19
Michele Zarrillo singt ein Lied, das folgendermaßen geht: Fünf Tage, seit ich dich verlor, welch eine Kälte in meinem Leben, du brauchst mich nicht mehr, zu viele Leute fragen nach dir, streuen Salz in die Wunde, die nie vernarbt, und ich kränke einen Freund, der jeden Abend kommt und mir den Schwur abnahm, ich möge auf ihn hören, aber ich verrate ihn und mich, denn ist man verletzt, weiß man nie, ja, nie … Bis hierher kenne ich das Lied. Sobald ich das Vibrato von ja, nie höre, rufe ich: »Aufhören, um Himmels willen, aufhören.« Nicola verstummt, verzieht den Mund und spielt die beleidigte Leberwurst. Nach ein paar Minuten fängt er wieder an: Fünf Tage, seit ich dich verlor, welch eine Kälte in meinem Leben…
Seit einiger Zeit schon hat Nicola nicht mehr viel zu tun.
Bisweilen habe ich den Eindruck, dass man versucht, ihn zu isolieren, um ihn hinauszuekeln. Manch einer würde vielleicht von Mobbing reden, aber vermutlich würde kein Richter angesichts eines Typen, der mit einer solchen Begeisterung Michele Zarrillo singt, den Tatbestand des Mobbing konstatieren wollen. Nicola selbst scheint sich keine Sorgen zu machen. Abends gegen Viertel nach acht steht er auf, zieht seine Jacke an und bleibt mit nach links geneigtem Kopf stehen.
»Wir leben in Zeiten der Krise«, sagt er. »Da kommen wenig Aufträge rein. Die Amerikaner sprechen vom Bärenmarkt. Okay, ich bin dann mal weg.« Und hebt zum Abschied die Hand.
Wenn er nicht singt, verbringt er die Tage mit Zeitvertreiben jeglicher Art: Er füllt ein Raster von 10 x 10 Kästchen mit Nummern von eins bis hundert, die in der Horizontale einen Abstand von zwei Kästchen und in der Vertikale einen Abstand von einem Kästchen einhalten müssen. Er reinigt die Tastatur, indem er ein Post-it zusammenrollt und zwischen den Tasten durchzieht. Er lädt Klingeltöne herunter, gibt mir von jedem, der im Angebot ist, eine Kostprobe und fragt mich nach meiner Meinung (entscheidet sich dann aber immer für eine Technoversion). Er steckt die Hand in eine Tüte mit energetischen Steinen, die ihm eine Tante geschenkt hat, weil sie angeblich Stress abbauen helfen. Er existiert.
Ich trage es mit Fassung und versuche mich nicht von den kleinen Geräuschen ablenken zu lassen: zerreißendes Papier, geflüsterte Sätze, kleine Manöver, um mich einzubeziehen. Meine Aufmerksamkeit gilt der Vorlage für einen Joint-Venture-Vertrag, die ich auf meinem Bildschirm geöffnet habe: Lücken, die ausgefüllt werden müssen, runde Klammern, eckige Klammern, kursive Passagen, Klauseln, die umformuliert werden müssen, gelb markierte Stellen, rot markierte Stellen, Fußnoten, to be discussed, to be confirmed. Donatos Forderung hatte gelautet: Wir brauchen einen ersten Entwurf, der noch ein Entwurf ist, aber bereits hinreichend endgültig. Lange starre ich auf das Dokument und vergrößere dann die Schrift von Times New Roman 11 auf Times New Roman 12.
»Andrea.«
»Nicola, bitte. Fang gar nicht erst an. Ich habe dir doch gesagt, dass ich einen vierzigseitigen Vertrag vor mir habe und nur drei Tage, um ihn umzuschreiben, zu vervollständigen, anzupassen, zu prüfen und dann an achtzehn Empfänger in aller Welt zu mailen. Das Ganze in Kopie an Giuseppe. Wenn es etwas Wichtiges ist, höre ich dir gerne zu. Sollte das nicht der Fall sein, lass mich bitte arbeiten. Ist es also wichtig?«
»Es ist wichtig.«
»Schieß los«, seufze ich.
»Weißt du, wie man sich beim Forum für das Fußballturnier der Anwälte registriert?«
Giuseppe behauptet, die Zeit sei knapp und man müsse gut organisiert sein. Gehen wir also folgendermaßen vor. Höchstens zwei, drei Tage brauche ich, um den Vertrag vorzubereiten und in Umlauf zu bringen. Höchstens zwei, drei Tage haben Meyon & Tolsen und ihre Anwälte Zeit, ihn zu studieren und ihre überarbeitete Version in Umlauf zu bringen. Dann setzt man ein Treffen aller Beteiligten an, und nach höchstens zwei, drei Tagen ist der Vertrag so gut wie perfekt. Dann kommen die Details – fuhr Giuseppe fort –, Anlagen, praktische Fragen, Lappalien. Das wird dann – weiterhin laut Giuseppe – nur noch Feinarbeit sein, der Lichtreflex auf den Weintrauben des Caravaggio, Pirlos Beinarbeit.
