.«
»Ich weiß nicht, ob du in den letzten Monaten die Entwicklung der offenen Fonds verfolgt hast. Da gibt’s große Probleme. Gewaltige Probleme.«
Ich beschränke mich auf ein »Mhm«.
»Klar, dass sich Ecofin beklagt. Das ist ein Symptom.«
»Aber was …«
»Kommt alles aus den Vereinigten Staaten, diese ganze Krise. Stagflation.«
»Giovannino …«
»Irgendwann wird uns China zermalmen.«
»Giovannino?«
»Montezemolo der Große.«
»Giovannino«, sage ich jetzt lauter. »Könntest du bitte mit dieser Litanei aufhören? Das interessiert mich alles nicht. Die Märkte, China, die Finanzen, die Krise, nichts davon, verstehst du?«
Giovannino bleibt stehen und schaut mich misstrauisch an.
»Dreh dich um«, sagt er nach einer langen Pause. »Was starrst du mich so an? Wo hier so viele geile Frauen herumlaufen.«
Wir setzen uns wieder in Bewegung und gehen in Richtung Domplatz. Giovannino schluckt den letzten Bissen hinunter. »Köst-lich«, sagt er und schnalzt mit der Zunge. »Da kann man sagen, was man will, aber Qualität ist kein Zufall. Qualität ist ein exaktes Theorem.«
»Du wirst immer schlimmer«, sage ich und halte Abstand.
»Darf ich mal von deinem abbeißen?«
»Klar.« Ich reiche ihm, was von meinem Brötchen übrig ist. »Du kannst es behalten, ich möchte nicht mehr.«
»Super.«
»Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
Giovannino wird von einem Hustenanfall geschüttelt. Ein fragender Ausdruck tritt in sein Gesicht, und seine Augen beginnen zu glänzen.
»Dreifürzwei-Project«, fahre ich fort. »Gegenseite.«
»Neeeiin?« Giovanninos Augen sind nun ein einziges Leuchtfeuer.
»Wir sind zusammen ausgegangen, bevor sie nach London zurückgekehrt ist.«
»Und?«, drängt er mich und zieht an meinem Jackett.
»Nichts und. Wir sind ausgegangen, und Feierabend.«
»Schon. Aber was ist passiert?«
»Wir waren …«, ich zögere, »… essen. Dann habe ich sie zum Hotel begleitet. Und lass jetzt nicht deine Fantasie mit dir durchgehen. Es ist nichts passiert.«
Giovannino wird nachdenklich und starrt verzaubert auf die Dessous der Büsten, die sich in einem Reizwäschegeschäft um ihre eigene Achse drehen.
»Und dann?«, fragt er schließlich.
»Dann haben wir nichts mehr voneinander gehört. Okay, sie war auf dem Verteiler für die E-Mails, und es gab ein paar conference calls … Aber sie und ich alleine, da war nichts mehr.«
»Wirklich.« Er schüttelt empört den Kopf. »Du weißt nicht, wie man sich den Frauen gegenüber benimmt.«
»Hundertneunundachtzig, Giovannino«, sage ich und lege meinen Finger an die Lippen, damit er den Mund hält. »Hundertneunundachtzig.«
»Hundertneunundachtzig was?«
»Tage, an denen du nicht gevögelt hast. Das hast du selbst verkündet. Also …« Ich schaue auf das Datum auf meiner Uhr. »Ich würde sagen, dass wir die Schallmauer zur zweihundert jetzt locker durchbrochen haben. Es sei denn, du kannst mit Neuigkeiten aufwarten, was ich aber nicht glaube. Oder gibt’s Neuigkeiten?«
Giovannino brummt etwas vor sich hin.
