KAPITEL 17

Die Vorbereitungen dauerten eine volle Woche. Unter anderem legte Annabelle Freddy eine Aufstellung der erforderlichen Dokumente und Ausweise vor. Als er das Ende der Liste las, schaute er zweimal hin. »Vier amerikanische Reisepässe?«

Tony hob den Blick. »Reisepässe? Wofür?«

Leo streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Bildest du dir ein, du kannst einen Irren wie Jerry Bagger über den Tisch ziehen und im Land bleiben? Ich fass es nicht. Du solltest in die Mongolei gehen und ein paar Jahre lang als Mönch leben. Ich jedenfalls würde lieber eine Kutte tragen und Yaks reiten, ehe ich mir anhören muss, wie Bagger nach seiner Knete schreit und mich in kleine Stücke sägt, sobald er mich in die Pfoten kriegt.« Er setzte die Arbeit an seiner Verkleidung fort.

»Wir brauchen die Pässe, um für einige Zeit außer Landes zu gehen, bis hier die größte Aufregung vorbei ist«, erklärte Annabelle.

»Außer Landes?« Tony erhob sich halb vom Stuhl.

»Jerry ist nicht unfehlbar, aber es wäre dumm, das Schicksal herauszufordern«, sagte Annabelle. »Und du kannst die Welt sehen, Tony. Italienisch lernen.«

»Und meine Eltern?«, fragte Tony.

»Schick ihnen Ansichtskarten«, brummte Leo über die Schulter, während er sich bemühte, eine Perücke auf seinem Kopf zurechtzurücken. »Schreib ihnen einfach was über deine mickrigen Amateurnummern.«

»US-Reisepässe sind schwer zu fälschen, Annabelle«, sagte Freddy. »In der Szene werden sie für zehn Riesen gehandelt.«

Annabelle sah ihn mit festem Blick an. »Du kriegst für vier Stück sechseinhalb Millionen, Freddy.«

Er schluckte nervös. »Hast mich überzeugt. Du sollst sie haben.« Er ging mit der Liste hinaus.

»Ich war noch nie im Ausland«, gestand Tony.

»Am besten bereist man die Welt, solange man jung ist«, sagte Annabelle und nahm Tony gegenüber am Tisch Platz.

»Seid ihr schon mal im Ausland gewesen?«, fragte Tony.

»Soll das ein Witz sein?« Leo kicherte. »Glaubst du, man kann bloß in den Staaten abzocken?«

»Ich bin ganz schön rumgekommen«, sagte Annabelle.

Tony wirkte verängstigt. »Vielleicht könnten wir zusammen um die Welt reisen.«

Annabelle schüttelte den Kopf. »Wir trennen uns. Vier Einzelpersonen sind schwerer zu fangen als eine Vierergruppe.«

»Schön, okay, sehe ich ein«, sagte Tony.

»Du wirst genügend Geld zum Leben haben«, versicherte Annabelle.

Tony strahlte. »Und eine Villa in Europa. Mit eigenem Butler und so.«

»Schmeiß nicht sofort mit dem Geld um dich. So was ist wie eine Leuchtrakete. Fange klein an, und halte dich bedeckt. Ich schaff dich aus dem Land, aber von da an musst du auf dich allein aufpassen.« Annabelle beugte sich vor. »Und nun sollst du erfahren, was du zu tun hast.« Sie erklärte Tony seine Aufgabe in allen Einzelheiten. »Schaffst du das?«

»Kein Problem«, antwortete Tony unverzüglich. Aufmerksam forschte Annabelle in seiner Miene. »Ich bin vom MIT abgehauen, weil ich Langeweile hatte.«

»Ich weiß. Das ist der zweite Grund, warum ich dich ausgesucht habe.«

Tony senkte den Blick auf sein Notebook und tippte auf ein paar Tasten. »Etwas Ähnliches hab ich sogar schon mal gemacht. Ich hab die Einrichtung mit dem besten Sicherheitssystem der Welt reingelegt.«

»Welche denn?«, fragte Leo. »Das Pentagon?«

»Nein. Wal-Mart.«

Verdutzt schaute Leo ihn an. »Willst du mich verarschen? Wal-Mart?«

»He, Wal-Mart versteht keinen Spaß.«

»Wie schnell schaffst du es?«, fragte Annabelle.

