KAPITEL 43
Als ein Mann den Lesesaal betrat, stand Caleb auf und begrüßte ihn. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Roger Seagraves zeigte Caleb seinen Bibliotheksausweis, den jeder Bürger gegenüber im Madison Building gegen Vorlage eines Passes oder Führerscheins erhalten konnte, ob echt oder falsch. Der Name auf dem Bibliotheksausweis lautete William Foxworth, und das Foto auf der Karte zeigte ihren Inhaber. Diese Daten waren auch im Computersystem der Kongressbibliothek gespeichert.
Seagraves’ Blick schweifte über die Lesetische, an denen ein paar Leute saßen. »Ich suche ein bestimmtes Buch.« Er nannte Caleb Autor und Titel.
»Gut. Haben Sie ein besonderes Interesse an diesem Gebiet?«
»Ich habe viele Interessen«, antwortete Seagraves. »Dieses Gebiet deckt nur eine meiner Neigungen ab.« Einen Moment lang musterte er Caleb, als überlegte er, was er sagen sollte. Tatsächlich jedoch hatte er seinen Auftritt sorgsam geplant und sich gründlich über Caleb informiert. »Ich sammle auch Bücher, stehe aber noch am Anfang. Kürzlich habe ich einige Werke der englischen Literatur erworben, die ich gern von einem Experten begutachten lassen möchte. Ich glaube, das hätte ich tun sollen, bevor ich sie gekauft habe, aber wie erwähnt, leider bin ich noch Anfänger. Vor einer Weile bin ich zu etwas Geld gekommen, und mein Bruder hat jahrelang in einer Bibliothek gearbeitet. Interesse an Büchern habe ich schon immer gehabt, aber jetzt merke ich, dass ernsthaftes Sammeln ein ganz anderes Kapitel ist.«
»Vollkommen richtig«, bestätigte Caleb. »Und es kann reichlich mühevoll sein. Aber es lohnt sich.« Diese Beteuerung hatte er hastig hinzugefügt. »Zufällig bin ich Fachmann für die englische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.«
»Das ist ja toll«, sagte Seagraves. »Anscheinend ist heute mein Glückstag.«
»Was für Bücher sind es, Mr. Foxworth?«
»Bitte nennen Sie mich Bill. Eine Erstausgabe Defoes.«
»Robinson Crusoe? Oder Moll Flanders?«
»Moll Flanders«, sagte Seagraves.
»Ausgezeichnet. Was noch?«
»Goldsmiths The Life of Richard Nash. Und einen Horace Walpole.«
»Das Schloss von Otranto aus dem Jahre 1765?«
»Ganz genau. Das Exemplar ist sogar in einigermaßen gutem Zustand.«
»Solche Erstausgaben sieht man eher selten. Ich will für Sie gern einen Blick darauf werfen. Wie Sie sich denken können, weichen die verschiedenen Ausgaben auf manche Weise voneinander ab. Und bisweilen kaufen Leute Exemplare, die sie für Erstausgaben halten, die aber in Wirklichkeit etwas völlig anderes sind. Selbst bei den besseren Händlern kann man gelegentlich reinfallen. Natürlich ohne dass dahinter …«, auch diese Ergänzung machte er eilends, »… irgendeine Absicht stünde.«
»Ich könnte die Bände das nächste Mal mitbringen.«
»Das wäre keine so gute Idee, Bill, denn ohne vorherige Arrangements wäre es schwierig, sie durch den Sicherheitsdienst wieder nach draußen zu bringen, weil man Sie verdächtigen könnte, sie entwendet zu haben. Sie möchten doch sicherlich ungern festgenommen werden.«
Seagraves wurde blass. »Oje, daran habe ich gar nicht gedacht. Meine Güte, die Polizei! Mein Lebtag hab ich noch nicht mal ein Knöllchen gekriegt.«
»Beruhigen Sie sich, noch ist ja nichts passiert«, sagte Caleb leicht herablassend. »Die Welt der antiquarischen Bücher ist … wie soll ich es ausdrücken … manchmal ein bisschen abenteuerlich. Aber wenn Sie ernsthaft beabsichtigen, Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zu sammeln, müssen Sie sicherstellen, dass Sie eine repräsentative Auswahl zusammentragen. Autoren, die mir da spontan in den Sinn kommen, sind Jonathan Swift und Alexander Pope. Sie gelten als die literarischen Meister der ersten Jahrhunderthälfte. Henry Fieldings Tom Jones gehört natürlich dazu, auch David Hume, ein Tobias Smollet, Edward Gibbon, Fanny Burney, Ann Radcliffe und Edmund Burke. Es ist kein billiges Hobby.«
»Das sehe ich langsam auch«, meinte Seagraves kummervoll.
