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Ich wache auf, weil aus den Lautsprechern einer in die Wand über dem Bett eingelassenen Stereoanlage eine sanfte Melodie dringt, die ich nicht kenne, die aber ständig wiederholt, dass im Lichte des Tages nichts ist wie zuvor. Mit einiger Mühe öffne ich die Augen und versuche zu begreifen, wo ich bin. Ich wälze mich in meinen Kissen herum und erkunde den Raum. In einem Metallregal stehen Kunst- und Fotobände. Der Mac auf dem elfenbeinfarbenen Schreibtisch ist angeschaltet. Dann sehe ich einen meterhohen Kaktus, einen Stapel Kissen an der Wand, drei gelbe Sesselchen, die um ein barockes Tischchen herumstehen, ein paar schwarze Würfelchen und ein Aquarium. Als ich vor dem großen Fenster im Lichte der durch die Läden eindringenden Sonnenstrahlen den Umriss einer Wasserpfeife erkenne, kehrt die Erinnerung zurück, und ich würde am liebsten wieder einschlafen. Ich strecke ein Bein aus und mache Anstalten aufzustehen. Der Fuß rutscht über die Matratze, findet aber kein Ende, also setze ich mich auf, betrachte die Kissenlandschaft und versuche zu ergründen, für wie viele Leute das Bett gedacht ist. Unter der Dusche werde ich in einer weiträumigen, mit weichem Kunstrasen ausgelegten Kabine von allen Seiten mit Wasser bespritzt. Donatos letzte Worte fallen mir wieder ein – »Jetzt sollten wir aber ins Bett gehen. Morgen um acht treffen wir uns im Foyer. Dann bringe ich euch in den Olymp« –, und ich verlasse das Zimmer.

Im Foyer herrscht Chaos. Nadelstreifenanzüge mit feinsten Streifen schieben sich vor dunkle Kostüme, Absätze klappern auf dem edlen Steinfußboden, sportliche Jacketts halten schnurstracks auf den Golden Breakfast Room zu, Gepäckträgeruniformen schleppen kleine Taschen und große Koffer, Sonnenbrillen nehmen sich die Zeit, die mit Pflanzen zugerankte Decke zu bewundern, Handys bringen ihre raffinierten Klingeltöne zu Gehör, Blackberrys spucken die über Nacht empfangenen E-Mails aus, was an den Münzregen eines Spielautomaten erinnert, eine stets wachsende Zahl an Koffern lässt sich herbeischleppen und in Wagen mit getönten Scheiben verstauen, etliche Trolleys ruhen sich in den Ecken aus, abgelegte Halstücher leisten ihnen Gesellschaft, während ein Höschen unter einem Re-Leone-Shirt hervorschaut, verloren in den künstlichen Strom blickt und nach seiner Mama ruft. Ich nehme auf einem Sofa Platz, neben einem Mann, der in einer Zeitung blättert und vollständig von dieser verdeckt wird. Er trägt eine Leinenhose und Slipper ohne Socken, die Beine sind übereinandergeschlagen. Das Rosa der Zeitung ist unverwechselbar.

»Giuseppe.« Ich berühre sein Knie. »Bist du es?«

Der Mann lässt die Zeitung sinken.

»Endru. Da sind wir ja.«

»Mein Gott, Giuseppe«, sage ich und falte die Hände über dem Kopf. »Was für ein Hotel.«

»Ja, nett. Hast du das gelesen? Kakà ist verletzt.«

Der von Donato versprochene Olymp ist die Mall of the Gods: 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr geöffnet, 1 000 000 Quadratmeter auf 7 Ebenen, die mit einer Gesamtzahl von 2000 Geschäften den wichtigsten Marken der Welt Platz bieten, außerdem 1 Kino mit 18 Sälen, 3 Spielcasinos, 1 Wasserspielplatz und 9 Schwimmbecken, 1 Zoo, 3 Skipisten, 2 Moscheen, 1 Kirche und einige Millionen von Produkten – schlicht: das größte Einkaufszentrum der Welt. Die gesamte Anlage hat die Form eines Viertelmonds, dessen Konturen in winzigen Schnörkeln ausfransen. Mit offenem Mund laufe ich zwischen mosaikgeschmückten Wänden und stuckierten Decken hindurch. Brunnen speien ihre Strahlen auf goldene Spezialplatten und erzeugen fließende Melodien. Schaufenster geben den Blick frei auf glänzende Gegenstände. Dann Marmor, Kristall, Spiegeleffekte, durchsichtige Rolltreppen, Pagoden, Statuen, Bäume, ägyptische, indische, japanische, persische Ornamente. Giuseppe hat sich eine Bandana um den Hals gebunden und läuft neben Donato her, der mal nach rechts, mal nach links zeigt, auf Geschäfte, Attraktionen, Aktionen, Schönheiten, und mit Begriffen um sich wirft wie einzigartiges Einkaufserlebnis, subtile Sehnsucht nach Besitz, AmEx.

