KAPITEL 6

Caleb Shaw betrat den Lesesaal der Raritätenabteilung, schlurfte zu seinem Schreibtisch an der rückwärtigen Wand und legte dort Rucksack und Motorradhelm ab. Er brauchte einen Moment, um den Gurt, der den Zweck hatte, sein Hosenbein von Kettenschmiere sauber zu halten, vom Fußknöchel zu schnallen. Dann nahm er in seinem Schreibtischstuhl Platz. Heute Morgen hatte er viel zu tun. Am Vortag hatte ein berühmter amerikanischer Gelehrter mehr als sechshundert Bücher angefordert, um eine umfangreiche Bibliografie zusammenzustellen, und als Experte für Recherche hatte Caleb die Aufgabe, diese Werke herauszusuchen. Im Bibliotheksverzeichnis hatte er die Titel schon gefunden; nun musste er sie mühsam aus den Regalen zusammensuchen.

Er strich sich über sein widerspenstiges graues Haar und lockerte ein wenig den Gürtel. Caleb war von schmalem Körperbau, aber seit einiger Zeit fiel ihm auf, dass er um die Taille unerfreulich an Gewicht zulegte. Er hoffte, dass das Motorradfahren dieses Problem löste. Er mied alles, was sich nach »vernünftiger Ernährung« anhörte, und genoss lieber nach Herzenslust Wein und gutes Essen. Außerdem war Caleb überaus stolz darauf, dass er seit dem Abgang von der High School keine Turnhalle mehr von innen gesehen hatte.

Nun strebte er zum Eingang der Tresoranlage, präsentierte dem Computer seinen Dienstausweis und öffnete die Tür. Gelinde gesagt überraschte es ihn, drinnen nicht Jonathan DeHaven anzutreffen. Der Mann war immer als Erster da, und die Tür zum Lesesaal war schon offen gewesen. Doch Caleb vermutete, dass der Abteilungsleiter entweder in seinem Büro saß oder sich in einem der Tresorräume befand.

»Jonathan?«, rief Caleb, doch es kam keine Antwort. Er betrachtete die Liste in seiner Hand. Seine Aufgabe konnte ohne Weiteres den ganzen Tag beanspruchen, wenn nicht länger. Er holte sich einen Bücherkarren und machte sich an die Arbeit, schlenderte systematisch durch alle Räume, in denen diese oder jene der gesuchten Bücher standen. Eine halbe Stunde später kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, um eine zweite Liste zu holen, als eine Kollegin in den Lesesaal kam.

Caleb tauschte ein paar Nettigkeiten mit ihr aus und begab sich dann wieder in die Tresoranlage. Es war ziemlich kühl dort. Caleb entsann sich, gestern auf der vierten Ebene einen Sweater liegen gelassen zu haben. Gerade wollte er den Aufzug nehmen, da erinnerte er sich an seinen Ältere-Herren-Rettungsring und benutzte stattdessen die Treppe. Die letzten Stufen rannte er sogar. Er durchquerte die Sammlung antiquarischer medizinischer Werke, klomm noch eine Treppe hinauf und erreichte das Zwischenstockwerk. Durch den Hauptgang lenkte er die Schritte zu der Stelle, wo der Sweater liegen musste.

Als er den Leichnam Jonathan DeHavens auf dem Fußboden ausgestreckt sah, schnappte Caleb nach Luft, stieß einen ächzenden Laut aus und verlor das Bewusstsein.

 

Der hochgewachsene, drahtige Mann verließ sein bescheidenes Häuschen und betrat den kleinen Friedhof, auf dem er sich als Gärtner betätigte. Es gab reichlich zu tun, um sicherzustellen, dass die letzten Ruhestätten der Toten ein würdiges Aussehen hatten. Die Ironie war, dass der Mann selbst »offiziell« auf dem Arlington National Cemetery lag, dem amerikanischen Heldenfriedhof. Die Mehrheit seiner einstigen Kumpel bei der Regierung hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er noch unter den Lebenden weilte. Tatsächlich wunderte es sogar ihn selbst, dass es ihn noch gab. Die Behörde, für die er damals gearbeitet hatte, hatte alles versucht, ihn ins Jenseits zu befördern – ironischerweise deshalb, weil er keine Lust mehr gehabt hatte, für die Regierung zu töten.

Er gewahrte die Bewegungen des Tiers im Augenwinkel und vergewisserte sich, dass niemand im nahen Mietshaus ihn beobachtete. Dann zog er mit einer fließenden Bewegung das Messer aus der Gürtelscheide, drehte sich zur Seite, zielte und schleuderte das Messer. Er schaute zu, als die Klapperschlange sich wand; die Klinge hatte sich durch den Schädel gebohrt und hielt sie auf dem Untergrund fest. Das verdammte Biest hatte ihn in der vergangenen Woche zweimal fast gebissen, weil es sich im hohen Gras so gut verbergen konnte. Als die Schlange tot war, nahm der Mann das Messer wieder an sich, wischte es sauber und warf den Kadaver in einen Mülleimer.

