KAPITEL 66

 

Zusammen mit Hunderten verängstigter Menschen verließen Stone und seine Freunde über die Rolltreppen den U-Bahnhof. Während Sirenen jaulten und ein kleines Heer von Polizisten die Umgebung durchkämmte, gingen sie ziellos die Straße entlang.

»Gott sei Dank ist Caleb nichts passiert«, sagte Milton.

»Ja.« Reuben packte Caleb an den Schultern. »Alle Wetter, was sollte bloß werden, wenn wir dich nicht mehr verarschen könnten?«

Rasch schilderte Caleb, wie er den Mann mit dem angeblichen Namen Foxworth kennen gelernt hatte. »Er hat behauptet, er hätte Bücher in seinem Büro, die ich begutachten sollte, und plötzlich wurde ich bewusstlos.«

»Er hat sich Foxworth genannt?«, vergewisserte sich Stone.

»Ja. Der Name stand auf seinem Bibliotheksausweis. Und um den Ausweis zu kriegen, muss er irgendeine Legitimation vorgelegt haben.«

»Ohne Zweifel ist es trotzdem nicht sein echter Name. Aber wenigstens haben wir ihn gesehen.«

»Was machen wir nun?«, fragte Annabelle.

»Ich begreife noch immer nicht«, sagte Milton, »wie der chemische Leuchtstoff in die Bücher übertragen worden ist. Albert Trent gehört zum Mitarbeiterstab des Geheimdienstausschusses und kommt an geheime Informationen heran, aber an wen gibt er sie weiter? Und wie gelangen sie in verschlüsselter Form in Bücher der Kongressbibliothek, die dann im Lesesaal der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek von Jewell English und wahrscheinlich auch von Norman Janklow gelesen werden, wobei sie mit Hilfe spezieller Brillen den Code erkennen und niederschreiben?«

Während die Gruppe über diese Fragen nachdachte, rief Stone per Handy Alex Ford an, um sich über den Stand der Dinge zu informieren. Man fahndete noch nach Trent, doch Ford riet Stone, sich und seine Freunde aus dem Fall zurückzuziehen. »Es hat keinen Sinn, dass ihr euch weiteren Gefahren aussetzt«, sagte Ford. »Ihr habt genug getan.«

»Und was sollen wir nun anstellen?«, fragte Caleb, sobald Stone die Empfehlung ausgerichtet hatte. »Einfach nach Hause gehen?«

Stone schüttelte den Kopf. »Wir sind in der Nähe der Kongressbibliothek. Da möchte ich hin.« Caleb erkundigte sich nach dem Grund. »Weil da alles angefangen hat. Außerdem ist eine Bibliothek stets ein geeigneter Ort, um an Erkenntnisse zu gelangen.«

Caleb verschaffte ihnen Zutritt in die Bibliothek, aber nicht in den Lesesaal, denn der blieb an Samstagen geschlossen. »Am meisten verwirrt mich das Timing«, gestand Stone den Freunden, als sie durch die langen Flure gingen. Kurz schwieg er und sammelte seine Gedanken. »Vor zwei Tagen erschien Jewell English im Lesesaal, und da waren im Buch dieses Beadle noch die Markierungen. Am Abend, als wir das Buch hatten, waren sie plötzlich verschwunden. Das ist ein ziemlich schmales Zeitfenster.«

»Erstaunlich ist es allemal«, sagte Caleb, »denn die meisten Bücher, die in den Tresorräumen lagern, bleiben jahrelang ungelesen, bisweilen sogar für Jahrzehnte. Wenn die Markierungen vorgenommen worden waren, musste man Jewell English verständigen und ihr den Titel nennen, und dann musste sie sofort die Bibliothek aufsuchen und nach dem Buch fragen. Und dann zerfallen die Markierungen, wie du richtig sagst, noch am selben Tag.«

Stone blieb stehen und lehnte sich an eine Marmorbrüstung. »Aber wie konnten sie sicher sein, dass innerhalb dieses Zeitrahmens alles klappt? Natürlich wollte man nicht, dass der Leuchtstoff sich lange hält – das wäre peinlich geworden, hätte sich die Polizei dafür interessiert. Wäre uns das Buch früher in die Hand gefallen, hätten wir uns ja tatsächlich ans FBI gewandt, ehe die Chemikalie verdunsten konnte. Folglich muss die Kennzeichnung erst kurz vor Englishs Ankunft in der Bibliothek geschehen sein.«

