KAPITEL 5
Pünktlich um sechs Uhr dreißig an einem klaren, kühlen Morgen in Washington, D. C., öffnete sich die Vordertür von Jonathan DeHavens dreistöckigem Wohnhaus, und er trat in grauem Tweedjackett, hellblauem Schlips und schwarzer Hose heraus. DeHaven, ein großer, hagerer Mann Mitte fünfzig mit einem sorgsam gekämmten Schopf silbergrauen Haars, atmete tief die erfrischende Morgenluft und betrachtete einige Augenblicke lang die prachtvollen alten Herrenhäuser, die sich an der Straße reihten.
DeHaven war bei weitem nicht der wohlhabendste Bewohner dieser Gegend, wo eine Villa Abermillionen Dollar kostete. Er hatte das Haus von seinen Eltern geerbt, die zahlungskräftig genug gewesen waren, um sich schon früh in die heute begehrteste Sammlung von Immobilien in ganz D.C. einzukaufen. Ein Großteil ihres Vermögens war wohltätigen Zwecken zugeflossen, doch dem einzigen Kind der DeHavens war mehr als genug geblieben, um seine Beamtenbezüge aufzustocken und sich bestimmte Hobbys leisten zu können.
Während seine Herkunft es DeHaven erlaubte, sein Leben zu führen, ohne auf jede erdenkliche Weise Geld verdienen zu müssen, galt das keineswegs für sämtliche Bewohner der Good Fellow Street. In der Tat war einer seiner Nachbarn sogar ein Großhändler des Todes – die politisch korrekte Bezeichnung, vermutete DeHaven, lautete »Rüstungslieferant«.
Dieser Mann, ein gewisser Cornelius Behan, der sich gern C.B. nennen ließ, bewohnte einen palastähnlichen Gebäudekomplex, der zwei Original-Herrenhäuser mit einer Riesenvilla von viertausend Quadratmetern verband. DeHaven hatte Gerüchte gehört, nach denen so etwas in diesem historischen, streng denkmalgeschützten Viertel nur durch Bestechung möglich sein sollte. Das ganze Konglomerat verfügte nicht nur über einen Aufzug für vier Personen, sondern auch über Personalunterkünfte, in denen tatsächlich Bedienstete lebten.
Zudem schleppte Behan zu den unmöglichsten Tageszeiten eine Auswahl atemberaubend schöner Frauen in seinen Palast, hatte jedoch immerhin so viel Anstand, damit zu warten, bis seine Angetraute außerhalb der Stadt weilte, was meistens eine Einkaufstour nach Europa bedeutete. DeHaven vermutete, dass Behans Ehefrau eigene erotische Abenteuer suchte, während sie sich auf der anderen Seite des Atlantiks befand. Er stellte sich die elegante, attraktive Dame vor, wie ihr junger französischer Liebhaber sie auf einem übergroßen Louis-XVI.-Esstisch bestieg, während im Hintergrund Ravels Bolero erklang. Es sei dir gegönnt, dachte DeHaven.
Er verdrängte die Sündhaftigkeit seiner Nachbarn aus dem Bewusstsein und trat mit lebhaft-federnden Schritten den Weg zur Arbeit an. Jonathan DeHaven war der überaus stolze Abteilungsleiter der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek, der angeblich – angeblich, weil nicht unbestritten – weltweit besten Sammlung seltener Bücher. Doch mochten Franzosen, Italiener und Briten noch so sehr dagegen argumentieren, DeHaven hegte seit eh und je von vornherein die Überzeugung, dass allein die amerikanische bibliothekarische Raritätenabteilung die beste der Welt sein konnte.
In gleichmäßigem, wohl bemessenem Gehtempo, das er von seiner Mutter übernommen hatte, schlenderte er einen halben Kilometer weit über die gepflasterten Gehwege. Seine Mutter hatte jeden Schritt ihres langen Lebens genau abgezirkelt. An ihrem Todestag war DeHaven nicht ganz sicher gewesen, ob seine weithin als herrisch bekannte Mama nicht die Beisetzung stornieren, stattdessen sofort zur Himmelspforte auffahren und energisch Einlass fordern würde, um das Kommando zu übernehmen.
