KAPITEL 64
Der folgende Tag versprach klar und warm zu werden. Stone und seine Freunde verließen das Hotel, beförderten Albert Trent in einer großen Truhe hinaus und luden ihn in einen Lieferwagen. Im Innern des Fahrzeugs kauerte Stone sich neben Trent und verabreichte ihm mit einer der Injektionsspritzen ein Mittel. Er wartete zehn Minuten und gab ihm mit der anderen Spritze eine zweite Injektion. Nach einer Minute zuckten Trents Lider. Als er schließlich wieder bei Besinnung war, stierte er wild umher und versuchte sich aufzusetzen.
Stone drückte ihm eine Hand auf die Brust und zückte aus einer Gürtelscheide ein Messer. Er hob die Klinge vor Trents bebendes Gesicht, schob sie zwischen seine Haut und den Knebel und zerschnitt den Stoff.
»Was treiben Sie mit mir?«, fragte Trent mit zittriger Stimme. »Ich bin Regierungsbeamter. Dafür müssen Sie mit Gefängnis rechnen.«
»Sparen Sie sich das Gequassel, Trent. Wir wissen alles. Wenn Sie keine Dummheiten machen, tauschen wir Sie redlich und reibungslos gegen Caleb Shaw aus. Aber sollten Sie querschießen, bringe ich Sie eigenhändig um. Oder möchten Sie lieber wegen Hochverrats den Rest des Lebens im Kittchen absitzen?«
»Ich habe überhaupt keine Ahnung, wovon …«
Stone hielt die Klinge in die Höhe. »So hab ich’s nicht gemeint, als ich sagte, Sie sollen nicht querschießen. Wir haben das Buch und den Code, und wir können beweisen, dass Sie am Attentat auf Bradley mitgewirkt haben. Und wir wissen über die Morde an Jonathan DeHaven und Cornelius Behan Bescheid. Und fast hätten Sie auch mich und sie«, er wies mit dem Kopf auf Annabelle, »ins Jenseits befördert, aber wir mochten nicht mitspielen.«
Annabelle lächelte. »Wenn Sie in Ihrem Haus Menschen von Schlägern überfallen lassen, um sie anschließend zu ermorden, achten Sie das nächste Mal darauf, dass niemand Sie im Spiegel sieht, Albert. Ginge es nach mir, würde ich Ihnen die Kehle durchschneiden und Ihre Leiche auf eine Müllkippe werfen. Da schmeißt man Dreck ja bekanntlich hin.«
Stone löste die Handschellen von Trents Händen und Füßen. »Wir stellen uns einen sauberen Austausch vor, eins zu eins. Kriegen wir Caleb, sind Sie frei.«
»Wie kann ich mir sicher sein?«
»Sie können so sicher sein wie Caleb. Sie müssen es schlichtweg glauben. Aufstehen!«
Auf wackligen Beinen erhob sich Trent und starrte auf die Gruppe, die sich im Lieferwagen um ihn herum versammelt hatte. »Sind Sie die Einzigen, die es wissen? Wenn Sie die Polizei eingeweiht haben …«
»Halten Sie die Schnauze!«, brauste Stone auf. »Ich hoffe, Sie haben Ihren falschen Pass und das Flugticket bereitliegen.«
Reuben öffnete die Hecktür, und alle stiegen aus dem Wagen, in der Mitte Trent. »Mein Gott«, rief Trent. »Du lieber Himmel, was ist denn hier los?« Er sah eine unüberschaubare Menschenmenge.
»Lesen Sie keine Zeitung?«, fragte Stone. »Heute findet auf der National Mall das US-Buchfestival statt.«
»Und es gibt einen Sternmarsch gegen Armut«, sagte Milton.
»Insgesamt erwartet man rund zweihunderttausend Menschen«, erklärte Reuben. »Welch großer Tag für unsere Hauptstadt. Literaturlesungen und Einsatz für die Armen.« Er versetzte Trent einen Rippenstoß. »Vorwärts, Arschloch, wir wollen uns nicht verspäten.«
Die National Mall erstreckte sich, gesäumt von riesigen Museen und imposanten Regierungsgebäuden, über fast dreieinhalb Kilometer, vom Lincoln-Denkmal im Westen bis zum Capitol im Osten. Das US-Buchfestival, das man jedes Jahr veranstaltete, zog inzwischen über hunderttausend Besucher an. Auf der Mall waren Zelte errichtet worden, die Zirkuszelten an Größe kaum nachstanden, und Schrifttafeln mit den Hinweisen »Belletristik«, »Geschichte«, »Kinderbücher«, »Thriller«, »Lyrik« und anderen lockten Interessenten zu entsprechenden Events. In den Zelten hielten Schriftsteller, Illustratoren, Erzähler und andere Literaturschaffende große Zuhörergruppen mit Lesungen und Anekdoten im Bann.
