KAPITEL I 6
In Newark war es kalt und regnerisch, als das Flugzeug landete. Annabelle hatte jetzt braunes Haar und kirschrote Lippen; sie trug eine elegante Brille, modische Kleidung und Schuhe mit Plateauabsätzen. Ihre drei Begleiter hatten Zweiteiler ohne Schlips an. Sie verließen den Flugplatz getrennt. Dann fuhren sie nach Süden und trafen sich in einer Hotelsuite in Atlantic City.
Nach so vielen Jahren wieder in dieser Stadt zu sein rief bei Annabelle innere Anspannung hervor. Das letzte Mal war sie dem Tod nur haarscharf entgangen. Aber gerade diese Anspannung konnte sie dieses Mal wirklich das Leben kosten. Egal was geschah – sie musste sich auf ihre Nerven verlassen können. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie sich auf dieses Projekt vorbereitet. Sie hatte nicht die Absicht, all den Aufwand und ihr Leben zu verschleudern.
In der vergangenen Woche hatte sie das mit den falschen Schecks erbeutete Geld von den Firmenkonten abgezogen und die Summe mitsamt der Beute aus den Geldautomaten auf ein Konto in Übersee überwiesen, für das die US-Bankvorschriften keinerlei Belang hatten. Bei 3 Millionen Dollar Startkapital brannten die Männer jetzt darauf, Annabelles Plan für »das ganz große Ding« zu erfahren.
Aber noch war sie nicht bereit, mit ihren Absichten herauszurücken. Den ersten Tag in Atlantic City verbrachte sie zum größten Teil mit Spaziergängen durch die Stadt, Stippvisiten in Spielkasinos und Gesprächen mit Namenlosen. Die Männer vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen und Tratschen. Leo und Freddy erzählten Tony von ihren früheren Abzockereien – Geschichten, die dermaßen ausgeschmückt und geschönt waren, wie es nur bei alten Erinnerungen der Fall sein konnte.
Schließlich rief Annabelle ihre Truppe zusammen.
»Mein Plan sieht vor«, erklärte sie den Männern, »aus unseren drei Millionen binnen kurzer Zeit sehr viel mehr zu machen.«
»Ich mag deinen Arbeitsstil, Annabelle«, sagte Leo.
»Genauer gesagt, aus unseren 3 Millionen sollen mindestens 33 Millionen werden. Ich kassiere dreizehneinhalb, den Rest teilt ihr euch durch drei. Das wären sechseinhalb Millionen pro Nase. Hat irgendwer ein Problem damit?«
Eine volle Minute lang saßen die Männer entgeistert da. Endlich gab Leo eine ironische Antwort für alle. »Ja, allerdings. Das Problem ist, dass wir es kaum verkraften können.«
Zur Warnung hob Annabelle eine Hand. »Falls der Plan schiefgeht, können wir vom Startgeld einiges verlieren, aber nicht alles. Ist jeder mit dieser Idee grundsätzlich einverstanden? Ihr müsst euch darüber klar sein, dass die Summe, um die es hier geht, natürlich nicht ohne ein gewisses Risiko abgezockt werden kann.«
»Mit anderen Worten – derjenige, den wir abzocken, wird uns bis in alle Ewigkeit auf den Fersen sein«, sagte Leo und steckte sich eine Zigarette an. »Okay. Jetzt ist es wohl an der Zeit, dass du uns verrätst, wer es ist.«
Annabelle lehnte sich zurück und schob die Hände in die Taschen. Sie nahm den Blick nicht von Leos Gesicht.
»Ist es sooo schlimm?«, fragte er nervös.
»Wir knöpfen uns Jerry Bagger und das Kasino Pompeji vor«, teilte Annabelle den Männern mit.
»Ach du Scheiße!«, rief Leo, wobei ihm die Zigarette aus dem Mund fiel. Sie brannte ihm ein Loch ins Hosenbein. Wütend rieb er an dem Brandfleck und deutete mit zitterndem Finger auf Annabelle. »Ich wusste es! Ich hab gleich geahnt, dass du solch einen Mist abziehen willst!«
Tony sah beide der Reihe nach an. »Wer ist Jerry Bagger?«
»Der übelste Dreckskerl der Welt«, stieß Leo hervor. »Du solltest hoffen, ihm nie über den Weg zu laufen, Jungchen.«
»Wenn du Tony weiter so scharfmachst«, scherzte Annabelle, »will er die Nummer noch allein durchziehen.«
»Mit Jerry Bagger lege ich mich nicht für 3 Millionen, nicht für 33 Millionen und nicht für 333 Millionen an, weil ich sowieso nicht überlebe und deshalb nichts von der Knete habe.«
»Aber du bist mit uns gekommen, Leo. Und wie du eben schon sagtest – du hast gewusst, dass ich’s auf ihn abgesehen habe.« Annabelle stand auf, kam um den Tisch herum und legte Leo den Arm um die Schultern. »Und wenn wir schon bei der Wahrheit sind, dann ist es doch so, dass du seit zwanzig Jahren auf eine Gelegenheit lauerst, es dem Drecksack zu zeigen. Gib’s zu.«
Auf einmal wirkte Leo verlegen, zündete sich eine weitere Winston an und blies den Rauch zur Zimmerdecke. »Jeder, der schon mal mit Bagger zu tun hatte, will diesen Mistkerl zur Hölle schicken. Na und?«
»Ich will ihn nicht umbringen, Leo, ich möchte ihm so viel Geld wegnehmen, dass es ihm richtig weh tut. Du könntest seine Familie umbringen – er würde längst nicht so jammern, als wenn jemand den Zaster abgreift, den er von den armen Trotteln einsackt, die jeden Tag durch seinen Spielsalon latschen.«
»Klingt cool«, meinte Tony, während Freddy noch unsicher wirkte.