An einer Straßenecke stieg er in einen überfüllten städtischen Bus und teilte sich die Sitzbank mit einem jungen Mann, dessen Kleidung Trockenmauerstaub bedeckte und der einen verbeulten Eiskühler zwischen den Füßen stehen hatte. Fünfundzwanzig Minuten später stieg DeHaven an einer belebten Kreuzung aus dem Bus.
Er überquerte die Straße und betrat ein kleines Café, in dem er seine Tasse Morgentee trank, ein Croissant verzehrte und die New York Times las. Wie gewohnt gab es nur zutiefst deprimierende Schlagzeilen. Kriege, Wirbelstürme, eine mögliche Grippe-Pandemie, Terrorismus – eigentlich reichte das, um sich zu Hause zu verkriechen und die Türen zu verrammeln. Ein Bericht befasste sich mit Ermittlungen wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten im militärisch-industriellen Komplex. Von Bestechung und Korruption unter Politikern und Rüstungsproduzenten war die Rede. Nein, wie schockierend. Dabei hatte ein Skandal – bei dem es um Geld gegen Einfluss ging – schon den früheren Sprecher des Abgeordnetenhauses den Posten gekostet. Und dann war sein Nachfolger Robert Bradley vor dem Federalist Club brutal ermordet worden. Das Verbrechen war noch nicht aufgeklärt worden, obwohl eine bis dahin unbekannte heimische Terroristengruppe, die sich »Amerikaner kontra 1984« nannte – ein Bezug auf Orwells Meisterwerk über den Faschismus –, die Verantwortung für die Tat übernommen hatte. Den Medien zufolge kamen die Ermittlungen der Polizei schleppend voran.
Gelegentlich schaute DeHaven durchs Café-Fenster ins Freie und sah Regierungsmitarbeiter zielstrebigen Schritts durch die Straße eilen, allzeit bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, oder wenigstens mit ein, zwei vertrottelten Senatoren. Hier ist man in einer wirklich äußerst ungewöhnlichen Umgebung, dachte DeHaven. Da stapften heroische Kreuzzügler und schlichen schmierlappige Profitmacher durcheinander, vermischten sich mit allen Arten von Idioten und Intellektuellen, von denen die Ersteren leider stets die höheren Machtpositionen innehatten. Dies war die einzige Stadt in den Vereinigten Staaten, wo man den Krieg erklären, die Bundeseinkommenssteuer erhöhen und die Sozialleistungen kürzen konnte. Die Entscheidungen, die man auf diesen wenigen Quadratkilometern der Denkmäler und Gedankenlosigkeit fällte, machten Legionen von Menschen entweder wütend oder froh und ließen sie die Seiten wechseln, je nachdem, wer gerade die Regierungsgewalt ausübte. All die Querelen, Intrigen und Komplotte, die man ertrug und austrug, um Macht zu erringen oder Macht zu behalten, beanspruchten sämtliche Kräfte, die überaus schlaue und talentierte Menschen aufbieten konnten. Das wirbelnde, sich immerzu verändernde Mosaik hatte zu viele sich in wilder Hektik bewegende Teile, als dass ein Außenstehender auch nur im Ansatz hätte nachvollziehen können, was tatsächlich geschah. Es ähnelte einem mörderischen Kindergarten ohne Feierabend.
Ein paar Minuten später erklomm DeHaven die breite Freitreppe des Jefferson Building, das unter seinem kolossalen Kuppeldach die Kongressbibliothek barg. Er ließ sich vom Wachdienst die Schlüssel aushändigen, quittierte sie, begab sich in den ersten Stock und rasch zu Raum LJ 239. Dahinter befanden sich der Lesesaal der Raritätenabteilung und die wabenartige Anlage der Tresore, in denen man viele papierene Schätze der Nation sicher aufbewahrte. Zu diesen bibliophilen Reichtümern zählte eine original Druckfassung der Unabhängigkeitserklärung, an der die Gründungsväter auf dem Marsch zur Befreiung vom britischen Joch in Philadelphia getüftelt hatten. Was sie heute wohl von der Stadt halten würden?
DeHaven schloss die dicke Außentür des Lesesaals auf und schwenkte ihre Flügel seitlich bis an die Wand. Dann erledigte er die umständliche Scannerprozedur, die es ihm gestattete, den Saal zu betreten. Jeden Tag war DeHaven als Erster da. Obgleich seine Alltagsaufgaben ihn zumeist aus dem Lesesaal fernhielten, hatte DeHaven eine symbiotische Beziehung zu alten Büchern, die er einem Laien nicht hätte erklären können, die einem Bibliophilen von nur mittelmäßiger Sammelleidenschaft jedoch auf Anhieb begreiflich gewesen wäre.
