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»Es gibt da ein Problem mit Klausel dreizehn.«
»Dreizehn«, sage ich und springe auf, ohne auch nur im Mindesten zu wissen, wovon ich rede. »Stimmt. Das ist mir auch aufgefallen.«
»Ach nein, ich meine achtzehn, Entschuldigung. Es gibt da eine Inkongruenz in Klausel achtzehn.« Nach seiner Korrektur wendet sich der englische Anwalt an mich und fragt: »Und du? Was für ein Problem hast du mit Klausel dreizehn?«
Ich antworte nicht, sondern lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen und schaue auf die Uhr. Fast Mitternacht. Wie kann das sein? Ein paar Korrekturen hatten vorgenommen werden sollen, ein paar Präzisierungen, nichts Bedeutendes, und nun hagelt es unermüdlich neue Fragen und unerwartete Probleme, und alles muss noch einmal geprüft, gelesen, angeglichen werden.
Giuseppe sitzt neben mir. Ab und zu wirft er mir einen wütenden Blick zu. In der Überzeugung, dass alles erledigt sei, hatte er auf einen Sprung in den Sitzungssaal kommen wollen, um wichtige Hände zu schütteln und die Lorbeeren einzuheimsen. Ich würde als sein Schützling dastehen, dem er freie Hand gelassen hat, damit er etwas lernt, damit er sich amüsiert, aber Achtung!, im Hintergrund stehe ich, Giuseppe Sobreroni, der Profi, der hinter den Kulissen alles verfolgt, der Fäden zieht, Hebel in Bewegung setzt und das Ganze überwacht, denn diese jungen Leute muss man in die Welt hinausschicken, damit sie sich die Hörner abstoßen, aber man muss sie gleichwohl kontrollieren, das ist man dem Mandanten schuldig, eine moralische eher noch als eine berufliche Pflicht. Jetzt ist er still. Er spielt mit seinem Blackberry herum und sagt hin und wieder: »Ja, verdammte Scheiße.«
Die Mandanten haben sich zum Essen verabschiedet, sichtlich verärgert. Vorher hatten sie die Sache auf den Punkt gebracht: Die Dokumente müssen heute Nacht noch überarbeitet werden, keiner geht hier raus, bevor die Sache nicht abgeschlossen ist, und erst wenn alles fertig ist – erst dann –, werden wir ihnen Bescheid geben, und sie werden wiederkommen und unterschreiben.
»Denken Sie daran«, hatten sie noch einmal wiederholt, »erst dann.«
»Erst dann, jawohl«, hatte Giuseppe gesagt und geschluckt.
Ich betrachte das Tablett mit der kleinen Erfrischung. Von den Häppchen, die bestellt worden waren, um den erwarteten Abschluss zu feiern, bleiben nur noch eine Pyramide Tofustäbchen und ein wenig Salzgebäck, die auf einhellige Ablehnung stoßen. Der Rest war statt eines Abendessens, das niemand zu bestellen gewagt hatte, verputzt worden. Ich schlurfe hin, während Timothy, der englische Anwalt der Gegenseite, darauf besteht, dass man den Vertrag noch einmal auf Inkongruenzen und Widersprüche hin prüft. Meine Augen sind müde, meine Gesichtszüge angespannt, mein Bauch aufgedunsen. Der Ansatz eines Buckels lastet auf meinen Schultern. Ich nehme ein Mangold-Spinat-Täschchen, wiege es in der Hand, betrachte es, drehe es hin und her. Dann zerquetsche ich es langsam. Mein Atem ist ruhig. Das Gefühl, wie zwischen meinen Fingern der Brei hindurchquillt, verleiht mir eine gewisse Leichtigkeit.
»Aber was zum Teuf…«, zische ich, als ich merke, dass Tiziano mich verblüfft anschaut. »Muss man denn, bei allem Zwang zum Sparen, wirklich ein solches Catering bestellen. Das ist ja schon Matsch, wenn man es nur anschaut. Unglaublich.«
Ich setze mich wieder hin, checke die E-Mails in meinem Blackberry, lege es auf den Tisch, werfe einen Blick auf mein Handy, sehe eine ungelesene Nachricht.
Heute Abend essen gehen mit uns? Wir treffen uns um 20.30. Melde dich.
