KAPITEL 34

 

Während Annabelle und Milton sich mit den Architekten trafen, trieb Stone sich in der Gegend herum, in der Bob Bradley gewohnt hatte. Er trug einen Schlapphut, einen übergroßen Mantel und eine weite, ausgebeulte Hose. Er führte Goff an der Leine, Calebs Mischlingshund, der nach dem ersten Chef der Raritätenabteilung benannt worden war. Stone hatte sich oft dieses Tricks bedient, schon in seinem alten Job für die Regierung: Die Menschen brachten es nicht über sich, jemandem zu misstrauen, der mit seinem Hund Gassi ging. Stone konnte unmöglich ahnen, dass Roger Seagraves nach Bradleys Ermordung ebendiesen Trick angewandt hatte, um das Weite zu suchen.

Als er die Straße entlangschlenderte, erkannte Stone, dass von dem Wohnhaus nur schwarze Trümmerhaufen aus Stein und Holz übrig waren, aus denen ein versengter Ziegelschornstein aufragte. Auch die Häuser zu beiden Seiten der Ruine waren stark beschädigt worden. Es war kein besonders wohlhabendes Viertel. Kongressabgeordneter zu werden bedeutete keineswegs den finanziellen Aufstieg, für den viele Leute es hielten. Kongressmitglieder mussten einen doppelten Wohnsitz haben, im heimatlichen Bundesstaat und in der Bundeshauptstadt, und im D.C. waren die Mieten und Immobilienpreise immens. Manche Kongressabgeordnete, vor allem Neulinge, teilten sich aus Einsparungsgründen in Washington eine gemeinsame Wohnung oder schliefen im Büro. Doch Bradley, der Veteran, hatte allein gelebt.

Stone hatte nicht nur die in seinem Geheimarchiv versteckten Kladden zu Rate gezogen, sondern sich darüber hinaus von Milton Informationen über Bradley beschaffen lassen. Inzwischen hatten sie ein gutes Gesamtbild des Mannes. Geboren in Kansas, hatte er eine gewissermaßen typische Politikerkarriere eingeschlagen und zuerst im Abgeordnetenhaus gesessen, war dann für zehn Jahre Vorsitzender des Geheimdienstausschusses gewesen und zuletzt in die Position des Sprechers des Abgeordnetenhauses gelangt. Bei seinem Tod im Alter von neunundfünfzig Jahren hinterließ er eine Ehefrau und zwei erwachsene Kinder, die in Kansas wohnten. Nach allem, was Stone wusste, war der Mann eine ehrliche Haut gewesen; nie hatte ein Skandal seine Laufbahn gefährdet. Sein erklärtes Ziel, den Kongress von Korruption zu säubern, konnte ihm durchaus mächtige Feinde eingebracht und zu seinem Tod geführt haben. Manche Bürger mochten glauben, es sei zu riskant, jemanden zu ermorden, der als möglicher Nachfolger des Präsidenten an dritter Stelle stand. Doch Stone sah darin nur Wunschdenken: Wenn es möglich war, den Präsidenten zu ermorden, durfte niemand sich in Sicherheit wiegen.

Noch ermittelten die Behörden im Mordfall Bradley, doch die Medien waren nach einer anfänglichen Reihe von Berichten ungewöhnlich zurückhaltend geworden. Vielleicht hegte sogar die Polizei mittlerweile den Verdacht, dass die vorgeblich verantwortliche Terrorgruppe gar nicht existierte und Bradleys Ermordung einen komplizierteren Hintergrund hatte als eine Bande scheinheiliger, gewalttätiger Irrer.

Stone blieb an einem Baum stehen, um Goff Gelegenheit zum Pinkeln zu geben. Überall um sich herum spürte er die Gegenwart behördlicher Autorität. Er war lange genug im Spionagegewerbe aktiv gewesen, um zweifelsfrei zu durchschauen, dass der Geländewagen, der am anderen Ende der Straße parkte, ein Observationsfahrzeug war und die beiden Männer im Innern des Wagens den Auftrag hatten, die Ruine zu beobachten, um vielleicht durch aufschlussreiche Kleinigkeiten die Untersuchung voranzutreiben. Wahrscheinlich hatte das FBI sich in einem der umstehenden Häuser mit einem Observationsteam eingenistet, das täglich rund um die Uhr das Umfeld überwachte. Ohne Zweifel waren in diesem Moment Ferngläser und Kameras auf Stone gerichtet. Als wollte er sich vor dem Wind schützen, zog er den Hut tiefer ins Gesicht.

