Kapitel 44
»Ich habe ihm einen Anwalt besorgt«, sagte Caleb. »Einen jungen Juristen, der noch keine hohen Honorare fordert. Aber was er draufhat, weiß ich nicht. Ich habe eine Notlüge aufgetischt und behauptet, ich hätte Reuben mit der Bewachung der Büchersammlung beauftragt, und deshalb hätte er den Schlüssel gehabt und den Zahlencode der Alarmanlage gekannt. Diese Aussage habe ich auch bei der Polizei gemacht. Ich habe ihr auch Jonathans Anwalt genannt, sodass sie sich davon überzeugen kann, dass ich sein literarischer Nachlassverwalter bin.«
Milton und Caleb saßen mit Stone in seinem Friedhofsgärtnerhäuschen. Die bestürzende Neuigkeit, dass man Reuben unter dem Verdacht verhaftet hatte, Cornelius Behan und seine Gespielin ermordet zu haben, rief bei den Freunden düstere Mienen hervor.
»Ob er auf Kaution freikommt?«, fragte Milton.
Stone schüttelte den Kopf. »Angesichts der persönlichen Situation Reubens und der Umstände dieses Falles bezweifle ich es. Aber vielleicht zieht man Calebs Aussage in Betracht und gibt den Verdacht auf.«
»Heute früh habe ich kurz mit Reuben gesprochen«, erzählte Caleb. »Er sagte, er hätte Behans Haus beobachtet, da wäre er mit einem Schlag auf den Kopf ins Reich der Träume geschickt worden. Als er zu sich kam, sah er, dass Behan und die Frau tot waren. Als er aus dem Haus lief, hat die Polizei ihn gestellt.«
»Dass Behan mitsamt nackter Gespielin tot in dem Schlafzimmer lag, ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Presse«, meinte Milton. »Mrs. Behan«, fügte er hinzu, »war anscheinend über Nacht in New York.«
»Wir müssen unbedingt den wahren Mörder aufspüren«, stellte Stone fest.
»Und wie wollen wir das machen?«, fragte Milton.
»Indem wir unsere Nachforschungen weiterführen.« Stone warf Caleb einen strengen Blick zu. »Wir müssen uns die Überwachungsvideos der Bibliothek ansehen.«
»Susan hat versprochen, mir zu helfen. Aber ich habe nichts mehr von ihr gehört.«
»Dann schlage ich vor, du denkst dir selbst etwas aus.« Caleb wirkte verdutzt, verzichtete jedoch auf Widerspruch. »Ich bin der Ansicht, wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass Behan und Bradley keine Freunde waren. Ursprünglich dachte ich, Behan hätte Bradley umbringen lassen, und ich will es auch jetzt noch nicht völlig ausschließen, aber allemal erhebt sich die Frage: Wer hat Behan ermordet, und warum?«
»Vielleicht aus Rache für den Mord an Bradley?«, spekulierte Milton.
»Dann müssten wir aus diesem Blickwinkel nach Verdächtigen suchen.« Stone heftete den Blick auf Milton. »Ich müsste mich unter Bradleys früheren Mitarbeitern, bekannten Gesinnungsgenossen, möglichen Freunden beim Militär oder in Geheimdiensten umschauen, die die Fähigkeit oder die Möglichkeit gehabt haben könnten, Behan zu liquidieren.«
Milton nickte. »Es gibt ja eine Art Nomenklatur, die bei so etwas nützlich sein kann. Über Leute beim Militär und in Geheimdiensten was zu erfahren dürfte allerdings länger dauern.«
»Wer Behan umgebracht hat, wusste genau, dass Reuben sich in DeHavens Haus aufhält, und hat es sorgfältig geplant, ihm die Tat anzuhängen. Das bedeutet, die Hintermänner haben DeHavens Haus und Behans Villa ebenfalls beobachtet.«
»Sprichst du von den Leuten im Haus gegenüber, die Reuben erwähnt hat?«, fragte Caleb.
