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Die Kanzlei Boraletti & Partner versteckt sich im fünften Stock eines Gebäudes mit Fassade im viktorianischen Stil und genießt eine großartige Aussicht auf den Justizpalast. Ich durchquere den Vorraum bis zur Glastür, aber der Bewegungssensor zögert, als hätte er Schwierigkeiten, mir eine körperliche Existenz zuzuweisen.
»Der muss anders eingestellt werden«, erklärt Boraletti und nimmt mir die düsteren Schatten der Existenzangst.
Ich schaue mich um und sehe die Dinge, die man in jeder anständigen Kanzlei findet: eleganter Empfangstresen aus Mahagoni; wuchernde Pflanzen, die das Ganze einrahmen; Reproduktionen moderner Kunstwerke neben frisch restauriertem Stuck; glänzendes Eichenparkett; eine Empfangsdame mit konfektioniertem Lächeln und glatter Haut; ein ewiges Gewusel von Praktikanten auf dem Höhepunkt der Geschäftigkeit. Das Ambiente soll Vertrauenswürdigkeit, Seriosität und Professionalität ausstrahlen und den Mandanten in einer Welt begrüßen, welcher er seine Belange nicht nur ruhigen Gewissens, sondern auch mit dem gebührenden Stolz anvertrauen kann.
Wir – die Arbeitskräfte – wissen, dass sich das Bild gründlich ändert, wenn man den repräsentativen Bereich verlässt und sich in unsere Räume zurückzieht, welche jene – die Mandanten – nie zu Gesicht bekommen. Dort hinten gibt es keine Zierpflanzen und kein Mahagoni, sondern Anbauschreibtische mit ein paar Kakteen drauf, die irgendjemand mal ausgesucht hat, weil sie pflegeleicht sind. Statt Bilder von echten Malern findet man dort farbige Korktafeln, an denen sich die vergilbten Fotos von Kindern anderer Menschen wellen (die berühmten Neffen und Nichten), oder alternativ Karikaturen und geistreiche Sprüche. (Nicola hat mal ein DIN-A3-Blatt mit einem Zitat aus Full Metal Jacket aufgehängt: Hier sind alle gleich – keiner zählt einen Dreck. Giuseppe hat lauthals gelacht, dann aber gesagt: »Nimm das sofort ab«, um zu demonstrieren, dass es letztlich doch jemanden gibt, der das Sagen hat). Wir wissen, dass sich jenseits der Eingangsidylle Akten, Dokumente, Mappen und Kisten auftürmen und oft jahrelang darauf warten, sortiert zu werden (»Das ist Zeug von Pedrini, der schon drei Jahre weg ist. Ich rühre das nicht an!« – »Aber es liegt auf deinem Schreibtisch.« – »Genau, ich rühre es nicht an!«), und dass sich das elegante Parkett in einen graubraunen Teppichboden verwandelt, übersät mit den Spuren von umgeschüttetem Kaffee und von den Essensresten, die während endloser Nachtsitzungen heruntergefallen und von schlurfenden Schritten plattgetreten worden waren. Der lächelnden Empfangsdame, die soeben ein Kompliment bekommen zu haben scheint, gehen die Feindseligkeiten mühelos von der Zunge, und die überaus geschäftigen Praktikanten plagen sich schlicht damit herum, eine Datei so zu formatieren, dass ein Papier in einer doppelseitigen Version ausgedruckt werden kann. Das alles sehe ich und spüre sofort, wie die Angst in mir aufsteigt, das Gefühl drohender Gefahr. Ein Schauer durchfährt meinen Körper, und ich lächle. Ich fühle mich zu Hause.
Boraletti begleitet mich in einen Sitzungssaal, wo ich in der Gestalt, die aus dem Fenster schaut, sofort Emily erkenne. Sie trägt ein braunes Kostüm mit kurzer Hose und in der Taille gegürteter Jacke, dazu hochtransparente Seidenstrümpfe und Stiefel, die eng an den Beinen anliegen. Sie dreht sich um, weil sie unsere Anwesenheit bemerkt. Zu meiner Verwunderung lächelt sie.
»Hallo, Andrea.« Sie kommt, um mir die Hand zu reichen.
»Hallo, Emily«, gebe ich die vermutlich angemessene Antwort.
»Wie elegant wir heute sind.«
Sie hat es bemerkt, sie hat es bemerkt, super, suuuper … In meinem Kopf kreischt eine Stimme herum. Ich schenke ihr keine Beachtung und schüttle energisch Emilys Hand.