Zwar verwendete er seine alten Fähigkeiten nicht mehr oft, doch bisweilen kamen sie ihm gerade recht. Zum Glück gehörten die Zeiten, als er in einem Versteck auf der Lauer lag und darauf wartete, dass eine zu tötende Zielperson sich in seine Reichweite begab, seit langem der Vergangenheit an. Dennoch hatte das Vergangene zweifellos Auswirkungen auf sein heutiges Dasein. Das fing schon mit seinem Namen an.

Seinen wirklichen Namen, John Carr, benutzte er seit über dreißig Jahren nicht mehr. Inzwischen war er seit Jahrzehnten als Oliver Stone bekannt. Teils hatte er den Namen gewechselt, um Bestrebungen seines alten Arbeitgebers zu vereiteln, ihn aufzuspüren, teils aus Trotz gegen eine Regierung, von der er das Gefühl hatte, dass sie ihren Bürgern gegenüber unehrlich war. Seit Jahrzehnten hatte Stone im Lafayette Park, gleich gegenüber vom Weißen Haus, als einer von einer Handvoll »Dauerprotestler« ein kleines Zelt stehen. Auf dem Schild neben dem Zelt stand der schlichte Satz: Ich will die Wahrheit wissen. Um dieses Ziel zu verfolgen, hatte Stone eine kleine, informelle Wachhund-Organisation mit der Bezeichnung Camel Club gegründet, die es als ihre Aufgabe betrachtete, dafür zu sorgen, dass die amerikanische Regierung dem Volk rechenschaftspflichtig blieb.

Die weiteren Mitglieder des Clubs, Milton Farb, Reuben Rhodes und Caleb Shaw, hatten keine hohen Machtpositionen und keinerlei Einfluss; dennoch hielten sie Augen und Ohren offen. Es war erstaunlich, wie viel man erreichen konnte, wenn man ein beharrlicher Beobachter blieb, der auf der Grundlage seiner Beobachtungen entschlossen und mit Einfallsreichtum handelte.

Stone richtete den Blick zum Himmel, an dem sich Regen ankündigte. Der Wind einer näher rückenden Kaltfront zauste ihm das kurze weiße Haar, das er früher schulterlang getragen hatte, dazu einen struppigen Vollbart. Heute erlaubte er den Stoppeln, nur wenige Tage zu sprießen, bis er sie abrasierte. Frisur und Bart hatten geändert werden müssen, um während des letzten Camel-Club-Abenteuers sein Leben zu schützen.

Stone kippte Unkraut auf einen Komposthaufen und arbeitete anschließend eine Zeit lang daran, einen alten Grabstein abzustützen, der die letzte Ruhestätte eines bekannten afroamerikanischen Predigers kennzeichnete, der sein Leben im Kampf um die Freiheit verloren hatte. Stone empfand es als seltsam, dass im freiesten Land der Welt jemand um Freiheit hatte kämpfen müssen. Sein Blick schweifte über den Friedhof Mt. Zion, einst eine Zwischenetappe der Geheimorganisation »The Underground Railroad«, die im amerikanischen Bürgerkrieg Sklaven aus dem Süden nach Norden in die Freiheit geschmuggelt hatte, und er konnte nur staunen, was für bemerkenswerte Leute hier in der Erde ruhten.

Während er arbeitete, lauschte er auf die Nachrichten, die aus dem Kofferradio drangen, das er neben sich auf den Boden gestellt hatte. Der Nachrichtensprecher berichtete soeben über den Tod von vier Mitarbeitern des Außenministeriums, die in Übersee – im Irak, in Indien und Pakistan – bei vier verschiedenen Vorfällen der Tod ereilt hatte.

Mitarbeiter des Außenministeriums? Stone wusste, was das bedeutete. Die Tarnung von US-Geheimdienstagenten war aufgeflogen, und man hatte sie ermordet. Die offizielle Sprachregelung verheimlichte der Öffentlichkeit derartige Vorgänge; so wurde es immer gemacht. Doch Stone bildete sich etwas darauf ein, stets auf dem neuesten Stand der aktuellen geopolitischen Ereignisse zu sein. Obwohl das Entgelt, das die Gemeinde ihm als Friedhofswärter zahlte, eher bescheiden war, leistete er sich die Abonnements von drei Tageszeitungen. Viele Artikel schnitt er aus und klebte sie in sein Tagebuch. Gleichzeitig nutzte er seine Erfahrung, aus der Sprache eines Artikels die Wahrheit herauszulesen.

Sein Handy klingelte, als er diesen Gedanken nachhing. Er meldete sich und lauschte, ohne Fragen zu stellen. Dann machte er sich sofort auf den Weg. Sein Freund, das Camel-Club-Mitglied Caleb Shaw, lag im Krankenhaus; ein weiterer Mitarbeiter der Kongressbibliothek war tot. In seiner Eile vergaß Stone, hinter sich das Friedhofstor abzuschließen.

Aber die Toten hatten bestimmt Verständnis dafür, dass die Lebenden Vorrang genossen.

KAPITEL 7