Erneut schüttelte Stone den Kopf. »Nein. Das Feuer ist wahrscheinlich von einem Komplizen des Mörders gelegt worden. Sie müssen gewusst haben, dass dort ein Beobachtungsposten ist. Der Brand war ein Ablenkungsmanöver, um sich die Gelegenheit zu verschaffen, in DeHavens Haus einzudringen, Behan abzuknallen und sich aus dem Staub zu machen.«
»Ganz schön gerissen«, meinte Caleb.
»Ich statte Reuben heute einen Besuch ab«, sagte Stone.
»Wird man nicht verlangen, dass du einen Ausweis oder so was vorlegst, Oliver?«, fragte Milton.
»Fragen können sie danach, aber das letzte Mal, als ich in so einer Verlegenheit war, galt es noch nicht als Verbrechen, keinen Ausweis dabeizuhaben.«
»Ich wette, Susan kann dir einen besorgen«, meinte Milton. »Sie hatte FBI-Ausweise in der Tasche, die vollkommen echt aussahen.«
»Wo steckt denn unsere unerschrockene Kollegin?«, fragte Caleb.
»Sie verfolgt andere Pläne«, gab Stone zur Antwort.
Jerry Bagger saß in seinem Büro, den Ausdruck einer eingestandenen Niederlage auf dem Gesicht – eine Miene, die man bei ihm nur ganz selten sah. Bis in den hintersten Winkel der Halb- und Unterwelt waren diskret Fotos Annabelles und Leos zirkuliert, doch niemand hatte sie identifizieren können. In Anbetracht der Tatsache, dass es von beiden kein einziges scharfes Foto gab, konnte dieser Misserfolg kaum überraschen. Es hatte den Anschein, als hätten sie genau gewusst, wo sich die Überwachungskameras befanden. Und obwohl Baggers Leute ihr Bestes getan hatten, um es zu verhindern, war der Schwindel, dem er zum Opfer gefallen war, in Teilen und Bruchstücken durchgesickert, was die Sache vermutlich schlimmer machte, als wäre die volle Wahrheit bekannt geworden, denn es ließ Raum für Spekulationen. Auf jeden Fall war der Kasinokönig zur Lachnummer geworden. Umso stärker stachelte es seinen Wunsch an, das Paar aufzuspüren, es durch eine Säge zu schieben und seine letzten grässlichen Momente auf Erden auf Video festzuhalten.
Ihre Hotelzimmer waren überprüft worden, aber man hatte keinen einzigen Fingerabdruck entdeckt. Sämtliche Gläser, die die Frau und ihr Begleiter benutzt hatten, waren längst in der Spülmaschine gewesen. Das Handy, das sie gegen die Wand geworfen hatte, war in einen Container entsorgt worden und lag jetzt auf einer Abfallhalde in irgendeinem Bundesstaat, in den Jersey seinen Müll verfrachtete. Die viertägige Frist hatte ihre Fährte verwischt. Und Bagger selbst war es gewesen, der die Verlängerung der vorherigen Frist vorgeschlagen hatte. Letztendlich hatte er sich selbst aufs Kreuz gelegt.
Und genau das hatte die Schlampe von Anfang an geplant, dachte er zornbebend. Sie hatte ihm die Schaufel in die Hand gedrückt, sich das eigene Grab zu graben!
Bagger stand auf und ging zur Fensterfront. Stets hatte er sich etwas darauf eingebildet, Betrügereien zu wittern, ehe sie ihm Schaden zufügen konnten. Diesmal jedoch war der Schwindel direkt gegen ihn persönlich gerichtet gewesen, während es zuvor immer das Kasino hatte treffen sollen. Mit kleineren Gaunereien hatte man beim Würfeln, beim Blackjack und an den Roulettetischen Knete abzuzocken versucht. Dieser Coup hingegen war von langer Hand koordiniert worden – durch eine Frau, die genau gewusst hatte, was sie trieb, und dafür jedes Mittel eingesetzt hatte, auch das älteste und wirksamste von allen: Sex.