Während er umherlugte, erspähte er etwas, machte sofort eine Kehrtwendung und schritt so rasch in die Gegenrichtung, dass er Goff hinter sich her schleifte. Ein weißer Lieferwagen mit der Beschriftung »D. C. Public Works« war um die Ecke gebogen und hielt auf ihn zu. Stone hatte nicht die Absicht herauszufinden, ob das Fahrzeug echt war oder ob Leute darin saßen, die sich darauf spezialisiert hatten, andere Menschen albtraumhaften Foltern zu unterziehen.

Stone ging um die nächste Ecke und hoffte, dass der Lieferwagen ihm nicht folgte. Obwohl es in der Gegend von FBI-Agenten sicher nur so wimmelte, durfte er nicht erwarten, dadurch Schutz zu genießen. Im Gegenteil, womöglich schubsten sie ihn zu den Folterexperten in den Lieferwagen und winkten ihnen kollegial hinterher. Stone eilte noch zwei Häuserblocks weiter; dann ging er langsamer und ließ Goff am Gesträuch schnuppern. Wachsam blickte Stone sich um. Der Lieferwagen war nirgends zu sehen. Aber das mochte ein Täuschungsmanöver sein, um ihn abzulenken, während man sich von einer anderen Seite anpirschte. Angesichts der ernsten Situation griff Stone zum Handy und rief Reuben an. Der Lange hatte gerade im Hafen Feierabend gemacht.

»Ich bin in fünf Minuten da, Oliver«, versprach er. »Zwei Blocks von deinem Standort entfernt ist eine Polizeiwache. Geh in diese Richtung. Falls die Dreckskerle dich packen wollen, schrei Zeter und Mordio.«

Stone wandte sich in die gewiesene Richtung. Trotz seiner vielen Schwächen war Reuben ein treuer und verlässlicher Freund, wie Stone ihn sich nur wünschen konnte.

Wie versprochen kam Reuben in seinem Kleinlaster die Straße entlanggebrummt. Stone und Goff sprangen hinein. »Wo ist dein Motorrad?«, fragte Stone.

»Die Wichser haben’s gesehen und kennen es jetzt. Ich dachte mir, ich lass es lieber unter der Plane.« Als sie erheblichen Abstand von dem Viertel gewonnen hatten, verlangsamte Reuben das Tempo und hielt schließlich an. »Ich habe auf den Seitenspiegel geachtet, Oliver«, sagte er. »Gesehen hab ich nichts.«

Damit konnte er Stone nicht überzeugen. »Sie müssen mich auf der Straße bemerkt haben.«

»Deine Verkleidung hat sie genarrt.«

Stone schüttelte den Kopf. »Solche Leute sind nicht so leicht zum Narren zu halten.«

»Dann wollen sie dich vielleicht nur im Auge behalten und hoffen, dass du sie zum Schatz führst.«

»Da können sie lange warten.«

»Was ich dir sagen wollte … Ein alter Kamerad im Pentagon hat mich angerufen. Über Behan und seine Rüstungsaufträge hatte er wenig zu sagen, aber er hat mich auf eine andere interessante Sache hingewiesen. Über Geheimnisverrat und undichte Stellen stand zwar schon einiges in der Zeitung, aber es ist offenbar viel schlimmer, als die Presse gemeldet hat. So wie mein alter Kumpel es darstellt, verkaufen ein paar Maulwürfe uns in großem Stil an unsere Feinde, unter anderem im Nahen Osten und in Asien.«

Stone spielte mit Goffs Leine. »Haben deine Kumpel in der Mordkommission des D. C. oder beim FBI dich zurückgerufen, Reuben?«

»Weißt du, das ist echt merkwürdig. Nicht einer hat zurückgerufen. Ich versteh das nicht.«

Aber ich, dachte Stone. Ich verstehe es ganz genau.