»Gib mir ein paar Tage Zeit.«

»Nicht mehr als zwei. Vor dem Ernstfall will ich erst einen Test machen.«

»Kein Problem für mich«, sagte Tony zuversichtlich.

Leo verdrehte die Augen, sprach stumm ein Stoßgebet, schlug das Kreuzzeichen und befasste sich wieder mit der Perücke.

 

Während Freddy und Tony an der Erledigung ihrer Aufgaben arbeiteten, besuchten Leo und Annabelle in Verkleidung das Kasino Pompeji, das neueste und größte Kasino an der Landungsbrücke, das aus den Ruinen einer älteren Spielhölle erstanden war. Um seinem Namen alle Ehre zu machen, hatte das Pompeji tatsächlich einen aktiven Vulkan, der zweimal täglich »ausbrach«, um zwölf und um achtzehn Uhr. Allerdings schoss keine Lava aus dem Krater, sondern eine Wolke aus Gutscheinen für Speisen und Getränke. Da Kasinos Essen und Alkohol praktisch verschenkten, um die Gäste zum Spielen zu animieren, bedeutete diese Großzügigkeit für Jerry Bagger kein großes Opfer. Die täglichen beiden Eruptionen waren ein Publikumsmagnet. Schon frühzeitig stellen sich wahre Menschenmengen an; wenn die Leute ihre Gutscheine zusammengerafft hatten, verspielten sie im Kasino weit mehr Geld, als sie aus dem Bauch des falschen Vulkans jemals an Verzehrgegenwert erhaschen konnten.

»Typisch Bagger«, meinte Leo. »Er bringt Horden von Schwachköpfen so weit, dass sie sich um solchen Scheiß prügeln und dann im Kasino, wenn sie ’nen vollen Bauch und einen in der Krone haben, ihren letzten Cent verspielen.«

»Jerry schart Stammgäste um sich, das ist die einträglichste Strategie im Spielhallengeschäft.«

»Ich weiß noch«, sagte Leo, »wie hier 1978 das erste Kasino eröffnet hat.«

Annabelle nickte. »Das Resorts International, größer als damals jede Spielhölle in Vegas, ausgenommen das MGM. Mein Vater hat da von Anfang an Abzockerteams eingeschleust.«

»Umso weniger hätte er später mit dir und mir zurückkommen sollen.« Leo zündete sich eine Zigarette an und deutete auf die Reihen der Kasinopaläste. »Da hat meine Laufbahn begonnen. Das Personal bestand zunächst überwiegend aus Einheimischen. Von einem Tag auf den anderen arbeiteten Krankenschwestern, Müllwagenfahrer und Tankwarte als Kartengeber, am Würfeltisch und als Croupiers. Sie waren so schlecht, dass man sie auf jede erdenkliche Art und Weise bescheißen konnte. Mensch, man brauchte nicht mal zu betrügen, man kam allein durch ihre Fehler an Geld. So blieb es ungefähr vier Jahre lang. Von den Mäusen, die ich damals eingestrichen habe, sind meine beiden Kinder aufs College gegangen.«

Annabelle sah ihn an. »Deine Familie hast du noch nie erwähnt.«

»Ja, dagegen bist du ein echtes Plappermaul.«

»Du hast meine Eltern gekannt. Was hätte ich noch erzählen können?«

»Ich hatte früh Kinder. Heute sind sie erwachsen und treiben irgendwo auf der Welt wer weiß was, genau wie meine Exfrau.«

»Hat sie gewusst, wie du dein Geld verdienst?«

»Nach einiger Zeit kann man es nicht mehr verheimlichen. Gegen das Geld hatte sie nichts, bloß die Art und Weise des Erwerbs war ihr nicht ganz recht. Den Kindern haben wir nie etwas verraten. Ich wollte, dass sie dem Gewerbe so fernbleiben wie nur möglich.«