»Aber nein, aber nein. Nicht doch, nicht doch«, widerspreche ich, und die Stimme in meinem Kopf schluckt ein paar Mal, erleidet einen Würgekrampf und verstummt.
Ich trage einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, den ich mir von einem Schneider habe anfertigen lassen. Eleonora hat mich dorthin geschickt, weil sie der Meinung war, dass ich, wenn ich schon das schlaffe Bäuchlein nicht loswerde, es doch wenigstens verstecken solle.
»Aber das sieht man doch gar nicht«, habe ich mich beschwert.
»Via Terraggio. Signor Angelini ist auf der rechten Seite, wenn man von Sant’Ambrogio kommt«, hat sie geantwortet, und wir haben nie wieder darüber geredet.
An den Füßen trage ich schwarze, spitz zulaufende Slipper, die ich mir auf Giuseppes Empfehlung hin gekauft hatte.
»Wenn der Mensch ohne Schnürsenkel auskommt«, hatte er gesagt, »dann kommt er ohne alles aus. Das ist eine Lektion, Endru, die du dir zu Herzen nehmen solltest.«
Den ultimativen Hauch von Klasse verleihen mir die rosafarbenen Socken, die genau auf die rosafarbene Krawatte, ein Weihnachtsgeschenk von Giovannino, abgestimmt sind.
»Die heutige Mode verlangt nach Männern, die keine Angst davor haben, nicht wie solche zu wirken.«
»Wieso?«, hatte ich gefragt, weil sich das meinem Verständnis entzog.
»Weil ein Mann nicht immer ein solcher ist«, hat er geantwortet, ohne selbst zu begreifen, was er da eigentlich sagte.
Auf meinem Gesicht liegt immer noch ein zufriedenes Lächeln, als Boraletti sich zu mir herüberneigt.
»Hier geht es wohl kaum um Eleganz, was?« Boraletti steckt die Daumen in die Gürtelschlaufen. »Und Giuseppe? Hat der beschlossen, uns auch heute nicht mit seiner Anwesenheit zu beehren?«
»Giuseppe ist auf dem Weg.« Ich stecke ebenfalls die Daumen in die Gürtelschlaufen. »Zusammen mit Donato. Er hat gesagt …«
»Da sind wir schon.«
Giuseppe steht in der Tür und reicht einer Sekretärin seinen Mantel und seine sizilianische Schieberkappe.
»Passen Sie mir auf die Kappe gut auf«, sagt er und legt der Frau, die hinter ihrem Lächeln ein Gähnen zu verbergen sucht, eine Hand auf die Schulter. »Die hat mir meine erste Frau geschenkt, Friede ihrer Seele.«
Giuseppe ist nicht Witwer. Kurz nachdem er mit dem Studium fertig war, hat er geheiratet, Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr danach stand er wieder alleine da. Seine Frau hatte sich mit dem Maler eingelassen, der eigentlich nur die gemeinsame Wohnung, in der sie jetzt noch wohnt, streichen sollte. »Mir war aufgefallen, dass er ziemlich lange brauchte, um diese verfluchte Wohnung anzupinseln. Natürlich war mir klar, dass es nicht leicht ist, alles in Himmelblau zu streichen, aber er hat einfach viel zu lang gebraucht.« Das waren die einzigen Worte, die ich ihn je über diese Angelegenheit habe verlieren hören, und zwar während eines Weihnachtsessens der Kanzlei, bei dem er vier Long Island Ice Tea getrunken und mit sich selbst Blues getanzt hat. Sonst spricht er von seiner ersten Frau, als wäre sie tot, und bezieht sich auf diese Zeit mit den Worten: »Als passierte, was dann passierte.«
Boraletti lässt sich nichts anmerken und setzt bei Giuseppes Anblick die Maske des höflichen Gastgebers auf, wie man es unter Anwälten zu tun pflegt. Jedes Wort, jede Geste müssen dem gleichgestellten Kollegen gegenüber von höchstem Respekt zeugen. In solchen Gesprächen, die immer demselben Muster folgen, gibt es nur liebe Menschen.