»Was anderes als Kronkorkensammeln, nicht wahr?« Caleb lachte über seinen kleinen Scherz. »Ach, und auf keinen Fall dürfen Sie den Großmeister der damaligen Ära vergessen, den literarischen Leuchtturm der zweiten Jahrhunderthälfte, Mr. Samuel Johnson. Diese Aufzählung ist längst nicht vollständig, aber man kann damit einen guten Einstieg hinkriegen.«
»Offenbar kennen Sie sich mit der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts bestens aus.«
»Das sollte man wohl von mir erwarten dürfen, schließlich habe ich das Fach studiert. Was die Beurteilung Ihrer Bücher angeht: Wir können uns zu diesem Zweck irgendwo treffen. Rufen Sie mich einfach an.« Caleb langte in die Tasche und reichte Seagraves eine Visitenkarte mit seiner Dienstrufnummer. Dann klopfte er Seagraves wohlwollend auf den Rücken. »Und nun hole ich Ihnen das Buch.«
Kurz darauf legte Caleb ihm das Buch vor. »So. Viel Vergnügen.«
Seagraves sah Caleb an und lächelte. Oh, ich werde ganz bestimmt mein Vergnügen haben, Mr. Shaw. Ganz bestimmt.
Caleb verabredete sich mit Reuben, und nach Calebs Feierabend fuhren sie zu DeHavens Haus. Sie suchten zwei Stunden lang. Für sämtliche anderen Bücher der Sammlung fanden sie im Schreibtisch Rechnungen und Quittungen, aber keinen Beweis dafür, dass der ermordete Bibliothekar das Psalm Book rechtmäßig erworben hätte.
Anschließend fuhr Caleb mit dem Aufzug hinunter zum Panzergewölbe. Er musste überprüfen, ob das dort vorhandene Exemplar möglicherweise den Geheimcode der Kongressbibliothek aufwies. Falls es so war, konnte es keinen Zweifel daran geben, dass Jonathan den Band gestohlen hatte.
Doch Caleb brachte es nicht übers Herz, das Panzergewölbe zu betreten. Wenn er den Code nun wirklich entdeckte? Diese Aussicht überforderte ihn. So tat Caleb, was er von Natur aus immer tat, wenn er unter Druck geriet: Er zog sich zurück. Das Exemplar, tröstete er sich, musste einfach sauberer Herkunft sein.