»Kluge Entscheidung.«

»Ja, aber irgendwann wollten sie trotzdem nichts mehr von mir wissen.«

»Sieh nicht zurück, Leo. Man spürt dabei zu viele alte Wunden.«

Leo zuckte mit den Schultern; dann grinste er. »Wir waren ganz groß beim Roulette, was? Am Würfeltisch und beim Blackjack kann jeder kleine Taschendieb etwas reißen, aber beim Roulette können nur Profis sich längere Zeit halten. Nirgendwo in einem Kasino kann man dem ganz großen Geld so nahe kommen wie beim Roulette.« Er betrachtete Annabelle voller Bewunderung. »Du warst der beste Claimer, den ich je erlebt habe. Du hattest die aggressive und zugleich die weinerliche Tour drauf. Der Saalchef ist jedes Mal weich geworden. Und immer hast du früher als jeder andere die Dampfwalze kommen sehen.« Als »Dampfwalze« bezeichnete man misstrauisch gewordenes Spielhallenpersonal.

»Und du warst mit den Karten der beste Trickser, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, Leo.«

»Ich war nicht übel, aber du warst mit den Karten ebenso gut. Manchmal glaube ich, dein Alter hat mich nur bei sich behalten, weil du es so wolltest.«

»Da überschätzt du meinen Einfluss. Paddy Conroy hat immer nur das getan, was Paddy Conroy in den Kram passte. Und am Ende hat’s ihm in den Kram gepasst, uns übers Ohr zu hauen.«

»Ja, und uns Bagger zum Fraß vorzuwerfen. Mensch, wenn du nicht so blitzartig geschaltet hättest und wir ihm nicht haarscharf durch die Lappen gegangen wären …« Leo richtete den Blick aufs Meer. »Dann wären wir wohl längst da draußen bei den Fischen.«

Annabelle nahm ihm die Zigarette aus dem Mund. »Und nachdem wir uns jetzt wegen unserer ruhmreichen Vergangenheit gegenseitig tüchtig auf die Schulter geklopft haben, wollen wir wieder an die Arbeit gehen.«

Sie hielten auf den Eingang des Kasinos zu, blieben jedoch abrupt stehen. »Lass erst den Viehtransport vorbei«, empfahl Leo.

Jedes Kasino hatte einen Busbahnhof, dessen Fahrzeuge vormittags um elf Uhr mit dem Pendelverkehr anfingen. Sie karrten zumeist ältere Besucher heran, die den ganzen Tag im Kasino verbrachten, ihre Rente verzockten und Junkfood mampften. Am Abend krochen sie wieder in den Bus, fuhren heim und hatten für den Rest des Monats kaum noch etwas zum Leben, aber den festen Willen zurückzukehren, sobald die nächste Rente überwiesen wurde.

Leo und Annabelle sahen die Krampfadergeschwader ins Pompeji strömen, um früh genug für den ersten Vulkanausbruch des Tages zur Stelle zu sein, und folgten ihnen langsam ins Gebäude. Sie schauten sich dort mehrere Stunden lang um und erlaubten sich ein paar Glücksspiele. Leo probierte es mit mäßigem Erfolg am Würfeltisch, während Annabelle sich beim Blackjack versuchte und mehr gewann, als sie verlor.

Später trafen sie sich an der Bar, um etwas zu trinken. Leo gaffte einer kurvenreichen, bezopften Kellnerin nach, die ein Tablett mit Getränken an einen umlagerten Würfeltisch brachte, an dem drei Reihen Wettbegierige den ersten Schritt zum Reichtum zu tun hofften. »Also?«, fragte Annabelle mit leiser Stimme.

Leo kaute Pekannüsse und schlürfte Jack Daniels mit Cola. »Blackjack-Tisch Nummer fünf«, antwortete er. »Sieht mir ganz so aus, als käme da fauler Zauber aus dem Schuh.« Er meinte den Kartenbehälter.

