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»Endru, Endru, Endru. Mein schöner Pfau schlägt endlich ein Rad. Aber ich habe es immer gewusst, Endru, dass du ein Gladiator bist. Ein Kämpfer. Eine glühende Zündschnur, und dann budubuuum

Giuseppe ist mir in mein Zimmer gefolgt und sitzt im Sessel vor dem Schreibtisch, ein Bein auf der Armlehne. Zur Untermalung seiner Worte schlägt er mit der Faust ein paar Haken in die Luft. Ich sitze auf dem Bett und sehe zu, wie mein Knöchel violett anläuft.

»Na ja, vielleicht hast du ein wenig übertrieben«, fährt er fort. »Cardellini hat sich geirrt, diese Klausel darf natürlich nicht gestrichen werden, aber deshalb muss man ihn ja nicht gleich schlagen, oder? Rashid hat es allerdings gefallen. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn du Boraletti auch eine reingehauen hättest, denn Boraletti kann er wirklich nicht ausstehen. Aber er ist trotzdem zufrieden, sagt er. So hat er immerhin mal erlebt, wie viel Energie hinter der Leidenschaft für den Beruf steckt.«

»Giuseppe«, sage ich und strecke meine Finger. »Es ist doch klar, dass ich Cardellini nicht wegen der Klausel geschlagen habe.«

»Das ist die Energie, die unsere Kanzlei zu einer der führenden auf dem Weltmarkt gemacht hat.«

»Giuseppe, hörst du mir eigentlich zu?«

»Mit Cardellini habe ich schon gesprochen. Sportlich, wie er ist, müssen wir uns um ihn keine Sorgen machen. Er hat mir zugesichert, dass wir das Projekt durchziehen, mit geblähten Segeln volle Kraft voraus. Der Rest – Anzeige, Prozess – ist euer Bier, das müsst ihr unter euch aushandeln. Das Leben ist schön.«

Giuseppe greift in die Obstschale, nimmt ein Messer und schält eine Kiwi.

»In jedem Fall …«, nuschelt er mit vollem Mund, »… großartig, Endru. Großartiger Endru. Die Energie der Leidenschaft. Das muss ich als neues Motto vorschlagen. Flacker, Grunthurst and Kropper – die Energie der Leidenschaft. Für siebenhundert Euro die Nacht sind die Kiwis übrigens ein Witz.«

Es klingelt. Giuseppe steht auf und öffnet. Ich höre ihn leise reden, dann kehrt er zurück.

»Wir sehen uns dann im Sitzungssaal, Endru. Boraletti soll nicht denken, er komme ungeschoren davon. Er wankt schon. Bis er nicht gestürzt ist, lassen wir nicht locker.«

Er tritt zur Seite, und hinter ihm taucht Emily auf.

»Ich überlasse dich ihr. Aber bitte …«, fährt er mit einem Lächeln fort. »Emily gehört zur Gegenseite. Leg sie nicht auf die Matte. Weißt du, was uns ihr Honorar kosten würde?«

Emily wartet, bis Giuseppe den Raum verlassen hat, dann kommt sie näher.

Sie bleibt stehen und schaut mich an.

»Du bist verrückt«, sagt sie plötzlich wütend. »Darf man mal wissen, was in dich gefahren ist?«

Ich bleibe sitzen und starre auf meine Schuhe. Die Schnürsenkel sind nicht ordentlich zugebunden. Die Knoten sind nicht symmetrisch. Stolperrisiko. Ich sollte Slipper tragen, das denke ich schon eine ganze Weile. Oder Schnallenschuhe.

»Na?«, bohrt Emily weiter. »Warum schaust du mich nicht an? Und weshalb möchtest du mir nicht erklären, was vorgefallen ist?«

Ich schaue auf und begegne ihrem Blick. In die Bestimmtheit, die sich in ihren Augen spiegelt, mischt sich ein Funke Zärtlichkeit.

»Was in mich gefahren ist, willst du wissen? In mich

»Es war ja schließlich nicht ich, die Cardellini mit ein paar Ohrfeigen durch die Luft hat segeln lassen, bis er sich in Gesellschaft des Nudelsalats wiederfand.«

»Es war eine

»Eine was?«

»Ohrfeige. Es war nur eine. Und es war auch keine Ohrfeige, sondern ein Kinnhaken.«

Ich starre wieder auf die Schnürsenkel. Meine Schläfen hämmern im selben Rhythmus wie mein Herz, dieses merkwürdige Gefäß, das kurz vor dem Explodieren zu stehen scheint.