»Ich begreife diese Unklarheiten nicht«, sagte Caleb zu Reuben. »Jonathan war doch ein ehrlicher Mensch.«
Reuben hob die Schultern. »Gewiss, aber du hast ja selbst erwähnt, dass diese Sammelei zur Manie werden kann. Und so ein Buch könnte ihn dazu verleitet haben, ausnahmsweise ein krummes Ding zu drehen. Das würde erklären, wieso er es geheim gehalten hat.«
»Aber es musste doch irgendwann auffliegen«, sagte Caleb. »Er war ja nicht unsterblich.«
»Offensichtlich hat er mit seinem plötzlichen Ableben nicht gerechnet. Vielleicht hatte er irgendwelche Pläne mit dem Buch, fand aber keine Gelegenheit mehr, sie durchzuführen.«
»Wie soll ich ein Buch versteigern lassen, für das er keinen Nachweis rechtmäßiger Eigentümerschaft hinterlassen hat?«
»Caleb, ich weiß, er war dein Freund«, sagte Reuben halblaut, »aber irgendwann muss die Wahrheit wohl ans Licht kommen.«
»Es wird einen Skandal geben.«
»Ich sehe keine Möglichkeit, wie sich das vermeiden ließe. Achte einfach darauf, dass du nicht auch in den Abgrund gerissen wirst.«
»Wahrscheinlich hast du recht, Reuben. Vielen Dank für deine Hilfe. Bleibst du hier?«
Reuben schaute auf die Armbanduhr. »Es ist noch ein bisschen zu früh. Ich halte es für besser, wir gehen zusammen, und ich schleiche mich dann später wieder ins Haus. Wenigstens konnte ich am Nachmittag ein bisschen schlafen.«
Gemeinsam verließen die beiden Männer das Haus. Drei Stunden später, kurz vor dreiundzwanzig Uhr, kehrte Reuben durch die Hintertür ins Haus zurück. Er aß in der Küche eine Kleinigkeit; dann stieg er erneut auf den Dachboden.
Von dort aus hatte er nicht nur Einblick in Cornelius Behans »Erotikzimmer«, sondern durch ein anderes bogenförmiges Bleiglasfenster auch Ausblick auf die Good Fellow Street. Reuben beobachtete abwechselnd Behans Villa durch das Fernrohr und das Haus gegenüber durch ein eigens mitgebrachtes Fernglas.
Als gegen ein Uhr morgens vor Behans Haus ein Auto vorfuhr, schenkte Reuben ihm seine volle Aufmerksamkeit. Dem grünen Cadillac SUV entstiegen Behan, eine junge Frau in langem Ledermantel und zwei Leibwächter. Alle gingen ins Haus. Seine Gattin musste fort sein, folgerte Reuben, als er sich am Fernrohr positionierte, um das weitere Geschehen im Auge zu behalten.
Lange musste er nicht warten. Im Schlafzimmer wurde die Beleuchtung eingeschaltet, und herein kamen der Rüstungsindustrielle und seine Schöne der Nacht.
Behan setzte sich in einen Sessel und klatschte in die Hände, und die junge Dame nahm unverzüglich Aktivitäten auf. Knopf um Knopf öffnete sie den Ledermantel. Als sie ihn auseinanderbreitete, entfuhr Reuben ein Aufkeuchen, obwohl er geahnt hatte, was kam. Durchs Fernrohr sah er beinlange Netzstrümpfe, einen Spitzen-BH und ein bloß aus ein paar Streifen Stoff bestehendes Höschen. Ruben gab einen lang gezogenen Seufzer der Begeisterung von sich.
Einen Moment später gewahrte er durch das Fenster zur Straße ein rotes Aufleuchten. Er blickte hinüber. In dem Glauben, das Bremslicht eines vorbeifahrenden Autos hätte ihn abgelenkt, zuckte er mit den Schultern und spähte wieder durchs Fernrohr. Inzwischen hatte die junge Frau den BH auf den Fußboden geworfen und streifte langsam die Strümpfe von den langen Beinen, während ihr chirurgisch vergrößerter Busen auf den flachen Leib baumelte.
Was braucht es Natur, wenn es Silikon gibt, dachte Reuben und seufzte noch einmal bewundernd. Leuchtend roter Glanz erregte seine Aufmerksamkeit, sodass er den Blick erneut auf das andere Bleiglasfenster richtete. Das konnte kein Bremslicht sein. Er eilte zum Fenster, erhielt wieder Ausblick auf das Haus gegenüber und schnappte nach Luft: Die ganze verdammte Bude stand in Flammen! Angespannt lauschte Reuben. Hört er Sirenen? Hatte jemand schon die Feuerwehr alarmiert?