»Ich weiß nicht«, fahre ich fort. »Das ist eine Frau … Ich fühle mich wie neugeboren. Seit sie weg ist, denke ich an nichts anderes, als dass ich sie gerne wiedersehen würde.«
»Wie alt ist sie, hast du gesagt?«
»Dreißig.«
»Dreißig. Und da trägt sie bereits die Verantwortung für ein so großes Projekt?«
»Sie scheint ziemlich fähig zu sein. Sehr entschlossen vor allem.«
»Mhm.« Giovannino streicht sich übers Kinn. »Feministin also. Eine toughe Sau … Aber das würde ich ihr lieber nicht sagen.«
Ich schubse ihn gegen eine Säule.
»Was bin ich nur für ein Blödmann, dass ich mit solchen Dingen ausgerechnet zu dir komme.«
»Dabei hast du genau das Richtige getan«, sagt er und legt nachdenklich einen Finger an die Nase. »Wir müssen eine Strategie entwickeln.«
»Ich wollte sie heute noch anrufen, wenn ich ein wenig Luft habe.«
»Nein«, sagt er und hebt, ohne den Finger von der Nase zu nehmen, den Ellbogen und blockiert mich. »Du darfst nichts übereilen. So etwas muss man raffiniert anstellen.«
»Was heißt hier, ich darf nichts übereilen? Ich habe seit einer Woche nichts mehr von ihr gehört.«
»Das hat Zeit.«
»Zeit?«
»Ein Krieger muss warten können.«
»Okay, aber wenn …«
»Unter der Zeder die Lotosblume wächst und stirbt.«
»Bist du verrückt?«
»Kamasutra.«
»Verarschst du mich?.«
»Klar verarsche ich dich. Bist du ein kleiner Junge? Ich wollte sie heute noch anrufen, wenn ich ein wenig Luft habe. Glaubst du, das ist die Einstellung, mit der man eine Frau erobert?«
»Was soll denn daran falsch sein?«
»Alles daran ist falsch«, sagt er und bleibt unvermittelt vor dem Eingang zu einem großen Kaufhaus stehen. »Komm, lass uns hineingehen. Da stehen überall diese Parfümfachverkäuferinnen und spritzen dich mit Parfüm voll.«
Eine Welle eiskalter Luft aus der Klimaanlage jagt mir einen Schauer über den Rücken. Das gleißende Licht der Stände mit den Flakons und Fläschchen blendet mich. Giovannino bewegt sich gewandt durch die Gänge, und ich folge ihm nur mit Müh und Not.
»Außerdem …«, erkläre ich und versuche, ihn nicht aus dem Blick zu verlieren, »… lebt sie in London. Das ist nicht Australien, sicher, aber es ist auch nicht um die Ecke. Das wäre in jedem Fall schwierig.«
»Was wäre schwierig?«, ruft Giovannino und steuert auf den Stand von Guerlain zu, wo ihn eine junge, schwarzhaarige Frau mit Ponyfrisur lächelnd darüber aufklärt, dass das Parfüm, nach welchem er gegriffen hat, für Damen ist.
»Eine Beziehung«, antworte ich. »Wie soll man denn überhaupt irgendetwas planen können bei unserer Arbeit?«
Giovannino nickt der Verkäuferin zu, dreht sich um, stellt sich auf die Zehenspitzen und knallt mir die flach zusammengelegten Hände an die Stirn.
»Bist du verrückt geworden?«, platzt er los. »Du machst schon Pläne für die Zukunft? Ich glaub’s nicht. Oh, guck mal die beiden da. Wahnsinn.«
Ich schaue in die Richtung, in die Giovanninos Arm zeigt, der sich aber plötzlich in eine ganz andere Richtung bewegt und auf eine ganz andere Stelle zeigt.
»Nein, viel besser. Die da«, sagt er mit schwacher Stimme, als würde er kapitulieren. »Die da hinten, die ist wirklich die Beste.«
»Wo?«, frage ich irritiert.
»Die da, beim Schaufenster.«
»Aber Giovannino …« Ich drehe mich um und schaue ihm in die Augen. »Das ist eine Schaufensterpuppe.«
»Klar. Aber wenn sie lebendig wäre.«