Schließlich atme ich tief ein und schlucke.

»Ich kann nicht mehr, Emily«, sage ich, und meine Stimme klingt merkwürdig ruhig. »Wirklich. Ich kann nicht mehr. Dabei denke ich schon seit geraumer Zeit, dass ich mir ein dickes Fell zugelegt habe. Ich hielt mich für abgebrüht. In Wahrheit kann ich nicht mehr.«

Emily kommt zu mir und legt mir besorgt die Hände auf die Schultern.

»Andrea, erklär mir doch bitte, was passiert ist.«

Ich greife nach ihren Handgelenken, nehme sie von meinen Schultern und lege sie ihr auf die Hüfte.

»Rühr mich nicht an, Emily«, flüstere ich. »Rühr mich nicht an.«

Emily zögert. Öffnet den Mund. Schließt ihn wieder. Weicht zurück.

»Ich habe euch gesehen«, sage ich.

»Wen hast du gesehen?«

»Dich und Cardellini. Gestern Abend. Ich habe euch gesehen.«

Ein Schauer durchfährt sie.

Dann tritt ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Was hast du denn gesehen?«, fragt sie in einem zärtlichen und gleichzeitig unsympathischen Tonfall.

Der Raum verfinstert sich, und ich habe das Gefühl, als würde jemand an die Tür klopfen. Ich schweige.

»Okay«, sagt Emily und setzt sich neben mich. »Nach einer unserer Sitzungen in Mailand – damals, als du zu diesem Umtrunk eingeladen warst – bin ich Cardellini kurz begegnet. Er hat sich nicht vorgestellt, aber er hat mir erzählt, dass er sich für das Dreifürzwei-Project interessiert. Er sei gerade dabei, ein anderes Projekt abzuschließen, und würde demnächst zu eurem Team stoßen. Ich dachte, okay, mir kann’s ja egal sein, wie ihr euch organisiert. Dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Bis ich ihn hier in Dubai wiedergetroffen habe.«

Ich konzentriere mich auf meine Gesichtsmuskeln, die sich für mein Empfinden zu einigermaßen angemessenen Mienen verziehen.

»Seither rückt er mir nicht mehr von der Pelle«, fährt Emily fort. »Er ist immer hartnäckiger geworden. Witzchen. Kommentare. E-Mails.«

Emily wirkt plötzlich nachdenklich, legt die Hände auf die Beine und schaut zu Boden.

»Neulich abends, als du und ich zusammen ausgegangen sind, hatte er mich zum Essen eingeladen. Natürlich habe ich abgelehnt. Am nächsten Tag stand er wieder auf der Matte. Ich …«, sie zögert und seufzt. »Ich hatte einfach keine Lust, ihn gegen mich aufzubringen und ihn ständig abwimmeln zu müssen. Also dachte ich, es sei vielleicht besser, ihm dieses Essen zu gewähren, damit die Sache ein für alle Mal ausgestanden ist.« Emilys Gesicht verfinstert sich, dann legt sie eine Hand auf meinen Arm und schaut mir in die Augen. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Ich habe gesehen, wie er in dein Zimmer gegangen ist.«

»Weil er das getan hat, nehme ich mal an.«

Ich schaue sie an und vermute, dass meine Augen um eine Erklärung flehen.

»Er hat mich gefragt, ob er mit hineinkommen darf. Lass mal sehen, was man der Gegenseite für Zimmer gegeben hat, hat er gesagt.«

»Ein unschlagbarer Vorwand.«

»Ein idiotischer Vorwand.«

»So idiotisch, dass es dich nicht viel Überwindung gekostet hat, die Tür zu öffnen und …«

»Und ihn hineinzubitten, natürlich.«

Ich schüttle den Kopf, sprachlos.

»Um ihn dreißig Sekunden später wieder hinauszuwerfen«, fügt Emily hinzu und ist jetzt sichtlich wütend. »Ich musste nur und jetzt raus mit dir sagen, ihn an den Schultern packen und zur Zimmertür hinausbefördern. Er hat wie ein Schwachsinniger gelacht und immer gesagt: Wovor hast du Angst, wovor hast du Angst, aber da war er auch schon im Aufzug.«

Ich stelle mir Cardellinis Grinsen vor, als er von Emily aus dem Zimmer geschoben wird, das ich nie gesehen habe. Die Bilder verschwimmen.