An den Wochenenden blieb der Lesesaal geschlossen, sodass DeHaven Zeit fand, Radtouren zu machen, nach seltenen Büchern für die eigene Privatsammlung zu recherchieren und Klavier zu spielen. Das Tastenquälen hatte er unter der strengen Anleitung seines Vaters gelernt, dessen ehrgeiziger Wunsch, Konzertpianist zu werden, an der grausamen Wahrheit gescheitert war, dass er schlichtweg nicht gut genug spielen konnte. Gleiches galt leider auch für seinen Sohn. Und doch klimperte DeHaven seit dem Tod seines Vaters ab und zu gern ein bisschen herum. Wenngleich ihm unter der Fuchtel der strikten Verhaltensnormen seiner Eltern manchmal die Haare zu Berge gestanden hatten, war er ihnen fast immer ein gehorsamer Sohn gewesen.
Nur einmal hatte DeHaven etwas getan, das ihren Wünschen widersprach. Dabei allerdings hatte er sich eine schwere Übertretung geleistet: Er hatte eine beinahe zwanzig Jahre jüngere Frau geheiratet – eine Dame, so klärte seine Mutter ihn unablässig auf, die weit unter seinem gesellschaftlichen Status stand, und am Ende, ein Jahr später, hatte sie ihn genötigt, sich scheiden zu lassen. Eine Mutter sollte nicht die Macht haben, ihren Sohn zu zwingen, die Frau zu verlassen, die er liebte, nicht einmal bei Androhung des Streichens aller finanziellen Mittel. DeHavens Mutter jedoch war sogar dermaßen tief gesunken, dass sie ihm gedroht hatte, ihre sämtlichen Buchraritäten zu verkaufen, die eigentlich ihrem Sprössling vererbt werden sollten. Dennoch – er hätte sich ihr widersetzen müssen, hätte ihr ins Gesicht sagen müssen, sie könne ihn mal kreuzweise. Heute war DeHaven überzeugt, dass es richtig gewesen wäre, aber nun war es natürlich viel zu spät. Hätte er bloß vor Jahren genügend Rückgrat gehabt.
Versonnen stöhnte DeHaven vor sich hin, knöpfte das Jackett auf und glättete den Schlips. Damals hatte er die wahrscheinlich glücklichsten zwölf Monate seines Lebens genossen. Nie zuvor hatte er einen Menschen wie seine Ex gekannt, und er war sicher, dass ihm nie wieder eine ähnliche Frau begegnen würde. Und doch hatte er sich von ihr getrennt, nur weil seine Mutter ihn erpresst hatte. Nach der Trennung hatte er ihr noch jahrelang geschrieben und sich auf jede nur denkbare Weise bei ihr entschuldigt. Geld hatte er ihr geschickt, Juwelen, exotische Mitbringsel von seinen Weltreisen, doch nie hatte er sie gebeten, zu ihm zurückzukehren. Nein, niemals. Einige Male hatte sie ihm geantwortet, doch irgendwann waren die Päckchen und Briefe ihm dann ungeöffnet zurückgeschickt worden. Nach dem Ableben seiner Mutter hatte DeHaven überlegt, sich auf die Suche nach ihr zu machen, aber schließlich entschieden, dass es zu spät sei. In Wahrheit verdiente er sie gar nicht mehr.
Er nahm einen tiefen Atemzug, steckte die Schlüssel in die Tasche und sah sich im Lesesaal um. Die nach dem Vorbild der Independence Hall mit ihrer georgianischen Pracht gestaltete Räumlichkeit übte augenblicklich eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Besonders gefielen DeHaven die an jedem Tisch stehenden Lampen mit den Kupferschirmen. Von diesem Anblick angetan strich er mit der Hand über einen der Lampenschirme, und das bittere Gefühl des Versagens, die einzige Frau verloren zu haben, die ihn hätte glücklich machen können, schwand ein wenig.
DeHaven durchmaß den Raum und zückte unterwegs seine dienstliche Ausweiskarte. Er hielt sie dem Computer ans Scannerfeld, nickte den Überwachungskameras zu, die über der Tür an die Wand geschraubt waren, und betrat die Tresoranlage. Die Gewölbe jeden Morgen aufzusuchen bedeutete für ihn ein tägliches Ritual; es half ihm gewissermaßen beim Aufladen der Batterien und untermauerte seine ihm lieb gewordene Vorstellung, dass es in seinem Leben um nichts anderes ging als um Bücher.