Doch sie war verdammt überzeugend gewesen. Immer wieder ging Bagger in Gedanken das Spielchen durch, das sie mit ihm getrieben hatte. Es war ihr gelungen, jedes Mal im richtigen Augenblick das Richtige zu tun. Sie hatte ihm eingeredet, für die Regierung tätig zu sein. Und in Zeiten wie diesen, da die Regierung in den unglaublichsten Scheiß verwickelt war, fiel es schwer, auch die wildeste Geschichte anzuzweifeln.
Bagger starrte zum Fenster hinaus, und seine Gedanken kehrten zu dem Telefonat zurück, in dessen Verlauf sie ihm eine Unterredung vorgeschlagen hatte, nachdem seine Gorillas von ihr beim Beschatten ertappt worden waren. Er hatte gelogen und behauptet, das Büro schon verlassen zu haben und auf der Fahrt aus der Stadt zu sein. Darauf war ihm unumwunden vorgehalten worden, dass er sich sehr wohl noch im Büro aufhielt. In dem Moment hatte er geglaubt, sie wäre echt, er würde tatsächlich von Regierungsagenten beobachtet. Beobachtet!
Bagger betrachtete das Hotel auf der anderen Straßenseite. Ebenso wie sein Kasinogebäude hatte es dreiundzwanzig Etagen. Das hieß, da drüben befand sich eine Fensterfront in der gleichen Höhe wie sein Büro …
Verdammt, das war des Rätsels Lösung!
Bagger rief nach seinem Sicherheitschef.
Nach kurzem Gezänk, einer rüden Befragung und zuletzt einem Anruf bei Reubens Anwalt durfte Oliver Stone seinen Freund in der Zelle besuchen. Als die Tür hinter ihm zukrachte, zuckte Stone ein wenig zusammen. Er hatte schon im Knast gesessen, aber nicht in einem amerikanischen Gefängnis. Nein, falsch, berichtigte er sich. Seine kürzliche Folterung hatte ohne Zweifel auf amerikanischem Boden und durch amerikanischer Mitbürger stattgefunden.
Da sie davon ausgehen mussten, dass man ihre Unterhaltung aufzeichnete, sprachen Stone und Reuben im Flüsterton und beschränkten sich auf wenige Worte. Zudem tappte Stone mit dem Fuß auf den Betonboden.
Reuben fiel es sofort auf. »Glaubst du, das Geräusch verdirbt ihnen die elektronische Aufzeichnung?«, raunte er mit skeptischem Blick.
»Eigentlich nicht, aber es gibt mir ein besseres Gefühl.«
Reuben lächelte und tappte gleichfalls mit dem Fuß. »Das Feuer?«, murmelte er.
»Ja, weiß ich«, nuschelte Stone. »Alles klar?«
»Nur eine Beule. Mein Anwalt greift sie zur Verteidigung auf.«
»Finger auf der Waffe?«
»Zufälliger Kontakt.«
»Caleb hat den Bullen erklärt, du hast Bücher bewacht.« Reuben nickte. »Sonst was?«
Reuben schüttelte den Kopf. »Nur Erotik. Ich hab nix geahnt.«
»Sag so aus, wie du’s weißt.«
»Zusammenhänge?«
Stone nickte kaum merklich. »Brauchst du was?«
»Ja, Johnnie Cochran, den guten alten Staranwalt. Zu schade, dass er jetzt beim himmlischen Schwurgericht arbeitet.« Reuben schwieg. »Susan?«
Stone zögerte. »Beschäftigt.«
Als Stone wenig später das Gebäude verließ, bemerkte er, dass zwei Männer, offensichtlich Zivilbeamte, ihn in diskretem Abstand beschatteten.
»Ihr dürft mir ruhig ein Weilchen hinterherlaufen«, murmelte er. Er dachte schon an die nächste Person, mit der er sprechen musste.