Eine Art Nebeleffekt lässt meine Gedanken verschwimmen. Ich falle in Trance und sehe sie vor mir, ganz deutlich sehe ich sie vor mir. Just in diesem Moment blättern sie in der Dessertkarte, während der Kellner die Spezialitäten des Tages aufzählt. Ich höre sie auch sprechen.
»Ich nehme die Mousse.«
»Zwei.«
»Drei.«
»Wie oft also die Mousse?«
»Für mich nicht. Ich nehme das Tiramisù.«
»Haben Sie Birne mit Schokolade?«
Ich würde Profiteroles nehmen. Ich mag Profiteroles, weich, mit Sahne gefüllt, beruhigend. Und einen Amaretto di Saronno. Amaretto ist lecker, am besten mit einem Cantuccio dazu, oder sagen wir zwei, Samstag gehe ich joggen. Ich muss mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren und denke daran, wie meine Mutter mir als Kind die Decken zurückgeschlagen hat. Hass steigt in mir auf.
»Okay then«, beharrt Timothy, »lesen wir ihn ein letztes Mal.«
»Aber das muss dann auch wirklich das letzte Mal sein«, antworte ich. »Egal ob es gut oder schlecht läuft.«
»Was willst du damit sagen?«, fragt er streng.
»War ein Scherz.«
Während sich Timothy erneut in die Lektüre des Vertrags vertieft, schiebt sich Giuseppe müde auf den Rollen seines Stuhls in meine Richtung.
»Das ist jetzt kein Scherz«, flüstert er mir zu. »Dieser Scheißdeutsche hat doch nicht alle Tassen im Schrank. Der Vertrag wird jetzt abgeschlossen, wie er ist. Ohne Wenn und Aber.«
»Das ist kein Scheißdeutscher.«
»Sondern?«
»Er ist Engländer.«
»Eben. Die braten immer Extrawürste.«
Trotz Giuseppes Klagen scheint es, als wären wir am Ziel angelangt. Vor uns hängt ein Bildschirm von der Decke herab, auf den direkt von meinem Computer der Vertrag projiziert wird, alle einundvierzig Seiten nacheinander, die Frucht monatelanger Arbeit. Ein beeindruckendes Sammelsurium an Klauseln, Verpflichtungen, Erklärungen und Vereinbarungen zieht an mir vorüber und lässt mein Leben Revue passieren: Diese Klausel habe ich an dem Tag formuliert, als ich das Konzert von Sergio Caputo verpasst habe – es soll sehr gut gewesen sein. Diesen Artikel haben wir an dem Abend diskutiert, als das Essen mit meinen ehemaligen Mitschülern vom Gymnasium stattfinden sollte – ich hab’s mir geschenkt, aber man hat mir versichert, dass es ein sehr schöner Abend war. Und da sind sie auch schon, die Gewährleistungsvereinbarungen, um die es an jenem Sonntag ging, als ich nicht zum Essen nach Hause konnte – es gab Braten, den macht meine Mama sehr gut. Und so geht es weiter mit den Erinnerungen, bis zur letzten Seite.
Ich schaue den englischen Anwalt an.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
»Alles in Ordnung«, antwortet er.
Es ist Viertel nach zwei, als ich endlich eine Nummer von einer Visitenkarte abtippe. Mit perfekt französischem Akzent antwortet die verschlafene Stimme eines Mannes mittleren Alters.
»Allô?«
»Jean, ich bin’s, Andrea. Wir sind fertig. Alles ist für die Unterschrift bereit.«
Jean, der interne Mitarbeiter der französischen Geschäftsbank, ist innerhalb einer Viertelstunde bei uns. Seine Haare sind ungekämmt. Er trägt Slipper und die Hose des Anzugs, in dem er heute Nachmittag zur Sitzung erschienen war, aber statt des Jacketts hat er ein Sweatshirt an, auf dem sich Snoopy mit Schal und Mantel am Strand räkelt. Ich bin bereit für den Winter, steht darunter.
Von den Deutschen keine Spur. Timothy wählt eine Nummer nach der anderen, ohne dass sich jemand meldet. Er schaut mich betrübt an. Ich bedeute ihm, sich zu gedulden, und gehe zu Tiziano, dem Praktikanten.