In dem Gewölbe wurde mit hohen Kosten eine permanente Klimakontrolle betrieben. Zwar stützte sich die Bibliothek auf ein ziemlich schmales Budget, doch eine gleichbleibende Temperatur von 15 Grad und eine relative Luftfeuchtigkeit von 68 Prozent gewährleisteten, dass ein altes Buch wenigstens noch ein paar Jahrhunderte überdauerte.
Angesichts eines Bundeshaushalts, der unweigerlich stets mehr Geld für den Krieg als für friedliche Zwecke erübrigt hatte, erachtete DeHaven den zusätzlichen Aufwand als vertretbar. Für einen Bruchteil der Kosten, die eine Rakete verschlang, könnte er auf dem freien Markt sämtliche Werke erwerben, die die Bibliothek bräuchte, um ihre Raritätenabteilung zu vervollständigen. Doch Politiker glaubten, dass Raketen für Sicherheit sorgten – dabei waren es Bücher, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Unwissenheit begünstigte Kriege, und Menschen, die viel lasen, blieben selten unwissend. Vielleicht war das eine allzu vereinfachende Philosophie, doch DeHaven blieb ihr treu.
Er verbrachte ein paar Minuten in der geweihten Atmosphäre der Jefferson-Kammer und blätterte in einer Ausgabe der Werke des Tacitus, jenes römischen Geschichtsschreibers, den der dritte US-Präsident so sehr bewundert hatte. Dann schloss er den Tresor mit der Sammlung Lessing J. Rosenwalds auf, dem einstigen Direktor von Sears & Roebuck, der der Bibliothek seine kostbaren Inkunabeln und Codices gestiftet hatte, die nun nebeneinander auf einem Metallregal standen.
Während sein Blick über die in den Regalen aufgereihten Bücher glitt, dachte DeHaven an seine Privatsammlung, die er in einem speziellen Tresorraum im Keller seines Wohnhauses pflegte. Groß war die Sammlung nicht, doch sie stellte ihn zufrieden. Jeder Mensch sollte irgendetwas sammeln, lautete DeHavens Auffassung. Man fühlte sich dadurch lebendiger und der Welt enger verbunden.
Nachdem er sich zwei Bücher angesehen hatte, die frisch aus der Restaurationsabteilung zurückgekommen waren, stieg er die Treppe zu den Tresorräumen hinauf, die über dem Lesesaal lagen. Dort gab es eine Sammlung alter medizinischer Literatur aus den USA. Im Zwischenstock gleich darüber hatte man eine große Sammlung von Kinderbüchern untergebracht. DeHaven blieb stehen, um wohlwollend den Kopf einer kleinen Männerbüste zu tätscheln, die schon seit Menschengedenken auf einem Tischchen in der Ecke stand.
Im nächsten Moment sank Jonathan DeHaven auf einen Stuhl und starb. Wie die Zuckungen und seine stummen Schreie bewiesen, war es kein leichter und schmerzloser Tod. Als es nach dreißig Sekunden endlich vorüber war, lag DeHaven volle zehn Meter von der Stelle entfernt, wo sein Sterben angefangen hatte. Seine Augen starrten blicklos auf eine Reihe von Mädchenbüchern, auf deren Einbänden man Frauen in Teezeit-Garderobe mit Sonnenhüten sah.
DeHaven war gestorben, ohne zu wissen, was ihn tötete. Niemand hatte ihm eine Verletzung zugefügt, kein Gift war über seine Lippen geflossen, und auch sein Körper hatte ihn nicht im Stich gelassen; er hatte sich bester Gesundheit erfreut. Und er war ganz allein gewesen.
Und doch war Jonathan DeHaven tot.
Rund 45 Kilometer entfernt läutete bei Roger Seagraves das Telefon. Er erhielt den Wetterbericht: Auf absehbare Zeit blieb es sonnig und klar. Seagraves beendete das Frühstück, schnappte sich die Aktentasche und machte sich gut gelaunt auf den Weg zur Arbeit. Es war schön, wenn der Tag mit einer erfreulichen Nachricht anfing.
„KAPITEL 6