»Ehe Jewell English das letzte Mal bei uns war«, sagte Caleb, »war ich mehrmals in den Tresorräumen, aber außer Bibliotheksmitarbeitern bin ich niemandem begegnet, und von denen ist keiner länger als zehn oder fünfzehn Minuten geblieben. Diese Zeitspanne ist eindeutig zu kurz, um so viele Buchstaben zu markieren. Und woanders kann es nicht passiert sein, weil dann jemand das Buch mit nach Hause genommen haben müsste.« Er stutzte. »Moment mal … Falls ein Mitarbeiter das Buch mitgenommen hat, kann ich es feststellen. Schließlich muss dafür ein vierseitiges Formular ausgefüllt werden.« Er führte die Gruppe zum Hauptanmeldeschalter, sprach dort kurz mit einer Frau, ging hinter die Schaltertheke, loggte sich am Computer ein und tippte auf der Tastatur. Eine Minute später machte er ein enttäuschtes Gesicht. »Es sind keine Beadles außer Haus gewesen. Seit über vier Monaten hat das Bibliothekspersonal keinerlei Bücher zu Hause gehabt.«

Während alle noch ratlos am Schalter standen, kam Rachel Jeffries vorbei. Sie war die Konservatorin, der Caleb den Beadle-Schundroman, in dem die Leuchtstoffmarkierungen gewesen waren, zur Restaurierung gebracht hatte.

»Oh, hallo, Caleb«, sagte sie. »Ich dachte, Sie kommen an Wochenenden nicht mehr in die Bibliothek.«

»Hallo, Rachel. Ich bin mit ein paar Nachforschungen beschäftigt.«

»Und ich versuche, bei der Restaurierung Rückstände aufzuarbeiten. Ach, da wir uns gerade sprechen, ich wollte Ihnen sagen, der Beadle, den Sie mir zur Reparatur gegeben haben, war erst kurz vorher nach einer anderen Reparatur in die Tresorräume retourniert worden.«

»Was?«, fragte Caleb entgeistert.

»Er hatte Schäden auf der Rückseite des Einbands und ein paar lose Blätter. Als ich mir die Restaurierungsdokumentation angesehen habe, war ich sehr überrascht, denn wir hatten das Buch erst kurz zuvor retourniert, wie ich bereits sagte. Haben Sie eine Ahnung, wie es schon wieder beschädigt worden ist?«

»Wann genau hat Ihre Abteilung es zurückgereicht?«, überging Caleb ihre Frage.

»Erst an dem Tag, bevor Sie’s mir gegeben haben.«

»Moment mal, Rachel.« Erneut tippte Caleb auf der Tastatur. Er prüfte nach, wie viele Beadles in letzter Zeit an die Restaurationsabteilung gegangen waren; die Software ermittelte die Daten und lieferte ihm schnell eine Auskunft. »Innerhalb der vergangenen zwei Jahre wurden sage und schreibe sechsunddreißig Beadle-Bände restauriert«, sagte Caleb zu den Umstehenden. Anschließend informierte er sich darüber, welche Bücher Jewell English und Norman Janklow erbeten hatten, und verglich das Ergebnis mit sämtlichen Bänden, die während der letzten sechs Monate in der Restaurationsabteilung gelegen hatten. Es zeigte sich, dass Jewell English 70 Prozent aller in dem halben Jahr restaurierten Beadles in Händen gehabt hatte. Jedes Mal hatte sie sich das Buch noch an dem Tag aushändigen lassen, an dem es aus der Restaurationsabteilung zurückkam. Ein ähnliches Resultat erhielt Caleb in Bezug auf Norman Janklow. »Die Beadles erfordern sehr viel Restaurationsarbeit«, erklärte Caleb, »weil sie so billig hergestellt wurden.«

Stone, der den anderen in Gedanken schon voraus war, heftete den Blick auf Rachel Jeffries. »Können Sie uns sagen, welcher Konservator den Beadle restauriert hat?«

»Ja, sicher. Das war Monty Chambers.«

Sofort liefen Stone und seine Freunde zurück in den langen Korridor. »Rachel, Sie sind ein Schatz«, rief Caleb über die Schulter.

Sie errötete. »Caleb, Sie wissen, dass ich verheiratet bin«, brachte sie dennoch über die Lippen. »Aber vielleicht können wir ja mal was trinken gehen.«

»Weißt du, wo Chambers wohnt?«, erkundigte Stone sich bei Caleb, als sie auf die Straße liefen.