Auf der Constitution Avenue vereinigte sich der Sternmarsch gegen Armut, dessen Zielpunkt das Capitol war; es stand zu erwarten, dass nach dem Marsch zahlreiche Demonstranten das kostenlose und allgemein zugängliche Buchfestival besuchten.
Stone hatte, beraten durch Alex Ford, den Ort des Austauschs mit aller Sorgfalt gewählt. Er befand sich nahe des Smithsonian Castle auf der Jefferson Street. Ein Ziel inmitten Tausender von Menschen konnte selbst ein Scharfschütze kaum treffen, nicht einmal aus größerer Entfernung. In der Ledertasche hatte Stone ein Gerät dabei, das es ihm ermöglichen sollte, im Anschluss an Calebs Auslösung seine weitergehenden Absichten unverzüglich in die Tat umzusetzen, denn er hatte keinesfalls vor, Albert Trent und seine Mitspione einfach entkommen zu lassen.
»Da vorn«, sagte Reuben. »Vierzehn Uhr. An dem Fahrradständer.«
Stone nickte, und sein Blick fiel auf Caleb, der auf einem kleinen, teilweise von einer hüfthohen Hecke umschlossenen Rasenstück stand. Dahinter ragte ein hoher, prunkvoller Springbrunnen empor. Dort war Caleb ein wenig abseits und geschützt vor dem Gedränge der Menschenmassen. Zwei Männer, getarnt mit Kapuze und Sonnenbrille, flankierten Caleb. Stone zweifelte nicht daran, dass sie bewaffnet waren, aber er wusste auch, dass auf dem Dach des Smithsonian Castle Scharfschützen Stellung bezogen und die Männer gewiss schon ins Visier genommen hatten. Doch schießen sollten sie nur im Notfall. Außerdem wusste er, dass Alex Ford zur Stelle war und die Aktion koordinierte.
Eindringlich blickte Stone zu Caleb hinüber und versuchte dessen Aufmerksamkeit zu erregen, doch im Gewirr der vielen Menschen war es kaum möglich. Aus Calebs Miene sprach Panik, also ein bei ihm schon fast normaler Gemütszustand; doch in den Augen des Freundes entdeckte Stone noch etwas anderes, das ihm ganz und gar nicht behagte: Hoffnungslosigkeit. Und dann sah Stone, dass irgendetwas um Calebs Hals hing. »Mein Gott«, stieß er unterdrückt hervor. »Reuben, siehst du das?«
Der Lange schaute beklommen drein. »Diese Drecksäue!«
Stone wandte sich an Milton und Annabelle, die hinter ihnen folgten. »Bleibt zurück!«
»Was?«, fragte Annabelle.
»Oliver, aber …«, setzte Milton zum Widerspruch an.
»Tut, was ich sage!«, befahl Stone barsch.
Milton und Annabelle blieben stehen. Annabelle fühlte sich durch die schroffe Weisung anscheinend gekränkt, und Milton wirkte belämmert. Reuben, Stone und Trent gingen weiter, bis sie Auge in Auge mit Caleb und seinen Bewachern standen.
Caleb begleitete das Plätschern des Springbrunnens mit leisen Jammerlauten und deutete auf den Gegenstand an seinem Hals; er hatte Ähnlichkeit mit einem Hundehalsband. »Oliver …?«
»Ich weiß, Caleb, ich weiß.« Stone zeigte auf die Apparatur. »Nehmen Sie ihm das sofort ab«, sagte er zu den beiden Kapuzenträgern.
Beide Männer schüttelten den Kopf. Einer hielt ein schwarzes Kästchen hoch, aus dem zwei Knöpfe ragten. »Erst wenn wir in sicherem Abstand sind.«
»Sie glauben, ich lasse Sie gehen, während meinem Freund eine Bombe um den Hals hängt?«
»Sobald wir fort sind, deaktivieren wir sie«, sagte der Mann.