Giuseppe ist nicht blöd und weiß genau, dass diese Marschordnung nicht einzuhalten ist. Das Zeitfenster wurde, d’emblée, am Telefon mit Donato entwickelt, und zwischen einem Da kannst du ganz beruhigt sein und einem Tschüss, alter Freund war es wichtig, den Mandanten nicht nur von unserem Eifer, sondern besonders auch von unserem Optimismus zu überzeugen.
»Dieses Stück Scheiße hat überhaupt keine Vorstellung davon, was wir hier machen«, sagte Giuseppe, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. »Aber es ist an uns, Endru, ihm zu beweisen, zu was ein echter Profi fähig ist.«
»Giuseppe.« Ich schüttelte den Kopf. »Diese Fristen können wir nicht einhalten.«
»Wir haben uns vermutlich nicht richtig verstanden. Dieser Mandant ist für uns nicht das Eis, das du genüsslich am Strand lutschst. Dieser Mandant ist so notwendig wie das täglich Brot. Niemand von uns hat Lust auf Fastenzeit. Wir werden alles aus uns herausholen – bis zum letzten Tropfen wird alles ausgequetscht.«
»Im Ergebnis sieht es wohl eher anders aus«, sagte ich geistesabwesend.
»Was?«
»Wir werden alles aus uns herausholen, und alles wird bis zum letzten Krümel zerquetscht.«
»Warum musst du nur immer alles so kompliziert machen? Warum? Und schalte nicht immer gleich auf Abwehr, Endru. Ich habe ein solches Vertrauen zu dir.«
Eleonora, meine Exfreundin, wurde aggressiv, wenn sie so etwas hörte.
»Das kann doch einfach nicht wahr sein«, sagte sie. »Das ist doch nicht professionell. In einer Welt, in der sich noch der letzte Kellner über dich lustig machen darf, wenn du zum Essen den falschen Wein bestellst, seid ihr die einzig verbliebene Berufsgruppe, die den Kunden noch für den König hält. Ausgerechnet ihr.«
Eleonora, die immer elegant gekleidet war und sich gewählt ausdrückte, war sich nicht zu schade, deutlich zu werden.
»Der Mandant lässt die Unterhose runter und schwingt seinen vergoldeten Pimmel, und siehe da, schon schmeißt sich der gesamte Berufsstand mit offenem Mund auf die Knie und reißt sich um die Beute. Greift zu, streichelt, liebkost, hingebungsvoll und gründlich. Hauptsache, sie entkommt nicht.«
Ich sah zu Boden.
»Abstoßend, was?«, fragte sie mich.
»Ja«, antwortete ich. »Aber nötig.«
Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass hinter jedem Profi eine lange Schlange anderer Profis steht, die alle nur auf seinen Job warten – »auf den Pimmel, wie du es nennst« –, sollte er sich einer Sache nicht gewachsen zeigen. »Für einen Anwalt ist der Mandant alles.«
»Klar, der Mandant«, fing Eleonora wieder an. »Der Mandant bedeutet Geld, und Gott allein weiß, wie viel Geld Giuseppe braucht: der Cayenne, das Segelboot, die Wohnung in Porta Venezia, die Kette aus Tahitiperlen für seine Frau, dann das Kind … Sind sie nicht für die Geburt nach Verona gegangen, in diese Klinik, wo man im Wasser entbindet? Zahlt alles der Mandant, klar. Und was landet in deiner Tasche? Im Grunde kann ich Giuseppe ja verstehen. Er sagt zu, und du darfst die heiße Kartoffel übernehmen. Aber was bleibt für dich?«
»Äh, für mich?«, sagte ich. »Mir eröffnen sich Perspektiven.«
»Hahaha«, lachte Eleonora. »Perspektiven.« Und das Gespräch war zu Ende.
»Andrea, sag bitte nicht, dass du an Eleonora denkst.«
Giovannino steht auf der Schwelle, drückt unentwegt auf den Knopf seines Kulis und wirkt aufgebracht.
»Eleonora wer?«
Giovannino zieht die Augenbrauen hoch und scheint nach der angemessensten Beleidigung zu suchen. Dann nimmt er wieder den ernsten Gesichtsausdruck an, mit dem er in mein Büro geplatzt war, und beginnt atemlos etwas zu erzählen, das ich zwischen den Flüchen und dem unaufhörlichen Klicken des Kulis als ein Unrecht identifiziere, welches ihm soeben widerfahren sein muss.