»Mein Lieber, das Papier, das du mir hast zukommen lassen, war ein ganz großer Mist. Das hätte ich von dir nicht erwartet.«
»Aber mein lieber Kollege, im Interesse unserer Mandanten mussten wir ein paar kleine Veränderungen vornehmen.«
»Das weiß ich sehr wohl, mein lieber Kollege, und ich kann das auch verstehen. Aber so zerstören wir die Gesamtstruktur. Du musst entschuldigen, dass ich es einen ganz großen Mist nenne, aber ich möchte mich klar ausdrücken.«
»Sicher, mein Lieber, sicher. Aber es handelt sich nicht um ganz großen Mist. Und wenn ich ganz großer Mist sage, dann tue ich das nur, um deine Worte zu gebrauchen und mich auf deine Ebene zu begeben.«
»Ich denke – verzeih mir, mein Lieber –, dass du dich nicht ganz auf der Höhe deiner Fähigkeiten zeigst.«
»Aber nicht doch, mein Lieber, die Sache ist eher deiner allseits bekannten Unfähigkeit zuzuschreiben.«
»Leck mich.«
»Das fasse ich allerdings als Beleidigung auf.«
»Ach so, entschuldige bitte: mein Lieber.«
Boraletti und Giuseppe schütteln sich herzlich die Hand und beglückwünschen dann den jeweils anderen zu Fällen, von denen man mal irgendetwas gehört hat, und bescheinigen sich wechselseitig, obwohl man sich heute zum ersten Mal sieht, ein entschieden verjüngtes Aussehen. Schließlich nehmen sie am Tisch Platz, und Giuseppe eröffnet die Runde.
»Okay, ich möchte, dass wir eine Sache im Kopf behalten«, beginnt er und schafft es beim zweiten Versuch, perfekt die Fingerkuppen aneinanderzulegen. »Das hier sind keine Friedensverhandlungen in einem Krieg. Nein. Dies hier sind Friedensverhandlungen in Friedenszeiten. Denn ein Joint Venture ist ein gemeinsames Projekt, und wir sind hier, weil wir aus zwei Parteien eine machen wollen, nämlich uns.«
Giuseppes Anwesenheit erlaubt es mir, mich zurückzulehnen. Der Klang seiner Worte vermischt sich mit den hochtrabenden Ausdrücken, mit denen Boraletti seine Überlegungen anreichert, und erzeugt in mir eine gewisse Schläfrigkeit, gegen die ich ankämpfe, indem ich mich auf beliebige Dinge konzentriere: einen Nachtfalter, der auf der Gardine sitzt und schläft, eine Leinwand, auf die eine zerbrochene Geige montiert ist, einen Sonnenstrahl, der auf einen Wassertropfen fällt und einen kleinen Regenbogen erzeugt, den Daumenknöchel von Donato, der immer mal wieder den Raum verlässt, das Tuch mit den feinen gelben Streifen um Emilys Hals.
Emily.
Emily folgt aufmerksam. Sie schreitet ein, präzisiert, macht sich Notizen. Manchmal lächelt sie auch. Sie wirkt entspannt. Ab und zu kreuzt sie meinen Blick. Ich gebe ihr dann mit kleinen mimischen Zuckungen meine Haltung zu verstehen, He, was willst du machen, hier sind wir nun einmal. Sie senkt sofort den Blick und konzentriert sich wieder. Beleidigt scheint sie nicht zu sein.
»Nimm zum Beispiel die Walküre«, sagt Boraletti. »Natürlich handelt es sich um eine Einspielung aus der Ära nach Karajan, aber hör dir den letzten Akt an, in dem Brünnhilde nicht mehr viel zu singen hat. Ex-zel-lent. Und dann musst du dir unbedingt den Knappertsbusch-Ring besorgen. 1956.«
Giuseppe und Boraletti schweifen vom Thema ab.
Ich erwache aus der Erstarrung.
Giuseppe denkt über Boralettis Ausführungen nach und klopft wiederholt mit dem Zeigefinger gegen den rechten Nasenflügel.
Ich nehme mein Blackberry, schreibe eine Nachricht und drücke auf senden.
Heute Abend muss ich zum Abschiedsumtrunk eines Kollegen. Kommst du mit?
Sekunden später ist von Emilys Blackberry ein leichtes Vibrieren zu vernehmen. Emily nimmt es, liest und runzelt die Stirn. Giuseppe hat es derweil fast geschafft, den Finger wieder herunterzunehmen.
»Wunderbar, hohe Kunst. Aber …« Giuseppe wägt seine Worte sorgfältig ab. »Manchmal – darf ich das sagen, mein lieber Franco? – was für zwei Riesenhornochsen.«
Sie brechen in Lachen aus.
Mein Blackberry vibriert. Langsam nehme ich es, emotionslos.
Und lese.
Ich denke eher nicht.