»Hängt der Geber mit drin?«

»Oh ja. Und was hast du zu bieten?«

Annabelle trank einen Schluck Wein, ehe sie ihm antwortete. »Am Roulettetisch da drüben ist ein ziemlich fähiges vierköpfiges Nachwetterteam zugange.«

»Ich dachte, man hätte den Spielern inzwischen eingetrichtert, ihren Einsatz einzusacken. Und was ist mit all den hochmodernen Decken- und Mikrokameras?«

»Du weißt doch, wie verrückt es am Roulettetisch zugeht, gerade deshalb ist er ja ein Mekka für das Nachwetten. Und wenn man gut ist, bleibt einem trotz des ganzen Hightech-Krimskrams alles möglich.«

Leo stieß mit Annabelle an. »Haben wir das nicht immer gewusst?«

»Wie steht’s mit der Sicherheit?«

»Nichts Besonderes. Vermutlich liegt der Geldspeicher unter tausend Tonnen Beton und wird von einer Million Wächter mit Maschinenpistolen behütet.«

»Gut, dass wir da nicht reinmüssen«, meinte Annabelle mit trockenem Humor.

»Ja, du möchtest dir ja nicht den Nagellack zerkratzen.« Er stellte das Glas ab. »Wie alt müsste Jerry jetzt sein?«

»Sechsundsechzig.«

»Ich wette, das Alter hat sein Herz nicht erweicht«, sagte Leo missmutig.

»Bestimmt nicht.« Aus Annabelles Tonfall sprach eine solche Gewissheit, dass Leo sie argwöhnisch musterte. »Man informiert sich über das Opfer, Leo, weißt du das nicht mehr? Regel Nummer eins.«

»Au verdammt, da kommt das Arschloch höchstpersönlich«, zischte Leo und drehte den Rücken in eine andere Richtung. An ihm vorüber sah Annabelle sechs Männer durch den Saal streben, alle jung, groß und kräftig. In ihrer Mitte ging ein weiterer Mann, zwar kleiner und mit einem dichten Schopf weißen Haars, aber offensichtlich sehr rüstig. Er trug einen teuren blauen Anzug und einen gelben Schlips. Jerry Baggers Gesicht war tief gebräunt. Auf einer Wange hatte er eine Narbe, und die Nase war offenbar mehrere Male gebrochen worden. Unter den buschigen weißen Brauen funkelte ein Paar verschlagener Augen. Seine Blicke huschten durchs Kasino und schienen aus seinem Imperium der Geldschlitze, Spielkarten und verflogenen Hoffnungen sämtliche interessanten Informationen aufzusaugen.

Als die Gruppe sich entfernte, drehte Leo sich wieder um und versuchte, seine Atmung zu beruhigen. »Es fügt sich nicht so gut in meinen Plan, Leo«, sagte Annabelle pikiert, »dass du schon hyperventilierst, wenn der Typ nur durchs Kasino schleicht.«

Leo hob die Hand. »Kein Grund zur Sorge, ist schon wieder vorbei.« Er atmete noch einmal tief durch.

»Wir sind ihm nie Auge in Auge begegnet. Nur seine Gorillas waren hinter uns her, um uns plattzumachen. Es ist doch nicht so, dass er dich erkennen könnte.«

»Ich weiß, ich weiß.« Leo leerte das Glas. »Und was nun?«

»Wenn die Zeit reif ist, gehen wir los. Bis dahin feilen wir an unserer Geschichte, prägen uns die Stichwörter ein und bringen alles auf Vordermann, so gut es geht, denn Jerry ist so unberechenbar, dass wir gar nicht perfekt genug sein können.«

»Ich hatte ganz vergessen, wie großartig du mich aufzumuntern verstehst.«

»Es ist besser, man sieht den Tatsachen ins Auge. Wenn er uns Fallen stellt, müssen wir uns herauswinden, sonst …«

»Schon gut. Was dann passiert, ist uns völlig klar.«

Stumm sahen er und Annabelle durch den Saal Jerry Bagger und dessen Korona nach, als diese das Kasino verließen, sich auf eine kleine Fahrzeugkolonne verteilten und abfuhren, vielleicht, um jemandem, der den Kasinokönig um dreißig Mäuse betrogen hatte, die Kniescheiben zu zertrümmern. Da mochte man gar nicht erst daran denken, was er mit jemandem anstellte, der ihn um 30 Millionen erleichterte.