Caleb nickte. »Gar nicht weit von hier.«

Sie hielten zwei Taxis an. Fünfzehn Minuten später bogen sie in eine ruhige Wohnstraße ab, die gesäumt war von gepflegten alten Reihenhäusern. Jedes Haus hatte einen kleinen Vorgarten, umschlossen von einem schmiedeeisernen Zaun.

»Die Gegend kommt mir irgendwie bekannt vor«, meinte Stone.

»Hier gibt’s viele solche Viertel«, erklärte Caleb.

Sie stiegen aus den Wagen, und Caleb führte sie schnurstracks zu einem der Häuser. Die Ziegelmauern waren blau, die Fensterläden kohlschwarz gestrichen. Vor den Fenstern standen Topfpflanzen.

»Du bist hier schon mal gewesen, stimmt’s?«, folgerte Stone.

Caleb nickte. »Monty hat zu Hause eine Werkstatt, in der er auf freiberuflicher Basis Bücher restauriert. Ich habe ihn schon so manchen Leuten empfohlen. Auch ein paar meiner Bücher hat er schon hier gehabt. Ich kann nicht glauben, dass er in diese Vorgänge verwickelt ist. Er ist der fähigste Konservator, den die Kongressbibliothek hat. Monty arbeitet seit Jahrzehnten bei uns.«

»Jeder hat seinen Preis, und ein Konservator wäre der geeignetste Mann, um Bücher mit Leuchtstoffmarkierungen zu präparieren«, sagte Stone, der achtsam die Vorderseite des Hauses betrachtete. »Ich bezweifle, dass er da ist, aber man weiß ja nie. Reuben und ich klopfen an, während ihr im Hintergrund bleibt.«

Auf das Klopfen rührte sich nichts. Stone schaute sich um. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. »Gib mir Deckung, Reuben«, sagte er.

Reuben drehte sich um und bewegte seinen massigen Körper zwischen Stone und die Straße. Einen Moment später öffnete sich mit einem Knacken das Haustürschloss. Stone huschte ins Haus, Reuben folgte. Im Erdgeschoss gab es nichts von Interesse. Die Möbel waren alt, aber keine Antiquitäten, und die Bilder an den Wänden waren bloß Drucke. Im Kühlschrank standen angebrochene Packungen Fertiggerichte; der Geschirrspüler war leer. Ebenso wenig ließen sich in den beiden Schlafzimmern im Obergeschoss aufregende Entdeckungen machen. In einem Schrank hingen Hosen, Hemden und Jacketts, und in einer kleinen Kommode lagen Unterwäsche und Socken. Im Badezimmer fanden sich nur die üblichen Utensilien, obwohl Stone zwei Gegenstände mit einer Miene leichten Befremdens betrachtete. Der Medizinschrank enthielt ein typisches Sammelsurium harmloser Medikamente und Toilettenartikel. Nichts wies darauf hin, wo Chambers sein könnte.

Als Stone und Reuben nach unten zurückkehrten, standen die anderen im Hausflur. »Und?«, fragte Caleb aufgeregt.

»Hast du nicht eine Werkstatt erwähnt?«, wollte Stone wissen.

»Ja. Die ist im Keller.«

Alle stiegen in den Keller hinunter und durchsuchten Chambers’ Werkstatt. Dort gab es alles, was man im Arsenal eines Buchkonservators erwartete, sonst aber nichts.

»Das war ’ne Sackgasse«, erklärte Reuben.

Das Kellergeschoss hatte einen Ausgang. Durch eine Scheibe in der Tür schaute Stone ins Freie. »Dieser Ausgang mündet in eine Gasse, und gegenüber sieht man eine Häuserreihe.«

»Ach?«, meinte Reuben irritiert. »Ich hab meine Zweifel, dass ein flüchtiger Hochverräter in irgendeiner Nebenstraße herumlungert, bis das FBI ihn sich greift.«

Stone öffnete die Tür, trat hinaus und sah in beide Richtungen des Sträßchens. »Wartet hier.« Er lief ans Ende der Gasse, spähte um die Ecke und verschwand dann außer Sicht. Als er kurze Zeit später wiederkam, leuchteten seine Augen.

»Was ist?«, fragte Reuben. »Ist dir eingefallen, weshalb die Gegend dir bekannt vorkommt? Bist du schon mal in diesem Viertel gewesen?«

»Wir alle waren schon mal hier, Reuben.«KAPITEL 67