Wütend sah Leo den jungen Mann an. »Cool? Du hältst das für cool? Ich will dir mal was sagen, du Grünschnabel. Wenn du bei Jerry Bagger einen solchen Flop landest wie in der Bank, bleibt von dir nicht genug übrig, um es deiner Mama in einem Briefumschlag zur Bestattung zu schicken.« Leo wandte sich um und wies erneut mit dem Finger auf Annabelle. »Lass mich eins klarstellen. Ich lege mich nicht mit Jerry Bagger an. Und ich lege mich erst recht nicht mit dem Kerl an, wenn so eine Lusche wie der Kleine dabei ist.«
»Okay, okay, Mann, ich hab einen Fehler gemacht!«, erregte sich Tony. »Ist dir das noch nie passiert?«
Leo gab ihm keine Antwort, starrte stattdessen Annabelle an.
»Tonys Mitwirkung beschränkt sich auf das, was er am besten kann«, sagte Annabelle. »Er bekommt es nie mit Jerry persönlich zu tun.« Sie sah Freddy an. »Und Freddy bleibt sowieso im Hintergrund. Er muss nur ein paar erstklassige Papiere fabrizieren. Der Erfolg des Unternehmens hängt von dir und mir ab, Leo. Falls du nicht der Meinung bist, wir beide wären nicht gut genug, sehe ich keinen stichhaltigen Einwand.«
»Man kennt uns, Annabelle. Wir sind da schon gewesen.«
Wieder umrundete Annabelle den Tisch, öffnete eine Sammelmappe und hielt zwei Hochglanzfotos eines Mannes und einer Frau hoch.
»Wer ist das?«, fragte Freddy.
»Annabelle und ich«, antwortete Leo mürrisch, während er die Bilder betrachtete. »Vor langer Zeit. In Atlantic City«, äffte er sie nach.
»Woher hast du die Aufnahmen?«, fragte Tony.
»Jedes Kasino hat ein so genanntes Schwarzbuch – eine Porträtsammlung von Leuten, die versucht haben, eine krumme Tour abzuziehen«, erläuterte Annabelle. »Diese Informationen werden mit anderen Spielhöllen ausgetauscht. Du hast nie versucht, ein Kasino zu bescheißen, Tony, und ebenso wenig Freddy – was einer der Gründe ist, warum ich euch ausgeguckt habe. An die Fotos bin ich herangekommen, weil ich hier in der Stadt noch ein paar Kontakte habe. Erwischt und fotografiert hat man uns nie. Diese Bilder sind nach Personenbeschreibungen aus Standardkomponenten zusammengefügt worden. Hätten sie echte Fotos, wäre ich jetzt wohl nicht hier.«
»Aber so seht ihr überhaupt nicht mehr aus!«, sagte Tony und fügte spöttisch hinzu: »Tolle Informationen.«
Annabelle entnahm der Sammelmappe zwei weitere Hochglanzfotos. Diese Bilder hatten mehr Ähnlichkeit mit ihr und Leo. »Wie die Polizei es bei verschwundenen Kindern macht, beschäftigen die Kasinos Experten, die es verstehen, Fotos digital zu altern, wobei der normale Alterungsprozess zugrunde gelegt wird. Diese aktualisierten Bilder kommen dann ins Schwarzbuch und werden überdies dem elektronischen Überwachungssystem eingespeist, das mit Gesichtserkennungssoftware arbeitet. Darum werden wir ganz anders aussehen, wenn wir Jerry Bagger ausnehmen.«
»Ich leg mich nicht mit Jerry an«, knurrte Leo.
»Komm schon, Leo«, meinte Tony. »Das wird ein Heidenspaß.«
»Bring mich nicht auf die Palme, Junge!«, fuhr Leo ihn an. »Ich hab dich so schon gefressen!«
»Lass uns einen Spaziergang machen, Leo«, schlug Annabelle vor. Sie hob die Hand, als Tony und Freddy aufstanden, um sich ihnen anzuschließen. »Ihr bleibt«, sagte sie. »Wir sind bald zurück.«
Draußen löste sich gerade die Sonne aus einem Streifen düsterer Wolken. Annabelle zog die Kapuze über und setzte die Sonnenbrille auf. Leo zog sich die Baseballkappe tief in die Stirn und setzte gleichfalls eine Sonnenbrille auf.