»Tiziano, hör mal, wir sind fertig. Jetzt bleibt nur noch die allerletzte Hürde. Ich muss mal kurz fort, und mir ist wichtig, dass du die Stellung hältst. Sollten zufälligerweise die Deutschen kommen – sie werden nicht kommen –, aber sollten sie zufälligerweise kommen, während ich weg bin, übernimm du das. Gib Acht, dass sie alle Dokumente ordnungsgemäß unterschreiben. Mach dir aber keine Sorgen, ich komme gleich wieder.«
»Wo gehst du denn hin?«, fragt er und klappt ein paar Mal die Augen auf und zu.
»Nirgendwohin. Ich muss nur mal frische Luft schnappen.«
»Und dann kommst du wieder?«
»Dann komme ich wieder, Tiziano.« Beruhigend lege ich ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich komme wieder.«
Ich verlasse den Saal und gehe in Richtung Toilette. Dort stütze ich mich aufs Waschbecken, verharre reglos und betrachte den Mann, der mich aus dem Spiegel heraus anschaut. Ich lockere die Krawatte. Ziehe die Unterhose zurecht. Bringe Haare und Gedanken in Ordnung. Der Mann vor mir ist ein Fremder. Ich löse den obersten Hemdkragen und zupfe noch einmal an der Krawatte. Dann strecke ich den rechten Arm aus. Ein paar Sekunden lang bleibe ich still stehen, unentschlossen, den Arm vor dem Körper erhoben. Ich strecke auch den anderen Arm aus. Beide Arme ragen im rechten Winkel nach vorn. Ich bin blockiert, zögere, lege langsam die rechte Hand auf den linken Ellbogen, der immer noch erhoben ist. Einen Moment nur, dann lege ich die linke Hand auf den ebenfalls noch erhobenen rechten Ellbogen, und los geht’s: rechte Hand in den Nacken und linke Hand in den Nacken und rechte Hand an die Hüfte und linke Hand an die Hüfte und rechte Hand an den Hintern und linke Hand an den Hintern. Leichtes Wackeln der Pobacken. Eeeeeeeeee … Macarena! Mit einer Rechtsdrehung hüpfe ich hoch und verlasse die Toilette.
»Tja, Giuseppe«, rufe ich lächelnd, als ich in den Sitzungssaal zurückkehre. »Es scheint, als hätten wir es geschafft.«
Giuseppe lehnt am Tischchen mit dem Salzgebäck, starrt mich ein paar Sekunden lang an und richtet sich dann auf, um sich weit weg von mir hinzusetzen.
Von den Deutschen immer noch keine Spur.
Nach unzähligen vergeblichen Versuchen gelingt es dem englischen Anwalt endlich, einen der beiden zu erreichen. Das Gespräch scheint sich schwierig zu gestalten: Hello? Hallo? Hallo? Hören Sie mich? Wir sind fertig, es fehlen nur noch die Unterschriften … Hallo? Können Sie mich verstehen? Ja, wir sind fertig, wir warten auf Sie, wir sind fertig … Hallo? Der Engländer klappt sein Handy zu, ohne seinen Missmut zu verbergen, und erklärt lakonisch: »Loud music.«
Fünfundvierzig Minuten später tauchen die Deutschen auf. Sie sind schweißgebadet und haben ihre Krawatten zusammengerollt und in die Westentasche gesteckt, außerdem sind sie nicht allein. Zwei sehr große platinblonde Mädchen in äußerst eng anliegenden Lederkleidern hängen an ihrem Arm und säuseln: »Schöne Männer, lasst uns tanzen gehen, lasst uns gehen.« Dann lachen sie lautstark und schwanken. Ohne weitere Umstände zieht der jüngere der beiden Deutschen einen enormen Elfenbeinfüllfederhalter aus dem Jackett, tritt mit einem Siebzigerjahretanzschritt an den Vertrag heran und beginnt, die Seiten zu zeichnen. Gelegentlich hört man ihn ein kurzes Motiv singen, und ich erkenne Felicità von Albano und Romina Power.
Zehn Minuten später sitze ich im Taxi nach Hause, zähle die Lichter der Straßenlaternen und denke an die Beine der beiden Blondinen.
Der Taxifahrer bricht das Schweigen.
»Meine Frau hat mich vor zwei Jahren verlassen. Seither mache ich Nachtschicht.«
»Tut mir leid«, sage ich, ohne mit dem Zählen aufzuhören.
»Ach, Nachtschicht ist gar nicht so schlecht.«
»Ich meine, wegen der Frau.«
»Ach so. Tja.«