»Und ich soll Ihnen ganz einfach so über den Weg trauen?«
»Genau.«
»Dann gehen Sie nicht, und wenn Sie die Bombe zünden, sterben wir alle.«
»Es ist keine Bombe«, entgegnete derselbe Mann. Er hob das schwarze Kästchen ein zweites Mal empor. »Drücke ich den roten Knopf, wird ihm genügend Gift eingespritzt, um einen Elefanten zu töten. Er wäre tot, bevor ich den Finger vom Knopf nehme. Wenn man den schwarzen Knopf drückt, wird die Apparatur deaktiviert, und man kann den Kragen gefahrlos entfernen. Versuchen Sie nicht, mir den Kontrollkasten zu entreißen. Und sollte ein Scharfschütze auf mich ballern, wird der Knopf durch meinen unwillentlichen Reflex betätigt.« Den Finger locker auf dem roten Knopf, lächelte er über Stones offenkundiges Dilemma.
»Macht dir das Spaß, Arschloch?« Reuben spie aus.
Der Mann ließ den Blick auf Stone gerichtet. »Wir gehen davon aus, dass hier überall Cops lauern, die nur darauf warten, sich uns zu schnappen, sobald Ihr Freund frei ist. Also werden Sie wohl entschuldigen, dass wir gewisse Sicherheitsvorkehrungen für erforderlich halten.«
»Und was soll Sie daran hindern, auf den Auslöser zu drücken, nachdem Sie fort sind?«, fragte Stone. »Und kommen Sie mir nicht wieder mit dem Vertrauensvorschuss. Wenn ich den Humbug noch mal höre, muss ich kotzen.«
»Ich habe Anweisung, den Mann nicht zu töten, es sei denn, man hält uns auf. Wenn Sie uns gehen lassen, bleibt er am Leben.«
»Wie weit wollen Sie sich entfernen, ehe Sie die Deaktivierung vornehmen?«
»Nicht allzu weit. In drei Minuten sind wir in Sicherheit. Aber wenn wir zu lange auf Ihre Entscheidung warten müssen, drücke ich den roten Knopf.«
Stone sah Caleb an, dann den wütenden Reuben; schließlich wieder Caleb. »Hör zu, Caleb. Wir müssen ihnen trauen.«
»O Gott, Oliver, bitte hilf mir …« Caleb erweckte nicht den Eindruck, als wäre er irgendwem zu trauen bereit.
»Natürlich, Caleb, natürlich«, beteuerte Stone trotz insgeheimer Verzweiflung. »Wie viele vergiftete Spitzen sind in dem Ding?«
»Was?«, fragte der Mann verdutzt.
»Wie viele?«
»Zwei. Ein Dorn ist an der linken, einer an der rechten Seite.«
Stone drehte sich um und gab die Ledertasche Reuben. »Wenn wir abkratzen«, raunte er ihm zu, »dann sorg dafür, dass es nicht umsonst war.« Reuben nahm die Tasche und nickte; zwar mit bleichem Gesicht, doch in felsenfester Haltung. Indem er sich wieder Caleb zuwandte, hob Stone die Linke. »Lassen Sie mich die Hand unter den Kragen stecken, sodass der eine Dorn mich sticht statt meinen Freund.«
Jetzt sah der Mann vollends verwirrt aus. »Aber dann sterben Sie beide.«
»Ganz recht. Aber wir sterben zusammen.«
Caleb hörte zu zittern auf und schaute Stone an. »Oliver, das kannst du nicht tun …«
»Halt den Mund, Caleb.« Stones Blick wich nicht von dem Kapuzenträger. »Sagen Sie mir, wohin ich die Hand stecken muss.«
»Ich weiß nicht, ob das …«
»Raus mit der Sprache!«, fuhr Stone ihn an. Der Mann zeigte auf eine bestimmte Stelle, und Stone zwängte die Finger in den engen Zwischenraum; sein Handrücken ruhte jetzt an Calebs Hals. »Gut«, sagte Stone. »Wie erkenne ich, dass die Apparatur deaktiviert ist?«
»Wenn dieses rote Lämpchen da grün wird, ist es so weit«, sagte der Mann und deutete auf eine am Kragen sichtbare, karmesinrote Anzeige aus Glas. »Dann können Sie den Schnappverschluss öffnen und den Kragen ohne jedes Risiko abnehmen. Doch falls Sie versuchen, ihn vorher mit Gewalt herunterzuzerren, erfolgt automatisch die Vergiftung.«
»Kapiert.« Stone warf Trent einen grimmigen Blick zu. »Also, dann nehmen Sie diesen Abschaum mit, und verschwinden Sie.«
Albert Trent entwand sich Reubens Faust und gesellte sich zu den Kapuzenmännern. Während sie sich entfernten, drehte Trent sich um und feixte. »Adios.«
Stone hielt den Blick auf Calebs Gesicht gerichtet. Mit leiser Stimme sprach er auf den Freund ein, wenngleich Passanten ihre Schritte verlangsamten und mit dem Finger auf sie zeigten, denn der Anblick zweier Männer, von dem der eine seine Hand unter ein sonderbares Halsband des anderen geschoben hatte, musste zwangsläufig absurd anmuten.