Ihm blieben Antworten auf diese Fragen verwehrt. Hinterrücks traf ihn ein Hieb, und er brach zusammen. An Reubens ausgestreckter Gestalt vorbei schlich Roger Seagraves zu dem Bleiglasfenster, durch das er sogar ohne Fernrohr erkennen konnte, dass die junge Dame sich mittlerweile vollends entkleidet hatte und sich mit schelmischem Lächeln langsam vor den zweifellos überglücklichen Cornelius Behan kniete.
Sein Glück sollte nicht lange währen.
Als Reuben die Besinnung wiedererlangte, wusste er zuerst nicht, wo er sich befand. Langsam setzte er sich auf und wartete, bis er die Umgebung wiedererkannte. Er befand sich noch auf dem Dachboden. Auf wackeligen Beinen erhob er sich. Dann fiel ihm ein, was sich zugetragen hatte. Er schnappte sich ein altes Brett, um eine Waffe zu haben, während er sich auf dem Dachboden umschaute. Aber außer ihm war niemand mehr da; er war völlig allein. Doch ohne jeden Zweifel hatte irgendwer ihm einen hinlänglich kräftigen Schlag auf den Kopf versetzt, um ihm das Bewusstsein zu rauben.
Er hörte Lärm auf der Straße und schaute zum Fenster hinaus. Unten standen Feuerwehrfahrzeuge aufgereiht, deren Mannschaften den Brand löschten. Außerdem sah Reuben mehrere Polizeiautos auf und ab fahren.
Er rieb sich den Hinterkopf und blickte hinüber zu Behans Villa. Die komplette Beleuchtung war eingeschaltet. Als er Polizisten ins Gebäude gehen sah, wurde Reuben flau in der Magengegend. Er wankte durch den Dachboden und spähte durchs Fernrohr. Im Schlafzimmer war noch Licht, doch inzwischen herrschte dort eine ganz andere Art der Geschäftigkeit.
Cornelius Behan, noch vollständig bekleidet, lag mit dem Gesicht auf dem Fußboden. In seinem Hinterkopf klaffte ein Loch, und Blut hatte sein Haar noch roter als zuvor gefärbt. Die junge Frau saß mit dem Rücken ans Bett gelehnt. Reuben sah karmesinrote Spritzer in ihrem Gesicht und auf dem Busen. Offenbar hatte auch sie einen Kopfschuss erhalten. Es wimmelte von uniformierten Polizisten und Beamten in Zivil.
Mein Güte, wie lange bin ich ohnmächtig gewesen?, fragte sich Reuben. Doch was er als Nächstes sah, trieb ihm jeden anderen Gedanken aus.
Das Schlafzimmer-Oberlicht hatte zwei Einschusslöcher; und das Bleiglasfenster, durch das Reuben blickte, wies zwei genau passende Durchschüsse auf. »Ach du Scheiße«, rief Reuben und rannte zur Tür, stolperte und stürzte. Als er um sich griff, um sich abzufangen, bekam seine Faust etwas zu fassen. Und als er sich aufrichtete, hielt er ein Gewehr in der Hand – offenbar die Waffe, die soeben benutzt worden war, um zwei Menschen ins Jenseits zu befördern.
Sofort ließ Reuben das Gewehr fallen und stürmte die Stiege hinunter, indem er jeweils zwei Stufen auf einmal hinabsprang. Als er durch die Küche rannte und dort seine Essensreste stehen sah, begriff er, dass überall im Haus seine Fingerabdrücke zu finden waren, doch deswegen durfte er sich jetzt nicht den Kopf zermartern. Er eilte zur Hintertür hinaus.
Ein Lichtkegel traf ihn mitten ins Gesicht, und er riss die Hand hoch, um die Augen zu schützen.
»Stehen bleiben!«, schnauzte eine Stimme ihn an. »Polizei!«