Sie schlenderten auf die Anlegebrücke, die zwischen den Kasinos an der Uferstraße über den Strand führte, wobei sie an Paaren vorüberkamen, die auf Bänken saßen und aufs Meer blickten.
»Seit wir das letzte Mal hier waren, ist eine Menge gebaut worden«, stellte Annabelle fest. Die Kasinos hatten sich Ende der Siebzigerjahre rücksichtslos in der Stadt breitgemacht. Mitten in der Niedergangsphase des Seebads hatte man unversehens Milliarden Dollar teure Spielhallen aus dem Boden gestampft. Während etlicher Jahre danach hatte kaum jemand sich weit von den Kasinos zu entfernen getraut, weil die umliegenden Stadtviertel als unsicher galten. Seitdem hatten die Verantwortlichen des Öfteren eine allgemeine Sanierung versprochen. Und weil die Kasinos zahlreiche Arbeitsplätze schufen und viel Geld streuten, sah es so aus, als würden die Versprechen endlich eingelöst.
Annabelle und Leo blieben stehen und beobachteten, wie ein riesiger Kran Stahlträger auf einen Rohbau schwenkte, dessen Baustellenschild die Errichtung von Luxusapartments ankündigte. Wohin man auch schaute, überall wuchsen neue Gebäude empor oder wurden Modernisierungen vorgenommen.
Leo stapfte zum Strand. Er zog Schuhe und Socken aus, während Annabelle sich der Treter entledigte und die Hosenbeine hochkrempelte. Nah am Wasser wanderten sie am Strand entlang. Nach einer Weile verharrte Leo, bückte sich, nahm eine Muschel und schleuderte sie einer anrollenden Welle entgegen.
»Bist du jetzt bereit, darüber zu reden?«, fragte Annabelle, die ihn aufmerksam im Auge behielt.
»Warum tust du das?«
»Was? Abzocken? Weil ich’s schon mein Leben lang tue. Du solltest es besser als jeder andere verstehen, Leo.«
»Nein, ich meine, warum ziehst du ausgerechnet mich, Freddy und diesen Schnösel da rein? Für diese Sache hättest du so gut wie jeden kriegen können.«
»Ich wollte nicht irgendwen. Wir kennen uns schon lange, Leo. Und ich dachte, du wünschst dir eine zweite Gelegenheit, es Jerry zu zeigen. Oder liege ich da falsch?«
Leo warf noch eine Muschel in die Brandung. »So verläuft mein gesamtes Leben, Annabelle. Ich werfe den Wogen Muscheln entgegen, und sie rollen und rollen.«
»Komm mir bloß nicht mit philosophischem Schnickschnack.«
Leo musterte sie von der Seite. »Ist es wegen deines Alten?«
»Und du brauchst auch nicht meinen Seelenklempner zu spielen.« Annabelle ging ein wenig auf Abstand, verschränkte die Arme auf der Brust und blickte aufs Meer hinaus, wo am Horizont ein Schiff langsam seinem Kurs nach Irgendwo folgte. »Mit 13 Millionen könnte ich mir eine Jacht kaufen, die groß genug ist, um den Ozean zu überqueren, oder?«, fragte sie.
Leo hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Ich hatte nie einen Grund, mich nach den Preisen für Hochseejachten zu erkundigen.« Er betrachtete seine nackten Füße; zwischen den Zehen rieselte Sand durch. »Annabelle, du konntest immer viel besser mit Geld umgehen als ich. Ich weiß, dass du nach all den Abzocken, die du schon durchgezogen hast, das Geld gar nicht mehr brauchst.«
»Wer hat schon Geld genug?«, entgegnete Annabelle, die dem Schiff nachschaute.
Nochmals hob Leo eine Muschel auf und warf sie ins Meer. »Du bist auf diesen Coup versessen, stimmt’s?«
»Gar nicht mal so sehr. Aber der Teil von mir, auf den ich höre, sagt mir, dass ich die Sache anpacken muss.«
»Und dein Verstand sagt gar nichts?«
»Überhaupt nichts.«
»Ich wage nicht daran zu denken, was aus uns wird, falls wir einen Fehler machen.«
»Dann sorg dafür, dass es nicht dazu kommt.«
»Hast du eigentlich keine Nerven?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Nun nahm Annabelle eine Muschel und schleuderte sie einer rauschenden Woge entgegen, die gleich darauf ihre Füße bis über die Knöchel umspülte. »Sind wir gut?«
Leo nickte bedächtig. »Ja, wir sind gut.«
»Du schießt also nicht mehr quer?«
Er rang sich ein Lächeln ab. »So was kann man keiner Frau versprechen.« Sie traten den Rückweg zum Hotel an. »Ich habe lange nichts von deiner Mutter gehört«, sagte Leo unterwegs. »Wie geht’s Tammy?« »Nicht allzu gut.« »Lebt dein Alter eigentlich noch?« »Ich bin doch wohl die Letzte, die so was weiß, oder?«, erwiderte Annabelle.