»Tief atmen, Caleb. Die bringen uns nicht um … die bringen uns schon nicht um. Atme tief durch.« Stone spähte auf die Armbanduhr. Vor sechzig Sekunden waren die Männer mit Trent in der Menschenmenge untergetaucht. »Noch zwei Minuten, und es ist überstanden. Sieht alles bestens aus, gleich sind wir fein raus.« Er warf einen neuerlichen Blick auf die Uhr. »Noch neunzig Sekunden. Wir haben’s fast geschafft. Halt durch, Caleb. Lass uns zusammen durchhalten.«
Caleb krallte sich mit knallrotem Gesicht und nachgerade mörderischer Kraft an Stones Arm, und seine Atmung ging in unregelmäßigen Keuchlauten; und doch stand er fest auf den eigenen Beinen. »Geht klar, Oliver«, röchelte er zu guter Letzt.
Einmal näherte sich ein misstrauischer Parkwächter, doch zwei Männer in weißen Overalls, die bis dahin Müllbehälter geleert hatten, passten ihn ab und schickten ihn weg. Inzwischen hatten sie auch die Scharfschützen über die neue Lage informiert und folglich die Gewehre gesenkt.
»Noch dreißig Sekunden, Caleb, wir haben’s fast hinter uns.« Stones Blick ruhte nun unverwandt auf der roten Anzeige des Kragens, während er im Kopf die Sekunden mitzählte. »Noch zehn Sekunden, und wir sind aus allem raus.«
Leise zählten Stone und Caleb zusammen die letzten Sekunden ab. Doch das Rot wurde nicht grün. Caleb konnte es allerdings nicht sehen. »Nimmst du mir das Ding jetzt ab, Oliver?«, fragte er.
Nun drohten sogar Stones Nerven zu versagen, doch der Gedanke, die Hand fortzunehmen, kam ihm dennoch nicht. Für einen Moment schloss er die Lider, wartete auf den Stich und das Gift.
»Oliver«, erklang Annabelles Stimme. »Da!«
Stone öffnete die Augen und sah in dem Rot einen wunderschönen winzig kleinen Funken von Grün. »Reuben, hilf mir«, rief er dem Langen zu. Reuben sprang herbei. Gemeinsam klappten sie den Kragen auf und entfernten ihn von Calebs Hals. Während sich ringsum Gaffer zusammenscharten, sank Caleb auf die Knie. Als er den Kopf hob, ergriff er Stones Hand.
»Das war die mutigste Tat, die je ein Mensch vollbracht hat, Oliver«, brach es aus ihm hervor. »Ich danke dir.«
Stone sah sich um, und mit einem Schlag erfasste er die Wahrheit. Er reagierte sofort. »Deckung!«, brüllte er. Er schnappte sich den Kragen und schleuderte ihn über die Hecke in den Springbrunnen.
Zwei Sekunden später explodierte der Kragen. Wasserstrahlen schossen nach allen Seiten, Betonbrocken hagelten durch die Luft. Die Umstehenden und zahlreiche andere Passanten verfielen in Panik und ergriffen die Flucht. »Gütiger Himmel, Oliver«, sagte Caleb, während Stone und seine Freunde sich langsam aufrichteten, »woher hast du das gewusst?«
»Es ist eine alte Taktik, Caleb, jemanden von den Tatsachen abzulenken und ihn zur Unvorsichtigkeit zu verleiten. Er hat mir verraten, wo die angeblichen Giftnadeln sind, weil er wusste, dass nicht Gift – falls da überhaupt je Gift drin war –, sondern die Bombe uns umbringen soll.« Stone ließ sich von Reuben die Ledertasche geben und entnahm ihr einen kleinen, flachen Gegenstand, der einen winzigen Monitor aufwies. Rasch bewegte sich auf dem Display ein rotes Pünktchen.
»Nun machen wir den Sack zu«, sagte Stone. 65