Tiziano schießt Fotos, bis ihm ein Mann in einem erbsengrünen Kaftan die Kamera aus der Hand reißt. Donato macht eine Geste, die ihn selbst zu begeistern scheint, zückt einen Sonderausweis, klopft sich mit der Hand an die Brust und zeigt dann auf uns. Der Mann im Kaftan nickt und geht.

»Eine Frage der Sicherheit«, erklärt Donato. »Aber solange ich bei euch bin, seid ihr König. Wie ich.«

Cardellini folgt der Gruppe in einigem Abstand. In der Hand hält er einen Stapel Papiere, schreibt unentwegt etwas hinein und wirft gelegentlich einen Blick auf einen Geländewagen aus Plüsch, ein Michael-Jackson-Double, das an die Kinder Bonbons verteilt, oder auf ein Model auf einem Kamel. Irgendwann holt er mich ein, starrt aber weiter vor sich hin.

»Ich habe jetzt alle Papiere studiert.«

Ich schaue ihn an und gehe schneller.

Cardellini schließt auf und versucht mitzuhalten.

»Alle«, sagt er. »Im Flugzeug habe ich begonnen, und heute Nacht im Hotel bin ich fertig geworden.«

»Toll, Cardellini. Jetzt halt aber die Klappe zu und die Augen offen, denn wenn wir das berühmte Antischuppenshampoo finden, schenke ich es dir.«

»Du bist ein Witzbold, Campi«, fährt er fort. »Wir müssen miteinander reden.«

»Das denke ich nicht.«

»Das denke ich aber doch. Wir müssen unbedingt ein paar Dinge regeln.«

»Ein paar Dinge inwiefern?«, frage ich und bleibe vor einem Blumenarrangement stehen. Es zeigt Apollo, der seinen Sonnenwagen lenkt, unmittelbar an den Toiletten vorbei.

»Mit Giuseppe habe ich auch schon gesprochen«, antwortet Cardellini und geht weiter.

»Und was hat er gesagt?«, frage ich nach einem kurzen Zögern und laufe ihm nach.

»Reg dich nicht auf«, erklärt Cardellini lachend. »Du bist jung. Es ist normal, dass du Fehler machst.«

»Von was für Fehlern sprichst du da?«, frage ich und versuche vergeblich, ruhig zu bleiben. »Was hast du ihm erzählt?«

»Oh, schau mal«, ruft Cardellini und geht zu einem Schaufenster, das mit lauter Wattebäuschen gefüllt ist. »Ein Dolce&Gabbana-Tschador.«

Ich will ihn festhalten, werde aber von Donato daran gehindert. Er steht vor einer weißen Tür, die für Unbefugte verboten ist, und hantiert mit einem Walkie-Talkie herum. Das Schloss springt auf, und wir betreten einen langen, pistazienfarbenen Flur, von dem die Büros der Verwaltung des Einkaufszentrums abgehen. Donato wirkt nervös, als er an den offenen Türen vorbeischreitet und nach rechts und nach links grüßt. Einen Empfangstresen passieren wir dank Donatos Ausweis problemlos und kommen schließlich in eine kleine Halle, wo man uns auf ein paar Ledersofas Platz nehmen heißt.

»Okay«, murmelt Donato und reibt sich die Knie. »Ich denke, ihr seid schon darüber informiert, dass uns für diese letzte Verhandlungsphase ein, äh … Kollege an die Seite gestellt wird.«

Donato kann seine Verlegenheit kaum verbergen. Mir kommen Giuseppes Worte in den Sinn. Nur der Form halber. Dead man walking. Ich blicke zu Cardellini hinüber, der mit zusammengekniffenen Augen in seinen Papieren liest, und es schaudert mich.

»Rashid heißt er«, sagt Donato, ohne noch etwas hinzufügen zu können, denn in diesem Moment tritt, von einem merkwürdigen Ingwerduft angekündigt, ein Mann aus der Tür. Er ist kaum mehr als einen Meter sechzig groß, etwa fünfzig Jahre alt, hat olivgrüne Haut und wenige, tiefschwarz gefärbte Haare. Sein Körper ist in ein zerknautschtes orangefarbenes Gewand gezwängt.

»Let’s go«, sagt der Mann mit rauer Stimme, und das Lächeln auf Donatos Gesicht wird stählern.