»Giovannino«, unterbreche ich ihn. »Mach halblang, sonst verstehe ich nichts. Da waren also ein Engländer, ein Franzose und ein Italiener. Und dann?«
»Leck mich.«
»Nun reg dich mal nicht auf. Man kapiert nur einfach nichts, wenn du wütend bist. Nicht dass man, wenn du zufrieden bist…«
»Hör zu, Andrea.« Er tritt näher und schließt die Tür hinter sich. »Mir reicht’s. Freier Mitarbeiter … Von wegen freier Mitarbeiter«, jammert er. »Wir bekommen ein Gehalt, immer dasselbe, Monat für Monat, und tarnen es hinter einer Rechnung, die wir – wir, verstehst du – ausstellen müssen, abgesehen davon, dass ich um neun im Büro sein muss, jeden Tag, eine Stunde Mittagspause, und vor acht komme ich hier nicht raus … Wenn ich denn wenigstens um acht rauskäme, schlimmer als ein Metallarbeiter. Ich bin ein Subalterner, und was für ein Subalterner ich bin, so behandelt man nicht einmal seinen Hund. Sag du doch mal, ob das nicht eine verdammte Abhängigkeit ist. Von wegen freie Mitarbeit.«
Ich schaue ihn verstört an. Giovannino, der ewig Lächelnde, stets Motivierte, grenzenlos Belastbare.
»Wenn das wenigstens alles wäre«, fährt er fort. »Versicherung Fehlanzeige, Vertrag Fehlanzeige, Essensmarken Fehlanzeige, Krankfeiern Fehlanzeige, garantierter Urlaub Fehlanzeige, alles Fehlanzeigen, und wenn einem Partner etwas auf den Sack geht, schickt man mich von einem Tag auf den anderen nach Hause. Sie können das tun, und ob sie das können. Vergiss den Kredit, vergiss alles.«
»Giovannino«, sage ich. »Beruhige dich.«
Meine Stimme kann eine gewisse Erregung nicht verbergen. Das Bild, das er entworfen hat, könnte auch von Eleonora stammen. Das ist alles nichts Neues, klar, aber es so unverblümt aus dem Mund eines Kollegen zu hören, erzeugt ein gewisses Unbehagen.
Und Giovannino ist noch nicht am Ende.
»In Wahrheit sind wir alle Feiglinge«, fährt er fort und drückt Nicolas Arm. »Alle. Immer bei Fuß. Dabei müssten wir uns auflehnen.«
»Sicher doch, Giovannino. Lass uns aus Gesetzbüchern Barrikaden errichten. Du fantasierst.«
»Willst du weiter deinen Kopf hinhalten?«
»Damit hat das nichts zu tun. Du musst nur begreifen, dass …«
»Es bedarf einer Geste der Rebellion gegen das System.«
»Giovannino, die rebellischste Geste deines Lebens war es, deinen Hund Klistier zu nennen.«
Giovannino lacht los, laut und plötzlich, klammert sich an ein Regal, reißt ein paar Akten herunter, bückt sich, um sie aufzuheben, und versucht, die letzten Zuckungen unter Kontrolle zu bringen. Ich bin verdattert.
»Ist das nicht total lustig? Nun sag schon«, verkündet er, bevor er sich gut gelaunt wieder auf den Weg macht. Die Revolution scheint aufgeschoben.
»Andrea.«
Nicola meldet sich wieder zu Wort.
»Es reicht«, brülle ich. »Schluss! Was ist denn jetzt noch?«
»Wie findest du Valentina?«
»Valentina?«
»Deine Sekretärin.«
»Meine Sekretärin?«
»Genau die«, bestätigt Nicola und nickt entschieden.
»Was zum Teufel hat Valentina damit zu tun?«
»Sie ist hübsch, nicht wahr?«
»Nein … Ja«, stammle ich. »Ja, sie ist hübsch. Aber wieso? Wieso?«
»Nur so, pour parler.«
»Nicola, verdammte Hacke, für pour parler habe ich heute keine Zeit, verstehst du? Ich muss einen Vertrag aufsetzen. Giuseppe schreibt mir unentwegt E-Mails. Dieser Idiot von Giovannino kommt mir mit seinen gewalttätigen Fantasien und lacht sich dann über mich armen Hund scheckig. Deine Einfälle werden von Mal zu Mal schlimmer. Versuch doch mal, mich zu verstehen. Bitte.«
»Ollallallallà. Wir sind hypernervös, was?«
»Hypernervös? Aber …«
»Brauchst du die Serviette?«
»Nein … Nein.« Ich schaue ihn verblüfft an. »Die ist vom Mittagessen, nimm sie nur.«
»Danke.«
Ich konzentriere mich wieder auf den Vertragstext und presse meine Finger gegen die Schläfen.
»Anshrea.«
Ich schaue hoch und reiße die Augen auf. Nicola hat die Backen aufgeblasen. Aus seinen Mundwinkeln schauen zwei weiße Zipfel heraus.
»Hallo. Ish bin der Pate. Ish werde dir einen Vorshlag unterbreiten, den du unmöglish ablehnen kannsht.«
Er zupft die Papierfetzen aus dem Mund. Ich verschränke die Hände im Nacken und klemme meinen Kopf zwischen die Unterarme.
»Ach, ganz vergessen«, sagt Nicola und entledigt sich der Serviette. »Willst du den Namen wissen, den ich mir für das Forum gegeben habe? Das mit dem Fußballturnier?«
Ich presse meine Ellbogen an den Kopf.
»Condor.«