»Vielleicht hätte ich es dir erzählen sollen«, murmelt Emily. »Letztlich muss ich das aber alleine regeln. Ich muss dich weder um Rat fragen noch um Erlaubnis bitten.«

»Jetzt wird mir alles klar«, sage ich und schließe an Gedanken an, die mir plötzlich im Kopf herumgehen.

»Was, alles?«

»Alles eben. Warum eine wie du eingewilligt hat, mit mir auszugehen, zum Beispiel.«

»Was willst du damit sagen?«

»Aber ja doch. Die Ricchi e Poveri, die Pizza bei Aldo, die japanischen Jongleure. Das muss man sich mal vorstellen. Eine wie du, schön, brillant, karrierebewusst, die City … Und dann der gestrandete Wal. Weißt du, dass Giuseppe mich mal einen gestrandeten Wal genannt hat? Ein schönes Bild. Treffend.«

»Was willst du mir damit unterstellen?« Emilys Stimme wird lauter. »Dass ich mit dir ausgegangen bin, um diesen Vertrag unter Dach und Fach zu bringen? Du willst doch wohl nicht sagen, dass du das wirklich glaubst?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

Emily kommt näher. Ich spüre ihren Atem. Ihre Stimme ist schwach.

»Andrea. Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Okay, es tut mir leid, dass ich dich belogen habe, aber hast du eine Vorstellung davon, wie oft man es mit diesen Cardellinis zu tun bekommt? Ich sag’s dir: oft. Man lernt, damit umzugehen. Ich hätte ihn zum Teufel schicken können, hätte ihm sagen können, dass ich mit einem wie ihm nicht ausgehe und dass er sich lieber vor einen Zug werfen soll, aber was hätte das gebracht? Dann hätte ich ihn nicht nur beruflich, sondern auch noch privat gegen mich.«

»Du stellst es so hin, als wäre das alles vollkommen normal.«

»Weißt du was, Andrea?«, explodiert sie. »Nicht alle sind wie du. Jeder kämpft auf seine Weise. Willst du die Unschuld vom Lande spielen? Bitte sehr. Aber versuch nicht, mich schlecht zu machen wegen dieses Männchens, das glaubt, ihm stehe die Welt offen. Wenn du das vorhast, sage ich dir klipp und klar, dass du nicht die leiseste Ahnung hast …«

»Woher soll ich wissen, dass du mit mir nicht dasselbe gemacht hast?«

»Andrea. Ich bin mit dir ins Bett gegangen.«

»Ich wiederhole: Woher soll ich wissen, dass du es mit mir ernst meinst?«

Emily senkt den Blick. Plötzlich scheint sie furchtbar müde zu sein.

»Du musst mir vertrauen.«

»Vertrauen? Emily, ich bin Anwalt, verdammt. Mein Leben gründet darin, niemandem zu vertrauen.«

Emily schaut wieder auf und bohrt ihre Augen in die meinen. Die stolze Miene ist unnachgiebig. Ein leichtes Flackern in den Pupillen. Die Hände sind geschlossen, der Kiefer angespannt.

»Andrea, hör zu. Ich mache mich nicht über dich lustig. Ich spiele nicht mit dir. Und wenn ich in Mailand mit dir ausgegangen bin, dann nicht, weil ich mir dich vom Leibe halten oder sonst irgendeinen Vorteil daraus ziehen wollte. Mit dir …«

Emily unterbricht sich, und diesmal bin ich mir sicher, dass es geklopft hat.

Ich stehe auf und öffne.

Eine kleine Frau steht hinter einem Wagen, der mit Bettbezügen bepackt ist. Sie lächelt und sagt nichts. Ich bitte sie mit einer Geste herein.

»Lass uns gehen«, sage ich zu Emily. »Der Putzdienst.«

Emily schüttelt den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Dann steht sie auf, geht an mir vorbei und verschwindet, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich lege eine Hand an die Stirn, schließe die Augen und schaffe es, ein paar Sekunden lang nichts zu sehen.

Im Flur sind Schreie zu hören.

Cardellini lehnt an der Wand und presst einen Eisbeutel an die Wange.

»Da ist er ja«, schreit er und gestikuliert in meine Richtung. »Mörder. Wenn du aber meinst, dass du mich auf diese Weise aufhalten kannst, machst du einen großen Fehler. Du wirst schon sehen, aus was für einem Stoff ein Cardellini gemacht ist.«

Ich deute einen trägen Sprung an, als wollte ich mich auf ihn stürzen, und Cardellini rettet sich auf die Sicherheitstreppe.