KAPITEL I 2

 

Caleb Shaw hatte im Lesesaal der Raritätenabteilung reichlich zu tun. Seitens mehrerer Kunden lagen Anfragen nach Material der Rosenwald-Sammlung vor; um sie bearbeiten zu können, hatte er die Sondergenehmigung eines Supervisors einholen müssen. Danach hatte er ein langes Telefonat zwecks Beratung eines Universitätsprofessors geführt, der ein Buch über die Privatbibliothek Jeffersons schrieb, die der dritte Präsident der USA der Nation verkauft und damit den Grundstein für die Kongressbibliothek gelegt hatte, nachdem die Stadt 1812 von den Briten niedergebrannt worden war.

Dann war Jewell English erschienen, eine ältere Dame und regelmäßige Besucherin des Lesesaals, und hatte Caleb gebeten, sich eine Ausgabe von Beadle’s Dime Novels ansehen zu dürfen. Sie fände großes Interesse an Beadles Serie, hatte sie Caleb einmal anvertraut, und habe selbst schon eine stolze Sammlung angelegt. Jewell English war eine schlanke Frau mit puderweißem Haar und wohlwollendem Lächeln – und einsam, wie Caleb vermutete. Ihr Ehemann war vor zehn Jahren verstorben, hatte sie ihm anvertraut, und ihre Verwandtschaft lebte überall im Lande verstreut. Deshalb unterhielt Caleb sich jedes Mal ein bisschen mit ihr, wenn sie erschien.

»Sie haben Glück, Jewell«, sagte er nun. »Das Exemplar kommt gerade aus der Restaurationsabteilung zurück. Es brauchte ein wenig Zuwendung.« Er holte ihr den gewünschten Band, sprach mit ihr ein Weilchen über Jonathan DeHavens unerwartetes Ableben und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Einen Moment lang beobachtete er die ältere Dame, die bedächtig eine dicke Brille aufsetzte, in der alten Schwarte blätterte und dabei auf ein paar mitgebrachten Blättern Notizen machte. Aus naheliegenden Gründen waren hier ausschließlich Bleistifte und lose Blätter erlaubt, und alle Besucher mussten vor dem Gehen die Hand- und Aktentaschen und ähnliche Behältnisse kontrollieren lassen.

Als die Tür des Lesesaals sich öffnete, hob Caleb den Blick und sah eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung näher kommen.

»Hallo, Caleb«, sagte die Frau, »ich habe eine Mitteilung von Kevin für Sie.«

Kevin Philips war kommissarischer Abteilungsleiter und nach DeHavens Tod vorerst für ihn eingesprungen. »Von Kevin?«, fragte Caleb. »Warum hat er nicht einfach angerufen oder eine E-Mail geschickt?«

»Ich glaube, er hat Sie anzurufen versucht, aber es war besetzt, oder Sie sind nicht an den Apparat gegangen. Und eine E-Mail wollte er aus irgendeinem Grund nicht schicken.«

»Tja, ich hatte bisher schon alle Hände voll zu tun.«

»Soviel ich weiß, geht es um etwas ziemlich Eiliges.« Die Frau reichte ihm einen Umschlag und ging. Caleb wollte sich an den Schreibtisch setzen, stolperte jedoch über eine geknickte Ecke der Fußmatte unter seinem Drehstuhl, fegte bei dem vergeblichen Versuch, sich festzuhalten, seine auf dem Schreibtisch abgelegte Brille herunter und trat darauf, sodass die Gläser barsten.

»Oh Mann, was bist du für ein Trampel!« Caleb hob die zertretene Brille auf und heftete den Blick auf den Umschlag. Nun konnte er die Mitteilung nicht mehr entziffern. Ausgerechnet jetzt musste ihm das passieren, wo es um etwas Dringendes ging!

»Sie sind schon öfters über die Matte gestolpert, Caleb«, merkte Jewell, die in der Nähe saß, freundlich an.

»Vielen Dank für den Hinweis«, antwortete Caleb durch zusammengebissene Zähne. Dann sah er zu ihr hinüber. »Dürfte ich mir für einen Moment Ihre Brille leihen, Jewell, damit ich diese Mitteilung lesen kann?«

»Kann sein, dass sie Ihnen nichts nutzt. Ich bin blind wie eine Fledermaus, wenn es ums Lesen geht.«

»Und ich wie ein Maulwurf.«

»Kann ich Ihnen die Mitteilung nicht einfach vorlesen?«

»Hmmm … Nein, lieber nicht, die Sache könnte … Sie wissen schon.«

»Sie könnte geheim sein, nicht wahr?«, flüsterte Jewell und klatschte in die Hände. »Wie aufregend!«

Sie überließ ihm ihre Brille. Caleb setzte sie auf, nahm an seinem Schreibtisch Platz und entzifferte die Mitteilung: Kevin Philips bat ihn, sich unverzüglich im Verwaltungsbüro einzufinden, das in einem besonders gesicherten Stockwerk des Gebäudes lag. Caleb runzelte die Stirn. Auf diese Weise war er noch nie in die Verwaltung bestellt worden. Er faltete die Mitteilung zusammen und schob sie in die Tasche.

»Danke, Jewell. Ich glaube, Sie und ich haben die gleichen Dioptrien.« Er reichte ihr die Brille zurück, machte sich innerlich auf alles gefasst und trat den Weg zur Verwaltung an.

Als Caleb das Abteilungsleiterbüro betrat, saß Kevin Philips mit einem Mann in dunklem Anzug zusammen. Philips stellte ihn Caleb als Jonathan DeHavens Rechtsanwalt vor.

»Mr. DeHaven hat testamentarisch verfügt, dass Sie zum literarischen Nachlassverwalter seiner Büchersammlung ernannt werden sollen, Mr. Shaw«, erklärte der Anwalt, zückte ein Dokument und reichte es Caleb. Außerdem händigte er ihm zwei Schlüssel und einen Zettel aus. »Der große Schlüssel passt zu Mr. DeHavens Hauseingang, der kleine zum Panzergewölbe im Keller, in dem die Bücher sich befinden. Die erste Zahl auf dem Zettel ist der Code für die Alarmanlage des Hauses, die zweite Zahl der fürs Panzergewölbe. Es hat ein Sicherheitsschloss sowie ein zusätzliches Zahlenschloss.«

Fassungslos betrachtete Caleb die Gegenstände, die er plötzlich in den Händen hielt. »Literarischer Nachlassverwalter …?«

»Jawohl, Caleb«, bekräftigte Philips. »Wenn ich recht verstanden habe, waren Sie Jonathan bei der Beschaffung so mancher Bände für seine Sammlung behilflich.«

»Ja«, bestätigte Caleb. »Er hatte den bibliophilen Geschmack und das nötige Kleingeld, um sich eine nette Privatbibliothek aufzubauen.«

»Offenbar hat er Ihre Unterstützung ganz außerordentlich zu würdigen gewusst«, sagte der Anwalt. »Das Testament legt fest, dass Sie unbeschränkten Zugang zu seiner Büchersammlung haben. Es soll nun Ihre Aufgabe sein, die Sammlung zu katalogisieren, den Wert zu taxieren und sie zu veräußern – ob in Teilen oder als Gesamtheit, liegt in Ihrem Ermessen. Die Einnahme wird mehreren Wohltätigkeitsorganisationen zufließen, die im Testament namentlich genannt sind.«

»Die Sammlung soll verkauft werden? Wie steht denn seine Familie dazu?«

»Meine Kanzlei hat die Familie DeHaven über viele Jahrzehnte hinweg vertreten«, antwortete der Anwalt. »Er hat keine lebenden Verwandten. Ich kann mich erinnern, dass ein pensionierter Geschäftspartner der Familie erwähnt hat, er wäre vor Jahren mal verheiratet gewesen, aber nicht lange.« Der Anwalt schwieg und forschte in seinem Gedächtnis. »Die Ehe wurde geschieden, wenn ich mich recht entsinne. Das war allerdings schon, bevor ich die Kanzlei übernommen habe. Jedenfalls gibt es keine Kinder, sodass niemand Ansprüche erheben kann. Als Honorar für Ihre Mühe erhalten Sie vom Gesamterlös der Sammlung einen gewissen Prozentsatz als Provision.«

»Dabei könnte ein erkleckliches Sümmchen herauskommen«, meinte Philips.

»Selbstverständlich erledige ich die Angelegenheit honorarfrei«, beteuerte Caleb eilends.

Der Anwalt lachte. »Ich tue mal so, als hätte ich nichts gehört. Es könnte weit mehr Arbeitsaufwand damit verbunden sein, als Sie glauben. Nehmen Sie den Auftrag an?«

Caleb zögerte. »Ja«, sagte er dann, »ich mach’s. Für Jonathan.«

»Gut. Dann unterschreiben Sie bitte die Einverständniserklärung, und quittieren Sie den Erhalt der Schlüssel und Codes.« Der Anwalt schob Caleb ein einseitiges Dokument zu, das zu unterzeichnen ihm ohne Brille gelinde Schwierigkeiten verursachte. »Die Sammlung wartet auf Sie«, sagte der Anwalt zum Abschluss.

Caleb kehrte an seinen Schreibtisch im Lesesaal zurück und besah sich die Schlüssel. Ein paar Minuten später hatte er eine Entscheidung getroffen. Er rief Milton, Reuben und Stone an und sagte ihnen, er wolle Jonathans Haus nicht allein aufsuchen. Alle willigten ein, ihn an diesem Abend zu begleiten. 

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